Weiteres Schreiben von Wiktor Baldin an den Ministerrat der UdSSR aufgetaucht

Deutsche Welle – Monitor Ost- / Südosteuropa, 31.03.2003

Moskau, 31.3.2003, NESAWISSIMAJA GASETA, russ.

Der Nesawissimaja gaseta liegt ein sensationelles Dokument vor – ein Schreiben von Wiktor Baldin aus dem März 1948 an den damaligen stellvertretenden Vorsitzende des Ministerrates der UdSSR, Klim Woroschilow. Der Brief beweist, dass der Standpunkt von Baldin, der die bekannte Sammlung aus Deutschland ausgeführt hat, nicht immer so eindeutig war, wie jetzt versucht wird, ihn darzustellen. Ja, in den letzten Jahren plädierte er tatsächlich für die Rückgabe der Zeichnungen an Deutschland. Vor 55 Jahren, wie sich herausstellte, wandte er sich jedoch an die Regierung mit der Bitte, die Zeichnungen zum Eigentum des sowjetischen Staates zu machen. Baldin wurde damals vom Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften Schtschussew unterstützt, der bekräftigte, das die Zeichnungen „von staatlicher Bedeutung sind“.

Die Geschichte mit der Baldin-Sammlung dauert an. Am Samstag (29.3.) wurde im Architekturmuseum die Ausstellung „Die Bremer Sammlung von Kapitän Wiktor Baldin“ eröffnet. (...) Während der Eröffnungszeremonie standen Gubenko und Schwydkoj nebeneinander. Zwischen ihnen die Witwe von Baldin, seine Tochter und sein Sohn. (...)

Der erste Akt ist also zu Ende.

362 Zeichnungen und zwei Gemälde können vom 29. März bis 18. April im Architekturmuseum betrachtet werden, wo die Baldin-Sammlung von Ende der 40er Jahre bis zum Jahr 1991 aufbewahrt wurde.

Bevor die Zeichnungen in den Sälen des Architekturmuseums aufgehängt wurden, erstellten Fachleute von „Gelos“ (Moskauer Auktionshaus – MD) ein Gutachten: den Wert der gesamten Sammlung schätzen sie auf 23,5 Millionen Dollar, die 19 Zeichnungen und das eine Gemälde, die von der Eremitage ausgewählt und in Russland bleiben werden, auf 6 Millionen Dollar (...). Bekannt ist bereits, dass die Sammlung am 18. April ins Depot von „ROSISO“ zurückkehren wird bis alle rechtlichen Fragen geklärt sind. Eine Entscheidung über die Rückgabe wird nach unseren Informationen bereits beim nächsten Treffen auf höchster Ebene getroffen werden (dass heißt, dass die Eröffnung des „Bernsteinzimmers“, an dessen Restaurierung sich die deutsche Seite beteiligt, nicht mehr von der Baldin-Sammlung überschattet wird). Die Sammlung selbst wird womöglich erst im kommenden Jahr nach Deutschland geschickt (das wird das Jahr der deutschen Kultur in Russland sein). (...)

Nicht weniger Aufmerksamkeit als die Zeichnungen zogen bei der Eröffnung Dokumente auf sich, die über das Schicksal der Sammlung in der UdSSR und später in Russland berichten. Das erste, was der Besucher zu sehen bekommt, sind die Briefe von Baldin an die Führung des Landes, in denen er darum bittet, die Sammlung möglichst schnell an die Bremer Kunsthalle zurückzugeben, „woher sie stammen“.

Es ist an der Zeit, von einer Seltsamkeit der Baldin-Position zu berichten, die bis jetzt nicht erwähnt wurde.

Die Notwendigkeit, die Baldin-Sammlung baldmöglichst an Deutschland zurückzugeben, wird heute immer öfter mit dem Wunsch des Frontsoldaten begründet. Aber es war auch Wunsch des Frontsoldaten, diese an den Staat zu übergeben. Und wenn die Übergabe nach allen Regeln der damaligen Zeit stattfand (und daran zweifelt niemand), ist das meiste, mit dem der Geber rechnen konnte – eine Ausstellung der Bilder in einem Museum statt Lagerung in einem geheimen Depot.

