Januar/Februar 2021 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1421
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Eine Schneelandschaft im Tienschan, der bis zu 7439 Höhenmeter zählt, im Innern von Kirgisistan. Foto: © Imago

Wilhelm und sein Nachbar Franz plaudern über den Gartenzaun hinweg, wünschen sich einen »Schönen Abend!« und machen sich dann wieder an die Gartenarbeit. Eine Szene, wie sie in Deutschland alltäglicher nicht sein könnte. Nur leben Wilhelm und Franz nicht in Deutschland, sondern in Bergtal, mehr als 5 000 Kilometer von Deutschland entfernt.
Der Ort befindet sich auf der Landkarte weit im Osten, in Kirgisistan. Zwischen der Hauptstadt Bischkek und dem Yssykköl-See liegt das Dorf am Rande des Tienschan-Gebirges. Mit seinen zwei Straßen und knapp achthundert Einwohnern ist es auf den ersten Blick nicht von anderen Dörfern Kirgisistans zu unterscheiden.

Doch schaut man sich genauer um, fallen Unterschiede auf. Die Häuser sind anders gebaut und am Ortseingang findet man neben dem Namen Рот-Фронт (»Rot-Front«) ein weiteres Schild mit der Aufschrift »Bergtal« in lateinischen Lettern. Ein paar hundert Meter weiter steht ein bescheidenes Gebetshaus. Es gehört zu einer kleinen Glaubensgemeinschaft Kirgisistans, die diesen Ort prägt: den Mennoniten.

Ortseingangsschild von Rot-Front, ehemals Bergtal. Foto: © Antonia ProkschaOrtseingangsschild von Rot-Front, ehemals Bergtal. Foto: © Antonia Prokscha

Geschichte der Mennoniten

Die Freikirche der Mennoniten geht auf die Täuferbewegung der Reformationszeit zurück. Sie haben ihren Ursprung vor allem in Friesland. Die Gemeinschaft propagierte unter anderem eine strikte Abkehr von den etablierten Kirchen und vom Staat. Die daraus resultierenden Verfolgungen und Beschränkungen führten zu einer Massenauswanderung der Mennoniten. Heute lebt die religiöse Gemeinschaft auf viele Kontinente verteilt, vor allem in Nordamerika und in Afrika.

Die Mennoniten, die sich in Kirgisistan niederließen, emigrierten im 16. Jahrhundert aus dem heutigen Norden der Niederlande gen Osten. Zunächst gingen viele von ihnen nach Westpreußen, später zogen sie weiter in den zum Russischen Reich gehörenden Teil der Ukraine und im späten 19. Jahrhundert bis in den Westen Kirgisistans. Im Talas-Tal entstanden Ortschaften mit Namen wie Köppental und Gnadenfeld. Schließlich fanden sie eine neue Heimat im wesentlich fruchtbareren Gebiet östlich der Hauptstadt Bischkek. So entstand 1927 die Siedlung Bergtal.

Die ursprünglichen deutschen Namen der Siedlungen sind größtenteils verloren gegangen. Unter sowjetischer Herrschaft wurden die Dörfer umbenannt. So wurde aus Bergtal das heutige Rot-Front. Und auch wenn die Mennoniten es bis heute Bergtal nennen, gibt es doch kaum noch Deutsche im Ort. Die Gemeinschaft hat die Verfolgung durch die westlichen Kirchen, das Russische Reich und harte Zeiten in der Sowjetunion überlebt. Heute aber ist ihre Freikirche in Zentralasien winzig und sie schrumpft. Einer, der versucht, ihre Geschichte zu erhalten, ist Wilhelm Lategahn.

Ein Soester Deutschlehrer in Bergtal

Wilhelm Lategahn baute das kleine Museum in Bergtal auf. Foto: © Antonio ProkschaWilhelm Lategahn baute das kleine Museum in Bergtal auf.

