Unbelastet von politischen Vorgaben und Verpflichtungen, trafen vom 5. bis 7. Dezember 2002 im Haus der Deutsch-Balten in Darmstadt mehr als 40 Wissenschaftler und Experten aus Israel, Kosova, Serbien und Montenegro, Polen, Rumänien, Russland, der Slowakei, Tschechien, der Türkei, Ungarn, den USA und Deutschland zu einem internationalen wissenschaftlichen Kolloquium „Ein europäisches Zentrum gegen Vertreibungen. Historische Erfahrungen – Erinnerungspolitik – Zukunftskonzeptionen“ zusammen. Auf Einladung des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt und in Zusammenarbeit mit dem Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, Leipzig, sowie dem Historischen Institut der Universität Warschau unternahmen sie eine Bestandsaufnahme unterschiedlicher europäischer Vertreibungskomplexe im 20.Jahrhundert und stellten erste Überlegungen über eine Konzeption eines europäisch ausgerichteten Zentrums gegen Vertreibungen an.
Die Veranstalter des Kolloquiums, Dr. Dieter Bingen (Deutsches Polen-Institut Darmstadt), Prof. Dr. Stefan Troebst (Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas Leipzig), und Prof. Dr. Wlodzimierz Borodziej (Universität Warschau) zeichnen verantwortlich für die folgenden Denkanstöße, mit denen sie sich nach bestem Gewissen darum bemühen, den breiten Konsens hinsichtlich der GRUNDLAGEN der inhaltlichen Ausrichtung eines Europäischen Zentrums gegen Vertreibungen zu reflektieren, der in dem Kolloquium sichtbar wurde. Angesichts der Komplexität der Materie, die in den zwei Tagen zur Diskussion stand, war das nicht in allen Punkten möglich, so dass einzelne Teilnehmer des Kolloquiums nicht unbedingt alle Ansichten teilen, die in den Denkanstößen ausgedrückt werden.
„Europäisches Zentrum gegen Vertreibungen“
Denkanstöße
Austreibungsaktionen, Flüchtlingstrecks und Auffanglager sind Bestandteile eines europäischen Dramas des 20. Jahrhunderts. Über den gesamten Kontinent hinweg haben Zwangsmigrationen wie Flucht, Deportation, Verbannung, religiös und ideologisch begründete Vertreibung, sogenannte ethnische Säuberungen und Binnenvertreibung im letzten Jahrhundert über 60 Millionen Menschen ihrer Lebensumgebung beraubt und kulturelle Vielfalt unwiderruflich vernichtet. Die aus millionenfachen Einzelschicksalen zusammengesetzten Kollektivschicksale eignen sich nicht für politische Instrumentalisierung und ethnozentrische Nabelschau. Gefordert ist daher eine transnational vergleichende, multidisziplinäre sowie von kurzfristigen politischen Verwertungsinteressen freie wissenschaftliche Aufarbeitung in einem der europäischen Erinnerungskultur verpflichtenden Diskurs.
Breiter Konsens bestand in folgenden Punkten:
- Die Idee eines Zentrums gegen Vertreibungen sollte in der weiteren wissenschaftlichen wie vor allem politischen Diskussion nicht national zentriert, sondern gesamteuropäisch gedacht werden. Nur unter dieser Voraussetzung könnte das Zentrum den Zweck erfüllen, gemeinsam - europäisch - an das Schicksal der von Vertreibungen Betroffenen zu gemahnen.