Bei der Ausstellung im Architekturmuseum können lediglich die Briefe gelesen werden, in denen Baldin die Partei und die Regierung bittet, die Zeichnungen an Deutschland zurückzugeben. Eine tendenziöse Auslegung meint man darin zu erblicken, da auch andere seiner Appelle erhalten geblieben sind. Das Nichtvorhandensein eines, aller Wahrscheinlichkeit nach des allerersten Briefes Baldins an die Führer des Staates, ruft natürlich Verwunderung hervor.

Es handelt sich um einen Brief von Baldin an Woroschilow, der nach unseren Informationen ursprünglich ebenfalls ausgestellt werden sollte, später jedoch weggeräumt wurde (...).

Da wir über eine Kopie dieses Briefes verfügen, bringen wir einige Auszüge daraus.

„23. März 1948

An den stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR, Marschall der Sowjetunion Genossen Woroschilow K. E. Archiv von Baldin W. I. Stadt Sagorsk, Gebiet Moskau Lawra

Im Juni 1945, wurde von Truppen der 38. Ingenieur- und Pionierbrigade Pinsk der 61. Armee, in der ich diente, im Keller des Hauses von Graf Königsmark, in der Nähe der Stadt Kiritz (80 Kilometer im Norden von Berlin), Deutschland, eine Sammlung seltener Gegenstände entdeckt. Der Keller wurde unter Schutz gestellt und nachdem der Leiter der politischen Abteilung der Brigade, Oberstleutnant Bulgakow, offensichtlich das Wertvollste weggebracht hatte, für alle geöffnet.

Ich erfuhr davon ein paar Tage später, als Dienstgenossen mir mitteilten, dass im Keller irgendwelche Zeichnungen übriggeblieben sind und mir vorschlugen, mir die anzusehen, da sie von meinem Interesse an Kunstwerken wussten.

Ich eilte dorthin. Ich einem ganz dunklen Zimmer lagen direkt auf dem Boden Zeichnungen herum, diese wurden mit Füßen getreten, verbrannt und verschleppt.

Ich machte mich flüchtig mit den Zeichnungen vertraut, begriff, dass diese zweifelsohne hohen wissenschaftlichen Wert darstellen müssen, und wandte mich ans Kommando mit der Bitte, sie aufzubewahren. Letzteres unternahm jedoch nichts, die Zeichnungen wurden weiterhin vernichtet.

Dann beschloss ich, auf eigene Faust das zu retten, was ich allein retten konnte: ich sammelte die meisten Zeichnungen, die im Keller übriggeblieben waren, ein, nahm deren Bestand auf, erbat oder erwarb viele, die sich bereits in den Händen anderer befanden, und brachte sie in die UdSSR.

Nach der Demobilisierung ordnete ich die Bilder systematisch, bearbeitete die Sammlung, studierte die entsprechende Literatur und stellte fest, dass fast alle diese Zeichnungen Originalwerke Alter Meister der Weltkunst sind.

Dann entschied ich, sie nicht weiter bei mir zu Hause aufzubewahren, sondern einem Museum zur allgemeinen Betrachtung zu übergeben, sie zum Eigentum des Staates zu machen...

Das Mitglied der Akademie der Wissenschaften Schtschussew A. W. schätzte die Bedeutung dieser Sammlung für den Staat hoch ein und äußerte den Gedanken, es wäre gut, alle Gegenstände zusammenzutragen, die in dem Keller aufbewahrt wurden, da es sich zweifelsohne ebenfalls um Kunstwerke von staatlicher Bedeutung handele...

Da ich auf Spuren für die Suche nach den übrigen Gegenständen verweisen kann, hielt ich es für meine Pflicht, Sie darüber in Kenntnis zu setzen damit Sie, sollten Sie es für notwendig halten, eine Möglichkeiten finden, diese einmaligen Kunstwerke für den Staat zusammenzutragen...

...Wenn mein Brief es ermöglicht, der Wissenschaft wenigstens einen Teil der Kunstwerke zurückzugeben, so werde ich glücklich sein, meiner Pflicht nachgekommen zu sein, 23. März 1948, Wiktor Baldin.“

Aus diesem Brief Baldins lässt sich schließen, wer sich genau hinter der anonymen Person verbirgt, die Anfang der 90er Jahre einen Teil der Sammlung der Bremer Kunsthalle an die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland übergab. Gleichzeitig verdirbt dieser Brief, der uns mit einem weiteren Wunsch des verstorbenen Architekten bekannt macht, ein wenig das leichte Gefühl, mit dem wir derzeit bereit sind, uns von der „Bremer Sammlung von Kapitän Wiktor Baldin“ zu trennen. (lr)