Vor elf Jahren kam Wilhelm nach Rot-Front, um dort als Deutschlehrer zu arbeiten. Davor leitete er eine Förderschule in seiner deutschen Heimatstadt Soest. Mehrmals radelte er gemeinsam mit einem Freund durch die ehemalige Sowjetunion. Dabei lernte er die Region kennen und lieben. Durch die von Deutschland finanzierte Auslandsschularbeit fand Wilhelm eine Stelle in Rot-Front und entschloss sich, auch nach dem Auslaufen seines Vertrages seine Arbeit als Lehrer in Kirgisistan fortzusetzen.

Anfangs hatte Wilhelm in Rot-Front Probleme damit, die Kinder in die Schule zu locken. »Immer gab es Gründe, weshalb die Kinder nicht kommen konnten«, so Wilhelm. »Entweder musste das Vieh versorgt, auf die Kleinen aufgepasst oder irgendetwas anderes erledigt werden.« Als er immer wieder halbleere Klassenzimmer vorfand, begann er, die Häuser im Dorf abzugehen und die Schüler einzusammeln. Irgendwann kamen die Kinder von selbst in die Schule, »damit dieser Deutsche nicht nervt«, erzählt der Lehrer und lächelt.

Trotz so mancher Strapazen genoss Wilhelm seine Zeit als Lehrer in Rot-Front. Er gerät ins Schwärmen, wenn er davon erzählt: »Mit den Kindern in der Schule Musik zu spielen, war ein Traum.« Traditionell sei in Bergtal viel zu Hause im Kreis der Familie gesungen worden, und die Kinder hatten dadurch ein gut trainiertes Gespür für Melodie und Rhythmus: »Wir haben problemlos zu acht im Kanon gesungen!«

Einer seiner Vorgänger gestaltete einen Raum der Schule zu einem Museum um, in dem die Geschichte der Mennoniten aus Bergtal behandelt wird. Als vor wenigen Jahren das Gebäude durch einen Unfall abbrannte, verlegte Wilhelm das Museum in ein kleines Seitengebäude neben seinem Haus. Dort sammelt er alles, was er zur Geschichte der Deutschen aus Bergtal finden kann. Neben Karten und anderen Zeitdokumenten finden sich allerlei Alltagsgegenstände der Mennoniten: Liederbücher, Spinnräder, Geschirr.

Immer, wenn Familien aus Rot-Front wegziehen, erkundigt sich Wilhelm nach zurückbleibenden Haushaltsgeräten, Werkzeugen oder Büchern, um sie in dem Museum aufzubewahren. Er restauriert die alten Objekte und macht sie der Öffentlichkeit zugänglich. Weil der Platz im Museum allmählich eng wird, baut Wilhelm aktuell einen weiteren Raum aus, in dem bald noch mehr Exponate ausgestellt werden. Je mehr Mennoniten wegziehen, desto größer wird die Sammlung.

Mennoniten zurück in Deutschland

Heute schreibt sich die Geschichte der Mennoniten aus Bergtal größtenteils an anderen Orten weiter. Die meisten Gemeindeglieder sind mittlerweile aus Rot-Front weggezogen. Als Wilhelm vor knapp elf Jahren in das Dorf zog, lebten hier noch um die zweihundert von ihnen. Heute sind es weniger als die Hälfte.

Wie auch viele andere Russlanddeutsche wanderten die meisten Mennoniten nach Deutschland aus. Die Bundesrepublik nimmt Russlanddeutsche bei Nachweis ihrer »deutschen Volkszugehörigkeit« auf. So kamen in den letzten Jahrzehnten über 2,3 Millionen Russlanddeutsche in die »historische Heimat«, darunter auch einige Mennoniten.

Auch die Rot-Front-Bewohner verteilen sich überall in Deutschland. Zum 90. Jubiläum Bergtals kamen im nordrhein-westfälischen Detmold über eintausend Leute zusammen. »Später habe sogar ich erfahren, dass mein alter Nachbar in Soest ursprünglich aus Rot-Front stammt«, erzählt Wilhelm und lacht.

