Prof. Dr. Andrei Corbea-Hoișie
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Karl Emil Franzos

Die Wiener Leserschaft der »Neuen Freien Presse« konnte in den Ausgaben vom 2. und 3. Oktober 1875 lange Feuilletonartikel lesen, die den Feierlichkeiten des 100. Jahrestages des Anschlusses der Bukowina an die Habsburgermonarchie gewidmeten waren. Ihr Urheber war ein Autor namens Karl Emil Franzos, den man als guten Kenner der örtlichen Gegebenheiten nach Czernowitz, in die Hauptstadt des Kronlandes in der Nordmoldau, entsandt hatte. Schon von Jugend auf war Franzos, Sohn eines Arztes aus Galizien, in der Bewunderung für die Hauptstadt der Nachbarprovinz erzogen worden, denn ihr Ruf, im Osten der Donaumonarchie eine kleine deutschsprachige Insel zu verkörpern, übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf die Familie aus, in der die Erziehung der Kinder vollständig unter dem vermächtnisartigen väterlichen Grundsatz stand: »Du bist ein Deutscher, wenn auch, natürlich, mosaischen Glaubens.« Dem Wunsche des Vaters entsprechend wurde der junge Franzos in dem seit 1808 bestehenden Deutschen Gymnasium angemeldet, wobei der Junge beim Umzug im Frühling 1859 die kleine Siedlung am Pruthufer »einladend« und darüberhinaus »völlig deutsch« fand, was ihn wiederum nur mit äußerster Genugtuung erfüllen konnte, denn: »Ich fühlte mich im Vorzimmer des Paradieses, das Deutschland heißt und das meine Bestimmung war«. Diese sprachliche und kulturelle »Verpflanzung« auf einen »harten« Boden in dem unter dem Habsburgischen Zepter befindlichen Osten beschäftigte ihn als ein Phänomen, das anderswo nicht diese ins Auge springende Wirkung hervorgebracht hatte, wie es anscheinend in der Bukowina und ihrer Hauptstadt der Fall war. Hier war ja, so Franzos, das Deutschtum gezwungen, rein kulturell zu wirken, und in einer so lauteren, reinen, selbstlosen Erscheinung aufzutreten, wie nirgends sonst.

Die Feuilletons und die Belletristik Karl Emil Franzos' enthalten tatsächlich in nuce die ganze Emblematik der Czernowitzer Kultur, sowohl in ihren zentraleuropäischen Komponenten, als auch in ihren Besonderheiten. Die Isolation dieser städtischen Enklave in einer Region, die, wenn dies auch die Faszination für westeuropäische Besucher erhöhte, sich noch ganz unter Naturgegebenheiten und patriarchalischen Traditionen darstellte, interessierte den Dichter, der ansonsten eher die Retardierung des »Europäisierungs-Prozesses« in dem von ihm als »Halbasien« genannten Osteuropa beklagte. Denn gerade eine solche Ambivalenz war bezeichnend für das Schicksal dieser Stadt, die, Hauptstadt einer durchaus ländlichen Region von etwa 10500 Quadratkilometern, zum »Wunderkind« des österreichischen Liberalismus im 19. Jahrhundert wurde. Schon die Czernowitzer Feierlichkeiten, zu denen Franzos entsandt wurde, signalisierten etwas Außerordentliches: Zum 100. Jahrestag des Anschlusses an Österreich schenkte Kaiser Franz Joseph dem kleinen Land im Osten nichts weniger als eine deutschsprachige Universität, was eine entscheidende Geste der Wiener Behörden im doppelten Sinne als deutschsprachige Kulturinvestition zur Staatskonsolidierung, wie auch zugleich natürlich als »zivilisatorische« Maßnahme im Osten des Reiches darstellte

