
»Der baltische Landstrich im Nordosten Europas, bewohnt von Esten und Letten, die sich auf Ureinwohner zurückführen, die mehr als 5000 Jahre im Lande ansässig waren, gehört seit jeher zu den Wetterwinkeln Europas, die in besonderem Maße von ihren Nachbarn bestimmt worden sind. Bis 1561 war der Deutsche Ritterorden die Schutzmacht der Missionare, Vasallen, Fernhändler und Handwerker, die zumeist aus Westfalen und Niedersachsen einwanderten und für die das Marienland Livland zum »Blivland« wurde. Eine bäuerliche Einwanderung blieb aus; die autochthonen Landbewohner wurden vielmehr nach deutschem Recht von Vasallen, die sich zu Ritterschaften zusammenschlössen, regiert und in die Hörigkeit und Leibeigenschaft gedrängt. Russen, Dänen, Schweden und Polen rangen dann um die Vorherrschaft, bis Peter der Große im Nordischen Krieg mit dem Sieg über Schweden den Zugang zur Ostsee militärisch sicherstellte und 1710 politisch durch Vertrag mit Riga und Reval sowie mit den Ritterschaften die Zugehörigkeit der Ostseeprovinzen zum Russischen Reich erreichte, die mehr als 200 Jahre währen sollte.
Der Herausgeber des Bandes, Gert von Pistohlkors, und Heinz von zur Mühlen, die beide ritterschaftlichen Familien entstammen, sowie der Holsteiner Michael Garleff zeichnen in diesem Band nach, wie aus Privilegierten allmählich Vertreter einer deutschen Oberschicht und schließlich in einem langen Übergang und nach dem Umbruch des Ersten Weltkrieges Angehörige einer ethnischen Minderheit wurden, die in den neugegründeten Republiken Estland und Lettland nur mehr 1,5 beziehungsweise 3,2 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten. Vor die Wahl gestellt, ob sie 1939 nach dem Hitler-Stalin-Pakt und nach dem Krieg gegen Polen Untertanen des einen oder des anderen Diktators werden wollten, begaben sich 95 Prozent der Deutschbalten in den Hoheitsbereich des Deutschen Reiches – wohl wissend, daß die Esten und Letten sie nicht verdrängt hatten und daß ihre mehr als 750jährige Geschichte unwiderruflich an ihr Ende gekommen war.
Dieser Band macht deutlich, in welch starkem Maße die wiedergeborenen Republiken Estland und Lettland historisch auf ein Erbe zurückgreifen können, das sie eng mit Mitteleuropa verknüpft und das es ihnen ermöglichen könnte, zur Brücke zwischen West und Ost zu werden.«
(Quelle: Siedler Verlag)
Pistohlkors, Gert von (Hrsg.): Baltische Länder
Reihe Deutsche Geschichte im Osten Europas
Siedler Verlag, Berlin 1994
Hardcover
ISBN-13 9783886802142