Deutschland verspricht mehr Möglichkeiten, und viele versuchen deshalb dort ihr Glück. Manche können in der neuen Heimat jedoch nur schwer Fuß fassen, da ihnen oft die Qualifikation fehlt. Wilhelm erklärt: »Die meisten können zwar gut mit Tieren umgehen, kennen die Landwirtschaft und sind gute Handwerker, haben aber keinerlei Ausbildung vorzuweisen.«

Rot-Front geht mit der Zeit

Die Deutschen in Rot-Front lebten über Generationen in einer geschlossenen Welt. Zu Hause wurde Deutsch gesprochen, die Religion hatte ihren festen Bestandteil im Alltag und moderne Technik wie Handys oder Fernseher wurden lange gemieden. »Die Entwicklungen kommen hier etwas verzögert an«, schildert Wilhelm. »An neue Technik gehen die Leute etwas bedachter heran. Sie wägen erstmal ab, ob es sinnvoll ist, sich dies oder jenes anzuschaffen.«

Inzwischen ist aber auch Rot-Front in der Gegenwart angekommen. Geht man durch die Straßen, sieht man auch hier Jugendliche mit Smartphones in der Hand. Fast jeder hier im Dorf war schon einmal in Deutschland oder hat dort Kontakte. Die Mennoniten sind nicht weltfremd, auch wenn sie in den Medien häufig so dargestellt werden.

Die Häuser in Bergtal, wie hier das des Deutschlehrers Lategahn. Foto: © Antonio ProkschaDie Häuser in Bergtal, wie hier das des Deutschlehrers Lategahn. Foto: © Antonio Prokscha

»Die meisten hier reden nicht mehr mit Journalisten«, erzählt Wilhelm. Viel zu oft seien Reporter hergekommen und stellten die Mennoniten als rückwärtsgewandte Einsiedler dar, als die »Amischen Zentralasiens«, die in der Vergangenheit lebten. Wilhelm sagt: »Viele haben diese Berichte gelesen, fühlen sich falsch wiedergegeben und ärgern sich über das Bild, das so über Rot-Front verbreitet wird.«

Deutschlehrer in Pension

Heute sind die Mennoniten deutscher Herkunft nicht mehr die einzigen Bewohner in Rot-Front. Inzwischen leben sie in friedlicher Nachbarschaft mit orthodoxen Russen und muslimischen Kirgisen, die über die Jahre in das Dorf zogen. Nicht weit vom Gebetshaus der Mennoniten befindet sich eine kleine Moschee. Mittlerweile ist der kleine Ort international geworden. So hat ein Kanadier mit seiner kirgisischen Frau eine Herberge eröffnet, aus deren Gewinn eine pädagogische Farm mit Bildungsangeboten für lokale Waisenkinder finanziert wird. Seit fast zwanzig Jahren lebt ein Franzose mit seiner Familie in Rot-Front, und Wilhelms Nachbar Franz ist auch kein Mennonit, sondern erst vor einigen Jahren aus Deutschland hergezogen.

Die leerwerdenden Häuser der Mennoniten sind wegen ihrer festen Bauart bei Käufern begehrt. Typisch sind die weißen und türkisfarbenen Außenwände. Wilhelm lebt in einem dieser Häuser. Denn im Gegensatz zu vielen der Mennoniten entschloss er sich, zu bleiben und seinen Lebensabend in Kirgisistan zu verbringen.

Den Untergang der deutschen Gemeinde wird er vermutlich nicht aufhalten können. Da es an Geld fehlt, wurde der Deutschunterricht in Rot-Front gestrichen. »Früher wurden neun Lehrer durch Deutschland finanziert, heute sind es gerade noch zwei«, erklärt er. So bleibt er vorerst der letzte Deutschlehrer in Rot-Front.

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