Das deutsch-tschechische Schulprojekt »Preßnitz lebt – Přísečnice žije«. Von Marcela Svejkovská und Veronika Kupková
März/April 2021 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1422
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Die Talsperre Preßnitz ist rund 50 m tief und dient als Trinkwasser-Reservoir für die Menschen im Egertal. An der Preßnitz befand sich früher die alte Bergstadt Preßnitz, die 1973–1974 einschließlich der Nachbarorte Reischdorf/Rusová und Dörnsdorf/Dolina aufgegeben wurde. | Foto: © bajo57/AdobeStock

Wenn man durch die erzgebirgische Landschaft wandert, findet man hier und dort Spuren ihrer ehemaligen Berühmtheit. Viele dieser Orte sind leider schon verschwunden. Preßnitz/Přísečnice etwa, wo im Lied von Petr Linhart »die Stille unter dem Wasser ist – die versunkene Stadt schläft«. Den Ort Preßnitz gibt es nicht mehr, er ist versunken in einer Talsperre, die heutzutage die Einwohner im Egertal mit Trinkwasser versorgt. In letzter Zeit aber wird wieder über Preßnitz gesprochen, tschechisch und deutsch – oder deutsch und tschechisch, wie es damals war. Was ist denn dort los?

Die Preßnitzer Talsperre befindet sich am Erzgebirgskamm, direkt in der Mitte zwischen Annaberg-Buchholz und Kaaden/Kadaň. Ein Team von Schülerinnen und Schülern mit ihren Pädagoginnen arbeitet schon drei Jahre zusammen an dem Projekt »Preßnitz lebt – Přísečnice žije«. Sie versuchen das, was zum Vergessen bestimmt war, wieder lebendig zu machen. Denn die Erinnerungen sind, im Gegensatz zu den Häusern, der Kirche, der Schule oder der heimatlichen Landschaft, nicht unter der Wasseroberfläche verschwunden.

Die Koordinatorin dieses Projekts ist Veronika Kupková, Geografielehrerin am Gymnasium Kaadens. Sie sieht es als eine wichtige Aufgabe an, Zeitzeugen aus Preßnitz zu finden, ihren Geschichten zuzuhören und sie mit den teilnehmenden Schülern zum Dialog zu vernetzen. Es gibt mehrere Generationen der Preßnitzer: die Deutschsprachigen, die ihre Heimat nach dem Zweiten Weltkrieg verlassen mussten, aber auch die Nachkriegsgeneration, die aus der Stadt wegmusste, als Ende der 1960er Jahre die Talsperre gebaut wurde. Die Umstände, die ihren Abschied begleiteten, sind natürlich unterschiedlich. Das verbindende Element zwischen diesen beiden Generationen ist aber das Heimatgefühl, das sie für ihr Zuhause in Preßnitz empfanden. Bis heute sind einige Erinnerungen sehr emotional.

Die Geschichte der Stadt Preßnitz ist beispiellos und spannend, sie überschreitet die Grenze Böhmens, sogar die Grenzen Europas. Doch selbst viele Erzgebirgler kennen sie nicht – oder nicht mehr. Preßnitz, im Mittelalter eine reiche Bergstadt, wurde dank seiner reisenden Musikanten weltweit bekannt. Die Kapellen waren Ende des 19. Jahrhunderts bis in den Fernen Osten, in Japan, Ägypten oder in Südamerika unterwegs.
So hat dieses Schulprojekt noch ein weiteres Ziel, als nur die Zusammenarbeit zwischen den jungen Menschen zu fördern: An ein Kulturerbe zu erinnern, das nicht mehr »sichtbar« ist, und es dadurch für die Zukunft erhalten zu können. Aus der Schulpartnerschaft ging eine Wanderausstellung hervor, ebenso ein zweisprachiges Buch, der Vorschlag für einen Naturlehrpfad, mehrere Exkursionen und Vorträge für alle, die das Wissen suchen und selbst nicht vergessen wollen. »Das Projekt hat eine unglaubliche und unerwartete Resonanz ausgelöst – in Tschechien und auch in Deutschland! Es gibt viele Leute, die sich für Preßnitz interessieren und mit uns die Spuren der Vergangenheit suchen wollen«, freut sich die Projektkoordinatorin Veronika Kupková. »Man spürt, wie groß der Bedarf ist, darüber öffentlich und ohne Restrik­tionen zu sprechen!« Das Schul-Team wird von vielen regionalen Experten und Kulturinstitutionen unterstützt, und so ist das Projekt »Preßnitz lebt – Přísečnice žije« inzwischen stark gewachsen und hat die Klassenzimmer deutlich überwunden.