Eben diese »Botschaft« vernahm Franzos, als er die sozio-kulturelle Enklave mitteleuropäischem Typs rund um Czernowitz als »Modell konfessionellen und nationalen Zusammenlebens« anzupreisen gedachte. Czernowitz könne geradezu, so Franzos, historisch-kulturell gesehen als »das interessanteste Land Europas« gelten, nämlich als eine Art »Tirol« oder »Schweiz«, da die dort lebenden Nationen ihre Eigenheiten bewahrt und einander dennoch eine Art gemeinsamen Habitus geschaffen hätten. Symptomatisch schließt gerade der »Deutsche mosaischen Glaubens«, dass »sich nur in der Bukowina erfüllt habe, was Kaiser Joseph so heiß ersehnt und wofür er so beharrlich gekämpft hat: ein auf allgemeine und gemeinsame Bildung und Erziehung beruhendes Staatswesen, also weniger ein deutscher Nationalstaat, als vielmehr ein wesentlich kulturdeutsches Staatswesen«, wobei als Krönung des »Wunders« die Feststellung hinzugefügt wurde, dass »wer immer – abgesehen von seiner Volkszugehörigkeit – an den Prutufern oder in Suceava den Ruf der Dichtung vernehme, berufen oder unberufen, sich selbstverständlich der deutschen Sprache bediene.«

An sich hätte die sprachliche Ausstrahlung jener Verpflanzung deutscher Bevölkerung, die bis 1918 nie mehr als ein Zehntel der Einwohner ausmachte, gegenüber der romanisch-slawischen Mehrheit kaum gezählt. Trotz der geogaphischen Abgelegenheit vollzog sich aber die Elitenbildung nicht anders als im nachjosephinischen Mitteleuropa, indem sie sich an einem dem »protestantischen" vergleichbaren »Ethos« orientierte, das nun aber nicht so sehr auf die »gewinnbringende« Arbeit oder die individuelle Verwirklichung abzielte, sondern mehr auf Wissensanhäufung, und das sich aus einer allgemeinen Anerkennung von Bildung als einzigem Maß aller menschlichen Verdienste und Instrument sozialen Aufstiegs überhaupt speiste. Das Interesse an einer Beschleunigung der sozioökonomischen Entwicklung der Bukowina konnte also, abgesehen von der Volkszugehörigkeit, am Bemühen um die deutsche Sprache als Sprache des »Fortschritts« gegenüber den traditionsgebundenen Muttersprachen der ethnischen Mehrheiten der Provinz abgelesen werden. Wie rudimentär und philiströs das örtliche Bürgertum auch immer gewesen sein mochte, so differenzierte es sich doch allmählich heraus, auch durch das verstärkte Bekenntnis zu einer »Kultur«, die so etwas wie einen staatstragenden »Habitus« und eine eigene »Kommunikationsform« bildete. Allein die Tatsache, dass in den 40er Jahren in Czernowitz der »Humorist«, die damals beliebteste Wiener Publikation, eifrig gelesen wurde, und dass ihr Redakteur Moritz Gottlieb Saphir die Stadt in seine Besuchsreisen einschloß, weist auf das Bestehen eines multi- bzw. supranationalen Publikums hin, und es ergibt sich, dass die Stadt in der Bukowina schlicht dem Kreislauf »kultureller Güter« angehörte, der sich auf den ganzen mitteleuropäischen Raum erstreckte, mit Wien als Mittelpunkt und dem Deutschen als »lingua franca«. Aufgrund dessen wurde behauptet, im Czernowitz der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts seien die Entstehungsbedingungen für einen »homo austriacus«, das Ideal eines Habsburger »Bürgers«, gerade wesentlich günstiger als in anderen Provinzen gewesen, da mithilfe der sogenannten »Bukowinismus«-Doktrin die völkisch gemischte und übernationale liberale Czernowitzer Kultur versuchte, sich gegenüber den verschiedenen nationalistischen Impulsen selbst zurechtfertigen.