- Ein Europäisches Zentrum gegen Vertreibungen - in welcher Gestalt auch immer - sollte das Schicksal der Opfer im Europa des 20. Jahrhunderts würdigen, also in einem Zeitraum, der von den heute lebenden Generationen erinnert wird. Die Ereignisse auf dem Balkan im vergangenen Jahrzehnt haben deutlich gemacht, dass ethnische Säuberungen oder Vertreibungen noch immer ein Mittel der politischen Auseinandersetzungen sind. Ein Zentrum gegen Vertreibungen müsste daher auch dazu beitragen, dass die Errichtung ethnisch homogener Zonen, Regionen, Städte und Staaten nicht als legitimes Mittel der Politik akzeptiert wird. So wichtig die Auseinandersetzung mit den deutschen Vertriebenenschicksalen gerade auch für die deutsche Gesellschaft und die deutsche Vergangenheitsaufarbeitung ist, so sollte andererseits vermittelt werden, dass bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts Millionen Menschen in Europa von ihren europäischen Nachbarn aus ihrer angestammten Heimat vertrieben wurden, und die Zwangsmigration von Deutschen bereits mit der Politik der nationalsozialistischen Führung gegenüber den jüdischen Deutschen 1933 dekretiert und exekutiert wurde und mit den Südtirolern und Deutsch-Balten nach 1938/39 fortgesetzt wurde.
- Deutsche Erinnerungskultur, die sich nicht in den historischen Kontext von Ursache und Wirkung stellt und nicht im Bewusstsein der vergleichbaren Einzelschicksale der Vertriebenen im Europa des 20. Jahrhundert erinnert, muss mit ihrem von den europäischen Nachbarn Empathie einfordernden Anspruch scheitern und reißt neue Gräben zwischen den Völkern auf.
- Die Vertreibung der Deutschen galt im deutsch-polnischen Verhältnis über Jahrzehnte als offene Wunde. Der Dialog zwischen Deutschen und Polen in den neunziger Jahren hat bewiesen, dass eine gemeinsame Aufarbeitung dieses emotional belastenden Themas nicht nur möglich ist, sondern befreiend wirkt.
- Das Hauptanliegen einer sich entwickelnden gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur um den Komplex der Vertreibungen ist nicht die Mahnung um der Erinnerung willen, sondern der zukunftsorientierte, pädagogische Aspekt der wissenschaftlich fundierten Darstellung und mehrdimensionalen Vermittlung der historischen, politischen, sozialen und psychologischen Mechanismen, die in der Vergangenheit zu den tragischen Ereignissen und Verbrechen geführt haben, und die Prävention angesichts zukünftiger Versuchungen, politische Probleme durch ethnische Säuberung und Massenumsiedlung zu lösen.
- In einem historischen Moment, in dem die politische Vereinigung Europas sich mit der Aufnahme von weiteren Mitgliedern in die Europäische Union ihrer Verwirklichung nähert, beruht die erfolgreiche Prävention gegen das Wiederaufleben von Ethnonationalismus wesentlich auf der Anerkennung der übernationalen Werte durch die Gesellschaften und Bürger Europas.
- Das Zentrum kann nicht ohne die Thematisierung der Aufhebung der bürgerlichen Rechte, Flucht, Vertreibung und Vernichtung der europäischen Juden gedacht werden. Nur ein Zentrum, das die Rolle des nationalsozialistischen Deutschlands als des Verursachers von Vertreibung, Umsiedlung, Liquidierung von Völkern mit allen Mitteln der Technik und logistischer Präzision darstellt, wird das Verständnis der europäischen Nachbarn für das tragische Schicksal der Deutschen im Osten und Südosten Europas und die Kooperationsbereitschaft bei der Konzipierung eines europäisch orientierten Zentrums gewinnen.
- Die jeweiligen historischen Hintergründe und Zusammenhänge von Fluchtbewegungen, Vertreibungen und zwangsweisen Umsiedlungen waren sehr verschieden - das Leid der betroffenen Menschen dagegen ähnelt sich sehr. Wenn es gelänge, gemeinsam den schwierigen, emotional stark besetzten Komplex der Vertreibungen aufzuarbeiten, wäre dies für die Zukunft Europas ein wichtiges Signal.
- Ein Europäisches Zentrum gegen Vertreibungen zu fordern, heißt zu allererst, über die Konzeption eines solchen Zentrums nachzudenken und in einen europäischen Diskurs über dessen mögliche Inhalte einzutreten.