Eine spontane Entscheidung

Der Ursprung des Projekts liegt im Jahr 2014. Veronika Kupková kam damals nach Sachsen, um ein Europäisches Freiwilliges Jahr in der Grünen Schule grenzenlos e. V. in Zethau zu verbringen. Das EFJ-Programm bietet jungen Menschen an, ein Jahr im Ausland zu verbringen und dort ihre eigenen Projektideen zu entwickeln. »Das war eine wunderbare Gelegenheit, die Sprache vor Ort zu lernen, die Einheimischen kennenzulernen und ein Teil der Community zu sein«, sagt Veronika, die auch heute immer mal wieder nach Zethau fährt und Freunde besucht. »Ich hatte das Glück, viel Raum zu haben und eigene Projektideen entwickeln zu können, unter anderem die ersten Schulprojekte und auch Begegnungen mit deutschsprachigen Zeitzeugen aus dem ehemaligen Sudetenland«, erinnert sie sich. Es sei ein besonderes Erlebnis für sie gewesen, sich mit dem Thema Vertreibung der Deutschen zu beschäftigen sowie mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sprechen zu können. »Diese Geschichte betrifft auch die Familie meines Opas, und ich habe auf viele Fragen Antworten gefunden. Ein Dilemma blieb jedoch im Raum: Wer hatte es nach dem Jahr 1945 ›besser‹ – die (in der Tschechoslowakei) Gebliebenen oder die Vertriebenen? Meine Freunde und ich entschieden, einen Dokumentarfilm über diese Frage zu drehen!«

Historische Postkarten von Preßnitz im Dokumentarfilm »Generation ›N‹: Deutschböhme« von 2016, der ein Jahr später den deutsch-tschechischen Journalistenpreis gewonnen hat.Historische Postkarten von Preßnitz im Dokumentarfilm »Generation ›N‹: Deutschböhme« von 2016, der ein Jahr später den deutsch-tschechischen Journalistenpreis gewonnen hat.

So entstand 2016 der Dokumentarfilm Generation »N«: Deutschböhme. Er bezieht sich auf das Erzgebirge und, dank des Hauptakteurs, direkt auf Preßnitz. Er wurde schon mehrmals in Deutschland und in Tschechien präsentiert und brachte seinen Autorinnen mehrere Auszeichnungen, etwa den Deutsch-Tschechischen Journalistenpreis 2017.

Nachdem Veronikas Engagement in Zethau zu Ende ging, bezog sie das Thema auch weiterhin bei ihrer neuen Arbeit am Gymnasium in Kaaden ein. Sie gestaltete beispielsweise 2016 einen Projekttag mit dem Thema Geschichten des Unrechts. So konnten sich auch ihre Schülerinnen und Schüler mit dem Thema Vertreibung aus dem Sudetenland bekanntmachen sowie mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus ihrer Region sprechen. Dieses Erlebnis war besonders bewegend für die Schülerin Pavlína Kufová, die selbst familiäre Wurzeln in der Nähe von Preßnitz im Erzgebirge hat. Pavlína Kufová und ihre Mitschülerin Andrea Geisselová entschieden, sich auch mit der zweiten Generation der Preßnitzer zu beschäftigen, die bis in die 1960er Jahre im Ort lebte. Sie wollten wissen, welche Rolle Preßnitz in der Entwicklung der Region gespielt hatte, ob es nötig war, dort eine Talsperre zu bauen und wie die Stadt den ehemaligen Einwohnern im Gedächtnis geblieben ist.