Dabei verstärkten gerade die neueingewanderten Juden, als Städter »par excellence« und Agenten einer Verstädterung auf dem Lande, die Inseln bürgerlichen Lebens, Vorposten der Verpflanzung einer durch die deutsche und österreichische Kultur vermittelten Zivilisation westlicher Prägung. Da ihre »Investition« in die deutsche Sprache und Kultur als Vehikel ihrer Assimilierung natürlich Zugangsmittel zu wirtschaftlichem Erfolg und Wohlstand war, wurden sie als geeignete Vermittler des Kapitalismus und der Dynamisierung einer noch archaischen Gesellschaft selbst zu »Objekten« einer »Verbürgerlichung«, die derart ihren sozialen und »kulturellen« Status veränderte. Die deutschsprachigen Schulen wurden nun erst recht wesentliche Motoren der Integration und Emanzipation und die wachsende Zahl jüdischer Schüler – von 10 im Schuljahr 1845/46 auf 870 im Schuljahr 1905/06 – spricht für sich. An der Universität schwankte die Zahl der jüdischen Studenten bis 1918 zwischen 1/4 und 1/3 aller Immatrikulierten, mit einem Höchststand von 42 Prozent im Jahre 1904. Aussagekräftig ist ebenfalls, dass 1904 auch 14 Universitätsprofessoren Juden waren, wenn auch einige von ihnen sich durch die Taufe das von Heinrich Heine so genannte »Eintrittsbillet« in die Gesellschaft gesichert hatten. Die Figur des Sinai Welt aus Franzos' Skizze Lateinische Mädchen, die der unduldsamen Atmosphäre eines pseudoreligiösen Aberglaubens entronnen ist, um in Czernowitz ein neues Leben im Lichte der deutschen Kultur zu beginnen, versinnbildlicht uns hinlänglich jenen Wunschtraum des jüdischen Bürgertums, das entschlossen ist, sein »Außenseitertum« durch Bildung und »Doktorate« aufzuholen, anders gesagt, auch durch unverzügliche Anpassung an die moderne Welt als Zugang zu einer solideren sozialen Stellung. Der Umstand, dass es das jüdische Bürgertum war, das um 1900 in allen Wirtschaftszweigen, in der Verwaltung, in der Armee, in den freien Berufen, in Presse und Erziehungswesen dominierte, schien die Einschätzung des Schweizer Publizisten Felix Lazar Pinkus zu bestätigen, der zufolge Czernowitz der einzige Ort auf der Erde war, wo die Judenemanzipation so weit gediehen war, dass die Juden sich hier einfach in Erfüllung des alten jüdischen Traumes einer »nationalen Heimstatt« »zu Hause« fühlten. In den wenigen Jahrzehnten seit den Franzosschen Feuilletons über Czernowitz hatte die schnelle Emanzipation und Akkulturation die Beziehungen zwischen den Juden und der österreichischen Kolonie derart gewandelt, dass nun das ganze Gewicht der »deutschen Kulturnation« vollverantwortlich von den Juden getragen wurde. Mit einem souveränen Blickwinkel und Ideenreichtum wird das jüdische Bürgertum – zunächst im Bündnis mit liberalen deutschen Politikern – zum Mittler zwischen den rivalisierenden Volksgruppen der Rumänen und Ruthenen und erfreut sich auf lokaler Ebene in konfessioneler Hinsicht eines großen ökumenischen Wohlwollens, sowie des relativen Schutzes vor einem andernorts wachsenden Antisemitismus.

