Scheinbar endlose Sandstrände und ein sanft gewelltes Binnenland mit kleinen Städtchen – das ist Kurland, der Westen des heutigen Lettland. Benannt ist es nach den Kuren, einem baltischen Volksstamm, der dieses Land mindestens seit dem frühen Mittelalter bewohnte, mit den Wikingern Handel trieb, aber ebenso deren Heimat in Dänemark und Schweden überfielen und plünderten – so berichten es alte Heiligenviten, Chroniken und die Heimskringla-Saga.
Mit der Gründung Rigas 1201 und des Schwertbrüderordens im folgenden Jahr erhielt die von Norddeutschland ausgehende christliche Mission im heutigen Baltikum einen Stützpunkt und die Machtmittel, den neuen Glauben und die mit ihm einhergehende neue Herrschaft durchzusetzen. Nach mehreren teils erbitterten, aber letztlich erfolglosen Aufständen der Kuren wurde auch ihre Heimat Teil des mittelalterlichen Alt-Livland – einem eigentümlichen Verbund von Territorien, die vom Deutschen Orden und den (Erz)Bischöfen von Riga, Dorpat, Ösel und Kurland beherrscht wurden. Der Schwertbrüderorden war in der Schlacht von Schaulen 1237 fast vollständig vernichtet und anschließend vom Papst mit dem Deutschen Orden vereinigt worden, der nur wenige Jahre zuvor begonnen hatte, das Preußenland zu unterwerfen.
Wie überall in Alt-Livland – das dem heutigen Estland und Lettland entspricht – lebte die nun getaufte Landbevölkerung weiter in ihren Gehöften und Dörfern von Landwirtschaft und Fischfang, waren nun aber den aus Deutschland gebürtigen Ordensrittern bzw. den Vasallen der Bischöfe abgabepflichtig und langsam entwickelte sich aus dieser Hörigkeit die Leibeigenschaft. Um die Burgen der neuen Herren entstanden »Hakelwerke«, die zum Teil Stadtrecht erhielten. In ihnen siedelten sich deutsche Kaufleute und Handwerker an, aus denen sich die Stadträte rekrutierten. Die Kuren, Liven, Selonen, Semgaller und Lettgaller verschmolzen langsam zum lettischen Volk.
Die Reformation brachte ab 1520 nicht nur ein neues Kirchenwesen, sie entzog auch der weltlichen (politischen) Herrschaft der geistlichen Herren ihre theologische Grundlage und dem Deutschen Orden den Nachwuchs an Ordensrittern. Zwischen Schweden (das auch Finnland beherrschte), Polen-Litauen und dem recht frisch vereinten Russland gelegen, sollte das nun instabile Alt-Livland für die nächsten zweihundert Jahre zum Zankapfel dieser Mächte werden. Nachdem 1558 der Krieg mit Russland ausgebrochen war, griffen auch die beiden Könige ein. Während sich der Norden Estlands den Schweden unterwarf, kam der letzte Landmeister des Ordens, Gotthard Kettler, zu einer Einigung mit dem polnischen König. Alles Land nördlich der Düna/Daugava sollte als »Livland« (poln. Inflanty) direkte Provinz Polens werden. Die Gebiete des Deutschen Ordens zwischen Düna, Litauen und dem Meer aber wurden Kettler als Herzogtum »Kurland und Semgallen« unter polnischer Lehenshoheit übertragen. Dass das »Stift Pilten« des Bischofs von Kurland – über Westkurland verstreut – zunächst nicht zum Herzogtum gehörte, war – mit der starken Stellung der Ritterschaft gegenüber dem Herzog – ein »Geburtsfehler« dieses Staates, der den Nachfolgern Herzog Gotthards die Herrschaft erschwerte.

Spätestens die geographische Lage zwischen den drei um die Vorherrschaft ringenden Nachbarn brachte dem Herzogtum Kurland immer wieder Krieg, Zerstörung, Hunger und Seuchentod. Besonders deutlich wird dies während der Zeit Herzog Jakobs, dessen Herrschaft bis heute in Lettland als goldenes Zeitalter Kurlands gilt. Gemäß den modernsten wirtschaftspolitischen Maßnahmen seiner Zeit, dem sogenannten Merkantilismus, ließ er Eisenschmelzen und -schmieden, Sägewerke und andere Manufakturen gründen, die die herzogliche Werft in Windau/Ventspils belieferten. Diese diente dem Flottenbauprogramm, mit dem er die Dominanz der niederländischen Kaufleute im Ostseehandel brechen wollte. Das ambitionierteste Projekt Jakobs war der Versuch, auf Tobago und am Gambia-Fluss eigene Kolonien zu gründen – obwohl er damit den aufstrebenden Kolonialherren England und Niederlande in die Quere kam, durch deren Gewässer jeglicher Handel und Nachschub unweigerlich führen musste. Die schwedische Besatzung Kurlands und die mehrjährige Gefangenschaft des Herzogs beendete diesen – seit dem 19. Jahrhundert von Deutschbalten wie lettischen Nationalisten verklärten – Kolonialversuch und warf die wirtschaftliche Entwicklung Kurlands um Jahrzehnte zurück.
