Sandra Diekhoff
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Märkische Allgemeine Zeitung • 05.01.2013

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Märkischen Allgemeinen Zeitung.

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Über seinen Geburtsort schrieb einst der ungarische Schriftsteller Sandor Marai: »Kaschau war eine europäische Stadt.« Jetzt ist sie »Europäische Kulturhauptstadt«. Jedes Jahr tragen zwei Städte diesen Titel. Košice, wie die Stadt heute auf Slowakisch heißt, teilt sich den die Auszeichnung 2013 mit dem französischen Marseille. Für beide Kommunen soll es ein gutes Geschäft werden: Denn die Europäische Union fördert sie großzügig. Košice hat 60 Millionen Euro aus dem EU-Strukturfonds abgegriffen. Insgesamt stehen der Stadt damit 75 Millionen Euro zur Verfügung; Marseilles Budget ist mit etwa 100 Millionen Euro zu beziffern. Geld, das vor allem in Infrastrukturmaßnahmen investiert wird. Aufgerissene Straßenzüge, Bagger, Rohbauten – die Kulturhauptstadt, die Košice sein will, ist mitunter nur zu erahnen.

Doch man hat Großes vor. »Es ist ein komplexes Projekt mit vielen Ambitionen in vielen Bereichen« sagt Organisationschef Jan Sudzina. »Košice 2013 ist aber nur der erste Schritt.« Von einer neuen kulturellen Metropole« ist die Rede. »2013 ist der Anfang der Veränderung«, sagt Vizebürgermeisterin Renata Lenartova. »Die Zeit ist gekommen, nicht nur die industrielle, sondern auch die kulturelle Seite des Ortes zu betonen.« Schon träumt die 240 000-Einwohner-Stadt von der nächsten Auszeichnung: »Wir möchten ›Unesco City of Media Arts‹ werden.«

Dabei geht’s in Košice eigentlich beschaulich zu. Religion, Bildung, Shopping, Kultur: Von allem ist ein bisschen vorhanden. Es gibt eine Staatsphilharmonie, ein Staatstheater, fünf Synagogen, drei Universitäten, Mitten durchs Zentrum führt die Hlavna, eine Flaniermeile, die sich sehen lassen kann, gesäumt von Cafés und Boutiquen. Einst war Košice ein Industriezentrum. Auch heute noch ist U.S. Steel mit 15.000 Beschäftigten der größte Arbeitgeber. Alte Industriegebäude tauchen kleine Nebenstraßen in eine mal gespenstische, mal stimmungsvolle Atmosphäre. Ein Kontrast, den sich die Stadt zunutze machen will: So soll zum Beispiel mehr Geld in die alte Fabrikhalle »Tabacka« fließen, die schon als Kulturfabrik genutzt wird.

Auch Miso Hudak ist oft dort gewesen. Aber die »Tabacka« allein reicht dem jungen Mann nicht. Er hat sich in einer Bar im Stadtzentrum lässig zurückgelehnt. Die langen blonden Haare trägt er zu einem Zopf gebunden, und seinen Kapuzenpullover ziert die Aufschrift: »Jesus.« Eine Botschaft? »Nein«, sagt er, »das ist nur ein Spaß.« Hudak ist 29, hat eine kleine Tochter und in Bratislava Kunst und Film studiert. »Als ich sieben Jahre alt war, habe ich mich entschieden, Filme zu machen«, erzählt er. Dann kam er nach Košice und stellte fest: Es gibt immer weniger unabhängige Filme. Es war nur ein Aspekt der aus seiner Sicht zu bürgerlichen Stadtkultur. Vor einigen Jahren gründete er deshalb einen Verein, der sich die Förderung der alternativen Kulturszene in Košice auf die Fahne geschrieben hat: die »Eastcoast NGO«. Acht bis zehn junge Leute engagieren sich dort regelmäßig, klare Strukturen gibt es nicht. »Wir sind Partisanen«, bekennt Hudak. Denn Košice sei spießig, der Konservatismus der Bürger nicht akzeptabel. »Es ist unmöglich, auch nur mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren.« Die Aufgabe des Vereins lautet deshalb: Nach der urbanen Seele suchen. Woran es Košice aus seiner Sicht mangelt? »An einer Identität«, sagt er.