Um das Jahr 1900 konnte Czernowitz bereits den Rang einer Provinz-«Metropole« für sich beanspruchen, nicht nur hinsichtlich der Einwohnerzahl und des wirtschaftlichen Wachstums, sondern auch besonders wegen der fortschreitenden Verstädterung und Modernisierung, bis zur Herausdifferenzierung des künstlerischen Lebens, der Presse und des Verlagswesen. Als vor 1848 und unmittelbar danach das deutschsprachige »Dichten« zum Hobby einer dünnen Schicht der örtlichen »Bildungsbürger« – Lehrer, Offiziere, der vorübergehend nach Czernowitz versetzten Beamten – geworden war, hatte der Erfolg der deutschen Akkulturation im überwiegend jüdischen Czernowitzer Bürgertum schon eine wachsende lokale Öffentlichkeit herausgebildet, eine »Schriftsteller«-Schicht und einen Fächer differenzierter Institutionen zur Verbreitung des Schrifttums. Für die Profilierung eines »kulturellen Feldes« der Bukowina und ihres Zentrums Czernowitz spielte diese offen bekundete »deutsch-jüdische Symbiose« eine entscheidende Rolle: Das jüdische Bürgertum wird, obwohl es von seiner »Natur« aus an den Wiener Liberalismus und implizit an sein kulturell innovatorisches und kritisches Wesen geknüpft ist, zu einem »historischen Kompromiss« mit dem lokalen Machtfeld fortschreiten, indem es sich im Namen der habsburgischen »Kulturmission« in Osteuropa einen konformistischen kulturellen Kanon aneignen wird, was einer Art passivem Widerstand gegen die intellektuelle »Häresie« des Modernismus gleichkommt. Der Rückgriff auf das »Provinz«-Thema stellte zum Beispiel für die deutschsprachige Literatur der Bukowina ein erstrangiges Argument ihrer Selbstlegitimierung dar. Die Sammlungen rumänischer und ruthenischer Volkslegenden und -dichtungen, Beschreibungen der örtlichen Völker und Sitten , heimatverbundener Erzählungen und der Naturlyrik – alle sind in der Tat von den besten Absichten beseelt, hinter denen die eigene Begabung jedoch zurückbleibt, die meist über Schemen eines romantischen Epigonentums und eines naiven Realismus nicht hinausgelangt. Die affirmativen kulturellen Ziele eines deutschtümelnden Regionalismus fördern bis spät in die 20er Jahre den durch das Bildungsbürgertum noch im Vormärz festgelegten »Gelehrten-Typus«, der gleichzeitig wissenschaftlich und schriftstellerisch tätig und in die örtlichen Machtstrukturen fest eingebunden ist, und geben den kritischen intellektuellen »Dissidenten«, die von dem provinziellen Milieu in die Hauptstadt vertrieben werden, keine Chance.

Für das deutschsprachige »kulturelle Feld« von Czernowitz, wie es sich vor dem Ersten Weltkrieg darstellte, brachte das Jahr 1918 den dramatischen Einschnitt. Nach der Auflösung der österreichischen Monarchie und dem Anschluss an Rumänien kam es in der Bukowina erwartungsgemäß zum Zusammenbruch des ganzen traditionellen Gefüges samt seinem institutionellen Netz im kulturellen Bereich. Strikt wurde umgehend die »Romanisierung« der staatlichen Strukturen betrieben: Im Frühjahr 1919 wurde allen Staatsbeamten ein Examen in rumänischer Sprache abverlangt, einschließlich des Lehrkörpers im Erziehungs- und Bildungswesen, dessen bisher »multinationaler« Charakter und die notorische Vorherrschaft des Deutschen nun zugunsten einer schnellen Integration ins rumänische Bildungssystem abgeschafft wurden. Auch wenn dieser Druck sich in der »Privatsphäre« als undurchsetzbar erwies und Deutsch sich weiter als wichtigste Umgangssprache in Czernowitz behauptete, wo z.B. das deutschsprachige Pressewesen und auch das deutschsprachige Theater eine paradoxe Blüte erlebten, hatte das deutschsprachige, meist jüdische Bürgertum sichtbar an »symbolischem Kapital« zugunsten der »siegreichen« Nation verloren, indem es sich aus den politischen und administrativen Führungspositionen entfernt sah. Die Revolte der jungen Czernowitzer Intellektuellen – meistens Juden, die sich um die kurzlebige expressionistische Zeitschrift Der Nerv sammelten – gegen das »falsche Bewußtsein« des Czernowitzer Establishments versprach, ein neues, gegenüber Macht und »Wirtschaftslogik« der bürgerlichen Kultur womöglich autonomes »Feld« literarischen Schaffens zu bilden und eine Konversion des ohnehin schon zerstreuten politischen und sozialen »Kapitals« des Czernowitzer deutschsprachigen jüdischen Bürgertums in »kulturelles Kapital« zu bewirken, um unter den neuen politischen und sozialen Umständen die Besonderheit dieser städtischen Kultur, zu der jenes Bürgertum einstmals entscheidend beigetragen hatte, neu zu legitimieren und zu aktualisieren. Die Verweigerung der »Kontinuität« ist überdeutlich in der Heftigkeit der von den Nerv-Autoren vorgebrachten Anklage des »falschen Bewußtseins« im Czernowitzer Bürgermilieu (dem sie ja selbst entstammten), von dessen Unbeweglichkeit, Selbstzufriedenheit und Philistertum sie sich durch ihr Glaubenbekenntnis lossagten, das die Forderung sozialer Umwälzung mit einem Bekenntnis zum künstlerischen und literarischen Modernismus (hier zum Expressionismus) verband. Aus ihrem Pathos kann man entnehmen, dass der »historische« Kompromiss der Czernowitzer Kultur, der die deutsche Sprache als reines »Dekorum« der Macht benutzt habe, selbst für die Nachkriegs-Krise mitverantwortlich gemacht wird, und nicht zufällig wird ihm das Erbe eines »echten« Josefinismus entgegengehalten, das auch ein Bukowiner »Mittel«-Europäertum begründet habe, und zwar als (von Karl Kraus und nicht weniger den Expressionisten gebildetes) Modell sprachlicher Strenge und Geschlossenheit, das als zeitloses, jenseits von politischen und nationalen Traditionen stehend hingestellt wird. Langfristig sollte diese Art von Investition in »kulturelles Kapital« durch ihren explosiven Modernismus und durch die Sanktionierung einer intellektuellen »Internationale« zur Schaffung einer über Marginalisierung und Ghettoisierung stehenden sozialen und kulturellen Identität beitragen.