Die Nachfahren Jakobs sorgten sich weniger um die Entwicklung der Wirtschaftskraft, sondern mehr um die Pracht ihrer eigenen Hofhaltung. Als sich abzeichnete, dass der stets im Ausland weilende Herzog Ferdinand kinderlos und somit das Land ohne Thronfolger blieb, wurde sichtbar, wie stark der Einfluss Russlands auf das polnische Lehensherzogtum geworden war: Sowohl der Versuch, das Herzogtum in Personalunion mit dem Königreich zu verbinden, wie auch die Wahl Moritz Graf von Sachsen scheiterten. Nach dem Tod Herzog Ferdinands 1737 setzte Anna, Witwe von Ferdinands Neffen und Vorgänger und mittlerweile Kaiserin von Russland die Wahl ihres Favoriten Ernst Johann Graf von Biron durch. Letztlich blieb Ernst Johann wie auch sein Sohn Peter Herzog von Russlands Gnaden.
Als 1795 mit der dritten Teilung Polen-Litauen endgültig unter Russland, Preußen und Österreich aufgeteilt wurde, beschloss der im Landtag versammelte Adel Kurlands förmlich die Unterwerfung unter das Russische Reich, das schon 1710 die Provinzen Estland und Livland erobert hatte. Ebenso wie diese wurde Kurland zu einem Gouvernement, das weiterhin von der autonomen Selbstverwaltung des deutschbaltischen Adels regiert wurde. Auf diese Weise blieb einerseits die noch weitgehend aus dem späten Mittelalter rührende gesellschaftliche und politische Struktur des Landes – ebenso wie die lutherische Kirche, deutsches Recht und deutsche Amtssprache – erhalten, andererseits ermöglichte diese Autonomie den baltischen Ritterschaften, ab 1816 und somit mehr als 40 Jahre vor dem übrigen Reich die Leibeigenschaft der Bauern aufzuheben.
Als die deutsche Armee 1915 Kurland besetzte, war die lettische Bevölkerung größtenteils – wie auch viele Wirtschaftsbetriebe – in das Innere des Zarenreichs evakuiert worden. Schon nach der Revolution von 1905/06 waren im deutschbaltischen Adel Pläne entwickelt worden, Kurland durch die Ansiedlung deutscher Bauern zu germanisieren. Diese wurden nun angesichts des weitgehend entvölkerten Lands wieder aufgegriffen. Die russischen Revolutionen, die Ermordung der kaiserlichen Familie und der Friede von Brest-Litowsk gaben den Plänen neue Impulse, die ehemaligen Ostseeprovinzen als »Vereinigtes Baltisches Herzogtum« eng an das deutsche Kaiserreich anzuschließen.
Der Novemberrevolution in Deutschland folgte ein blutiger Krieg zwischen der deutschbaltischen Landeswehr und deutschen Freikorps auf der einen Seite, der Lettischen Räterepublik auf der anderen und als dritte Partei der am 18. November 1918 ausgerufenen Republik Lettland. Im folgenden Winter konnte die Rote Armee bis zur Windau/Venta vorstoßen, bevor sie ab März 1919 zurückgedrängt wurden. Im Frieden von Riga 1920 sicherte Sowjetrussland der Republik Lettland »auf ewige Zeiten« die Unabhängigkeit zu. Die Deutschbalten wurden von der führenden Elite einer ständischen Gesellschaft zur nationalen Minderheit in einer demokratischen Republik. Mit den Agrarreformen, in denen der (nicht nur deutschbaltische) Grundbesitz enteignet wurde, wurden viele der Herrenhäuser auf dem Land in Schulen, Heime oder Sanatorien umgewandelt.
Da im Zuge des Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspakts 1939 das Baltikum an die Sowjetunion fallen sollte, wurde die Auswanderung (»Umsiedlung«) der Deutschbalten »heim ins Reich« vereinbart, an der im Winter 1939/40 fast alle teilnahmen. Das kulturelle Erbe, das sie hinterließen, wird heute von Esten und Letten restauriert und gepflegt.
Unser Tipp
Knappe 45 km südwestlich von Riga liegt Mitau/Jelgava, die alte Hauptstadt des Herzogtums Kurland und Semgallen. Das dortige Schloss – seit 1939 Sitz der Landwirtschaftlichen Universität Lettlands – ist das größte Barockschloss des Baltikums. Vom Turm der zerstörten Dreifaltigkeitskirche hat man einen guten Ausblick auf das Schloss, die Akademia Petrina und verschiedene prächtige Kirchen.
Weitere 36 km südsüdöstlich – nahe Bauske/Bauska mit seiner restaurierten Burg und dem klassizistischen Schloss Mesothen/Mežotne – liegt die prächtige Sommerresidenz der kurländischen Herzöge: Schloss Ruhenthal/Rundāle.
Der mit 240 Metern breiteste Wasserfall Europas in Goldingen/Kuldīga
In Goldingen/Kuldīga kann man den breitesten Wasserfall Europas bewundern: Mit 240 m doppelt so breit wie der Rheinfall, dafür aber nur um die zwei Meter tief.
Literatur
Pistohlkors, Gert von (Herausgeber): Baltische Staaten
Siedler Verlag, 1994 (Reihe: Deutsche Geschichte im Osten Europas)
Tuchtenhagen, Ralph: Geschichte der baltischen Länder
4. Auflage, München 2024
Links
Deutsch-Baltische Gesellschaft e. V.
Carl-Schirren-Gesellschaft e.V.
Nordost-Institut, Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa, Lüneburg
Baltische Historische Kommission, Göttingen
Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung, Marburg