- Ein Europäisches Zentrum gegen Vertreibungen sollte folgende Funktionen haben:
- Dokumentation;
- Forschung;
- Konferenz;
- Beratung bei der konstruktiven Bearbeitung solcher Konflikte, in denen Vertreibungen stattgefunden haben;
- Ort des Dialogs der Opfer/Täter über noch nicht "verarbeitete" Vertreibungen;
- Ausstellung/Wanderausstellung;
- Mahnbereich - europäisches Denkmal.
- Die Wahl des Ortes erscheint gegenüber einer schlüssigen und überzeugenden Konzeption eines Europäischen Zentrums gegen Vertreibungen sekundär, stellt aber angesichts der auch in Fachkreisen und im politischen Raum diskutierten Plätze und des unvermeidlichen Symbolgehalts der Ortswahl, die immer auch als Teil einer Konzeption verstanden werden muss, ein nicht zu unterschätzendes Politikum dar.
- Die gemeinsame europäische Erinnerung und Mahnung für die Zukunft, die Solidarität des Gedenkens, könnte durch die Entwicklung einer Konzeption dezentraler Strukturen von Gedenkstättenarbeit gefördert werden. Ausgehend von einem zentralen, bündelnden Ort sollte ein Überblick über die zahlreichen Vertreibungsorte und vielfältigen Aktivitäten vom russländischen Karelien bis Nordgriechenland, von Bessarabien bis Niederschlesien, geschaffen und könnten die Möglichkeiten einer virtuellen Vernetzung genutzt werden.
Darmstadt, den 7.12.2002
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Internationalen wissenschaftlichen Kolloquiums
Prof. Dr. Fikret Adanir, Bochum /Istanbul
Prof. Dr. Arnulf Baring, Berlin
Johannes Bauch, Botschafter a.D., Berlin
Dr. Mathias Beer, Tübingen
Dr. Dieter Bingen, Darmstadt
Sonja Biserko, Belgrad
Prof. Dr. Wlodzimierz Borodziej, Warschau
Prof. Dr. Dr. h.c. Detlef Brandes, Düsseldorf
Dr. Marie-Janine Calic, Berlin
Prof. Dr. Heinz Duchhardt, Mainz
Dr. Aleksandr Gur'janov, Moskau
Dr. Helga Hirsch, Berlin
Prof. Dr. Richard G. Hovannisian, Los Angeles
Dr. Edita Ivanicková, Bratislava
Zoran Janjetovic, M.A., Belgrad
Doz. Dr. Kristina Kaiserová, Ústí nad Labem
Hans Koschnick, Bürgermeister a.D., Bremen
Adam Krzeminski , Warschau
Dr. Stefan Laube, Wittenberg
Dr. Andreas Lawaty, Lüneburg
Prof. Dr. Hans Lemberg, Marburg
Thomas Lutz, Berlin
Markus Lux, M.A., Stuttgart
Dr. hab. Piotr Madajczyk, Warschau
Dr. Ralph Melville, Mainz
Prof. Dr. John S. Micgiel, New York
Prof. Dr. Victor Neumann, Timisoara
Prof. Dr. Dr. h.c. Erwin Oberländer, Bonn
Dr. Milan Olejník, Košice
Dr. Peter Payer, Aichwald
Dr. Gazmend Pula, Prishtina
Dr. Gideon Reuveni, Jerusalem / München
PD Dr. Joachim Rogall, Stuttgart
Dr. Krzysztof Ruchniewicz, Breslau
Prof. Dr. Karl Schlögel, Frankfurt (Oder)
Prof. Dr. Holm Sundhaussen, Berlin
Dr. László Szarka, Budapest
Dr. Philipp Ther, Berlin
Dr. Robert Traba, Warschau
Dr. Heinz-Adolf Treu, Darmstadt
Prof. Dr. Stefan Troebst, Leipzig
Prof. Dr. Matthias Theodor Vogt, Görlitz-Klingewalde
Dr. Kazimierz Wóycicki, Leipzig
Prof. Dr. Klaus Ziemer, Warschau
Prof. Dr. Marek Zybura, Oppeln
Quelle:
Pressemitteilung des Deutschen Polen-Instituts (Mathildenhöhweg 2, 64287 Darmstadt), Tel. +49 6151 498513, Fax +49 6151 498510,