Dieses neue literarisch-kulturelle »Feld«, dessen Belebung Alfred Margul-Sperber sehr früh signalisierte, als er von dem »Wunder« sprach, dass in den zwanziger Jahren in der Bukowina »unabhängig und außerhalb jeglicher Verbindung mit den Herkunftsgebieten, und sogar im Herzen eines mit aller Macht die Assimilation betreibenden Groß-Rumänien ein Zweig der deutschen Sprache plötzlich begonnen habe, lebenskräftig und schöpferisch zu werden«, setzte also keinerlei örtliche kulturelle Unternehmung fort. Auf diese Weise entstand ein ganz unspezifischer Typus von »Regionalliteratur«, dessen Selbstbewusstsein sich im Gegensatz zum »heimatlichen Modell« eher aufgrund eines kosmopolitisch-«universalistichen« Bekenntnisses zu den humanistischen Werten der kulturproduzierenden »Weltsprache« Deutsch definiert. Sie fußte auf dem städtischen Wesen und dem Kosmopolitismus des Czernowitzer jüdischen Bürgertums, im Gegensatz zu der folkloristischen »Heimatliteratur« der Bukowiner (ethnischen) Deutschen, die sich mit den kulturellen Feldern der Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben verbündet hatte, und gleichzeitig zu der explosionsartigen Ausweitung des Jiddischen, das in der Bukowina den Status des Hochdeutschen und das mit ihm verbundene Kulturmodell jedoch merklich schwächte. Jenes heftige Engagement und die Hingabe an eine Sache des »Geistes«, an die Rose Ausländer mit ihrer Darstellung der jungen »Schwärmer und Anhänger« aus dem Czernowitz der 20er Jahre erinnert, absorbierten und lenkten die gesamte Energie einer radikalisierten Generation, die ja aus ihrem bürgerlichen Milieu entwurzelt und auch ihrer Glaubensgemeinschaft entfremdet war, indem sie diesen Mangel an Zusammenhalt und Solidarität als schmerzliche Entfremdung im Sprachlichen, Ethnischen und Religiösen erfahren hatte.