Die Frage nach der Identität hat sich für Wilhelm Gedeon aus Metzenseifen dagegen nicht gestellt. Der 90-jährige Karpatendeutsche sagt: »Ich fühle mich als Deutscher.« 1922 wurde er in Metzenseifen geboren, wo er 1990 den karpatendeutschen Verein initiierte. Die Vertreibungen durch die Rote Armee erlebte er selbst mit. »Im Herbst 1945 klopfte jemand an unsere Tür«, erinnert sich der studierte Bauingenieur: »In zwei Stunden sind Sie fertig.« Jedes Familienmitglied durfte 20 Kilogramm an Hab und Gut für die Reise einpacken. Zwei Stunden später kehrten die Soldaten zurück. Mit einem kleinen Wägelchen zogen Wilhelm Gedeon und seine Familie zum großen Schulhof, wo schon 25 andere Familien warten. Einem Arzt hatten sie es zu verdanken, dass sie bleiben durften. »Er bestätigte unserer Großmutter, dass sie krank sei und wieder nach Hause zurückkehren müsse«, berichtet Gedeon. Sie traten den Heimweg an. Die Soldaten drohten: »Beim nächsten Schub kommt ihr dran.« Gedeon: »Aber wir kamen nicht mehr dran.« So blieb er in Metzenseifen. »Dann begann das Leben.«

Metzenseifen ist 30 Kilometer von Košice entfernt. Doch zwischen den beiden Städten liegen Welten. Eine heißt »Lunik 9«. Dieser Stadtteil von Košice, der nach den Mondflügen benannt wurde, ist eigentlich nur eine triste Plattenbausiedlung. In den drei Wohnanlagen leben ungefähr 6000 Menschen, ausschließlich Angehörige der Roma. In den 1990er Jahren wurden sie aus dem Stadtzentrum hierher umgesiedelt. In den Wohnungen gibt es keinen Strom, kein Wasser, keine Heizung. Die Siedlung verfällt. Politik und Hilfsorganisationen beteuern zweierlei: Die Zustände in Lunik 9 seien katastrophal und sie selbst hilflos.

Karl Adam ist 59 Jahre alt, eher klein und untersetzt. Wenn er spricht, dann schnell und seine Hände gestikulieren dabei flink durch die Luft. Der Direktor des »Romathan«-Roma-Theaters in Košice kennt die Problematik von Lunik 9 gut, sind doch ein Großteil der Tänzer, Sänger und Schauspieler in seinem Theater Roma. Nur in Ausnahmefällen dürfen Nicht-Roma auf die Bühne.

Vom Kulturhauptstadtjahr profitiert auch seine Institution. Sonst trägt sich das Theater selbst. Die Prophezeiungen zu Beginn waren düster: »Viele sagten«, so Adam, »dass wir uns nicht über Wasser werden halten können.« 2012 feierte das Theater seinen 20. Geburtstag. Die Stücke thematisieren Probleme aus dem Alltag der Roma. Ein aktuelles trägt den Titel »Eine ausgefuxte Familie«. Darin wird die Wucherei kritisiert, wie sie unter den Roma betrieben wird. »Die Roma haben bestimmte Sitten, die uns nicht gefallen«, sagt Adam. »Aber wir sind schon auf gutem Wege, wenn wir im Roma-Theater auch Roma kritisieren.«

Jedes Jahr gibt das Ensemble 120 Vorstellungen und reist dafür auch ins Ausland. Gespielt wird in Romani, zum Teil mit Übersetzung. Für die Musik braucht’s hingegen keine Übersetzung. In dem kleinen Übungsraum werden Geigen angesetzt, einer stellt den Kontrabass zurecht. Lange Moll-Töne fließen durch den Raum, schwermütige Melodien legen sich aufs Gemüt. Klänge, die rühren und bewegen.

Bewegen – sollen sich die Košicer in diesem Jahr auch.

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Der Artikel ist u.a. das Ergebnis einer Informationsreise nach Kaschau/Košice, die das Deutsche Kulturforum östliches Europa im September 2012 für Medienvertreter organisiert und begleitet hatte.

An Identität fehlt’s im Revier
Der Originalartikel in der Online-Ausgabe der Märkischen Allgemeinen Zeitung

www.kosice2013.sk
Die Internetseiten von Kaschau/Košice – Europäische Kulturhauptstadt 2013
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