Die biographischen Gemeinsamkeiten derer, die Alfred Sperber bereits in seinem mutigen Entwurf einer Geschichte des deutschen Schrifttums in der Bukowina behandelt, der 1928 in einigen Folgen im Czernowitzer Morgenblatt erschien, und von denen einige, darunter auch Sperber selbst, zwischen 1930 und 1940 durch Gedichtbände hervorgetreten waren, stellen ein Sozialisationsmuster dar, dessen Haupt-«Koordinate« im ganzen die Herkunft aus kleinbürgerlichen jüdischen Familien bildet, die von den Folgen des Ersten Weltkriegs wirtschaftlich und auch in ihrem Verhältnis zum neuen Staat empfindlich getroffen wurden; denn dieser Staat warf sie – wenn er ihnen auch formal die Staatsbürgerschaft mit allen Rechten zugestanden hatte – de facto ineins mit der Kategorie der »Fremden«, die traditionell den »eingeborenen« Rumänen, besonders der nun »herrschenden« Elite, als kulturell unterlegen betrachtet wurden. Durch den agressiven »Romanisierungsfeldzug« in der Bukowina drangsaliert, erstickt vom Provinzialismus einer von »Mitteleuropa« völlig abgeschnittenen Region, zogen viele junge Czernowitzer Intellektuelle in die westlichen Metropolen – meist nach Wien, aber auch nach Deutschland, Frankreich, in die Vereinigten Staaten – oder auch einfach nach Bukarest, das »Kleine Paris«. Wer von ihnen, ökonomisch gezwungen, nach einigen Jahren nach Czernowitz zurückkehrte, hatte wohl die größten Illusionen über die hiesigen literarischen Selbstverwirklichungsmöglichkeiten fahren lassen; inzwischen vermied man also den offenen Konflikt mit dem »Establishment«, wobei einige, wenn sie nicht gerade in Redaktionen beschäftigt waren, bürgerliche Berufe ergriffen, und derart ihre Persönlichkeit sorgsam aufteilten, um sich gegen den Ansturm des Alltags zu wappnen und zeitweilig in Ruhe schreiben zu können. Der prompte Erfolg wird also nicht mehr angestrebt; die meisten arbeiten geduldig-gleichmütig für die Literaturbeilagen der Czernowitzer Blätter, oder auch, bis 1933, für Kronstädter, Hermannstädter und Temeswarer Zeitschriften und Anthologien. Mit Beharrlichkeit gelangen einige (Alfred Margul-Sperber, Moses Rosenkranz, Alfred Kittner, Rose Ausländer, David Goldfeld) zur Herausgabe von Lyrikbänden, die fast alle in den 30er Jahren veröffentlicht werden. Sie erscheinen im »Selbstverlag«; die Verleger riskieren nichts damit, da die Aussichten auf eine potentielle Leserschaft in Rumänien durch das Heraufkommen des Nazismus zusehends geringer werden.

Angesichts der sichtlich heftiger werdenden Feindschaft der rumänischen antisemitischen Rechten – die auch schon der Czernowitzer Schüler Paul Antschel empfindet, als er in einem Brief an seine Tante bekundet: »... über den Antisemitismus in unserer Schule könnte ich leicht ein 300 Seiten starkes Buch schreiben« – aber auch der »volksdeutschen« Presse und Politik, wachsen die von der kleinen Gruppe Czernowitzer Literaten durchlebte Isolation und das Entfremdungsgefühl zur verzweifelten Bedrückung. Neben der Wirkung ihres Bestehens auf die deutsche Sprache, vertiefte ihre Konzentration auf die Lyrik noch weiter die Abgeschlossenheit und Marginalisierung dieses literarischen Milieus. Wenn die Dominanz von Texten mit sozialer Thematik im Nerv oder in den dichterischen Anfängen Sperbers oder Rose Ausländers hier eine dem Anliegen entsprechende heftige, fast dogmatische Redeweise ergibt, in der apokalyptische Visionen einer schrecklichen Megalopolis und der messianische Einfluß einer Metaphorik voller provokatorischer und schreiender Kontraste einander abwechseln, so bringt später der unmittelbare Ausbruch des Sprachkonflikts die Sprachreflexion in den Vordergrund, was sich an einem sehr frühzeitigen »Paradigmenwechsel« im Bildhaften, sowie auch im lyrischen »Ton« zeigt.

Die ostentative, recht ungewöhnliche Art von »Rückkehr« zur Natur, die das lyrische Werk einer ganzen Generation emblematisch durchzieht, könnte als eine Art Verkleidung oder Travestie verstanden werden, als ein Schutzmechanismus sowie eine Aufforderung zur Desautomatisierung einer Alltagssprache, die die Agressivität der Umgebung schon aufgesogen hat, und die – seit dem Aufkommen des Nazismus in Deutschland – sehr wohl auch als Bedrohung der »sprachlichen« Identität der Czernowitzer Kultur wahrgenommen wurde. Die Utopie eines gegenüber dem Haß der Umgebung immunen und in Zeitlosigkeit entrückten sprachlichen Raumes, den Alfred Margul Sperber im Vorwort zu seinem ersten Gedichtband »Gleichnisse der Landschaft« evoziert, zeigt vielleicht auch einen letzten verzweifelten Widerstandsversuch gegen eine heruntergekommene, zum Totschlag aufhetzende Redeweise, deren Destruktivität die Dichter, die die Gefährdung ihrer bloßen Existenz lebhaft empfanden, auf eigene Rechnung abwenden und neutralisieren zu können glaubten. Bei dem Versuch, die poetische Sprache im Gegensatz zur Alltagssprache zu »rekonstruieren«, wird sie nun von der extremen Entfremdungssituation, die die Dichter als Individuen und Glieder einer Gemeinschaft durchlebten, in eine »verfremdete Wirklichkeit« verwandelt, die das in der Krise befindliche vermeintlich »Natürliche« der »normalen« Kommunikation zerbricht und untergräbt. Mehr noch als die beträchtliche Niedergeschlagenheit angesichts des Schauspiels der Entmenschung wird im Umkreis von Krieg und Holocaust der Reflex, sich dem widersetzt bzw. es durch die verfremdende Geste demaskiert zu haben, den Paul Celan in einem Brief aus den 60er Jahren an Sperber mit den Worten »für das reimlose Wort ›Mensch‹ einen Reim zu finden« beschrieben hat, zur ästhetischen Grundlage der deutschsprachigen Dichtung in der Bukowina, was ihr Konsistenz als moderne und originelle Lyrik verleiht.

Die folgenden Ereignisse werden allerdings den düsteren Visionen jener Dichter recht geben. Czernowitz wird im Juni 1940 von den Sowjets besetzt, die sofort eine – bis zu Massendeportationen nach Sibirien gehende – Verfolgung des örtlichen rumänischen, aber besonders des jüdischen Bürgertums einleiten, während die Volksdeutschen auf »Führerbefehl« nach Deutschland umgesiedelt werden. Bereits im Jahr darauf wird die Stadt von der rumänischen Armee wiedererobert, in deren Gefolgschaft die SS auftritt, die, um eine angebliche »Treulosigkeit« der Juden in der Bukowina dem rumänischen Staat gegenüber zu sühnen, eine unerbittliche Menschenjagd entfesselt, angefangen mit Verhaftungen, Folter und Massenerschießungen bis hin zum Einsperren in ein unbewohnbares Ghetto und Deportation der meisten in Konzentrationslager in der Ukraine. Auf diese Weise vollendete sich binnen kurzem – vor der Kulisse der »mit jüdischem Geld gepflasterten Straßen«, der »von Juden entworfenen und errichteten stattlichen Häuser« –, was kurz zuvor trotz allem unvorstellbar schien: das unwiderrufliche Ende der »Czernowitzer Kultur«.

Nicht zufällig wurde die Poesie Paul Celans, dem die Erfahrung des Krieges, der rassistischen Verfolgungen, des Todes der Eltern in einem transnistrischen Lager vollends das Scheitern des »Schönen« als unverrückbares Sprachideal offenbaren, als ein Requiem für diese »Kultur« gelesen, denn als referentielle Grundlage der »Sprachgitter« erscheint die deutsche Sprache selbst, jene, in der der Dichter seine Todesfuge schrieb. Jude sein und sich als Jude fühlen und trotzdem »nach Auschwitz« Verse in dieser deutschen Sprache zu schreiben, sich mit ihr zu identifizieren, nachdem man ohnmächtig ihrer zerstörerischen Wut hatte zusehen müssen, bedeutet für Celan die Negation der Negation, d.h. den Weg zur Überwindung der »Sprachgitter« und der Befreiung von einem entfremdeten Schicksal gerade durch dessen Beschwörung.

Wortreiche Landschaft
Deutsche Literatur aus Rumänien – Siebenbürgen, Banat, Bukowina. Ein Überblick vom 12. Jahrhundert bis zur Gegenwart.

Historisches Erbe – Kapital für die Zukunft? Deutsche Spuren in Rumänien.
II. Potsdamer Forum 2003 zur Geschichte der Deutschen und ihrer östlichen Nachbarn