Dank der eigenen Motivation und unter der Leitung ihrer Lehrerin Veronika Kupková schafften sie es, ihre Ergebnisse 2017 bei einem nationalen Wettbewerb zu präsentieren. »Es ist unglaublich, wie sich die Perspektive der beiden Schülerinnen entwickelt hat: Am Schuljahresanfang kannten sie Preßnitz nicht einmal. Aber nach ein paar Monaten waren sie sogar bereit, sich aktiv zu engagieren, damit die Stadt nicht in Vergessenheit gerät«, würdigt die Lehrerin ihren Fortschritt.

Am Ende ihrer Arbeit blieb eine Frage offen: Wieso gibt es bei der Talsperre Preßnitz nichts, was an die berühmte Stadt und ihre früheren Einwohnerinnen und Einwohner erinnert?!

Herausforderung angenommen

Zu dieser Frage entstand eine weitere Projektidee: einen zweisprachigen Naturlehrpfad um Preßnitz anzulegen. Kurzerhand wurde der Schulpartnerschaft zwischen Annaberg-Buchholz und Kaaden wieder frischer Atem eingehaucht, und es gründete sich ein Projektteam von 15 Schülerinnen und Schülern unter der Leitung von Veronika Kupková und Daniela Hielscher.

Die Teammitglieder beschäftigten sich mit unterschiedlichen Themen, etwa mit der Bergbaugeschichte, den Legenden der Region, Preßnitz auf alten Karten oder als berühmte Musikstadt. Sie trafen sich mit ehemaligen Preßnitzern aus dem Heimatkreis Preßnitz. Sie lernten die Preßnitzer Gegend im Rahmen eines »Frühjahrsputzes« besser kennen. Und selbstverständlich ging es nicht zuletzt um gemeinsamen Spaß und das Überwinden der Sprachbarriere – in gemischten Teams wurde auf Englisch, Tschechisch und Deutsch zusammengearbeitet.

Nach nur einem Schuljahr 2018 war es leider unmöglich, einen Lehrpfad anzulegen, es entstand jedoch eine Alternative: die deutsch-tschechische Wanderausstellung Preßnitz lebt, die in Annaberg-Buchholz vor vielen Interessierten festlich präsentiert wurde.

Die Ausstellung »Preßnitz lebt – Přísečnice žije« wurde 2018 in Annaberg-Buchholz präsentiert. Foto: © ProjektteamDie Ausstellung »Preßnitz lebt – Přísečnice žije« wurde 2018 in Annaberg-Buchholz präsentiert. Foto: © Projektteam

Ein »Nebenprodukt« oder ein neuer Anfang?

»Während der Zusammenarbeit haben wir so viel Archiv- und Bildmaterial gesammelt, dass auf den Tafeln nicht alles Platz fand. Damals kam die Journalistin Jacqueline Hene auf uns zu und schlug vor, diese Texte als Buch drucken zu lassen«, verrät Veronika den Hintergrund der Buchgeburt. »Damals war ich mir noch nicht sicher, ob es für ein Buch reicht – es ging doch nur um ein spontanes Schulprojekt!«

Inzwischen wurde das Buch Preßnitz lebt – Přísečnice žije von einem tschechisch-deutschen Team unter der Leitung Veronikas vorbereitet, mit finanzieller Unterstützung vom Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds, der Gemeinde Kaaden und der Gemeinde Komotau/Chomutov. Und es ist sogar um ein paar Kapitel reicher als die Ausstellung, denn es wurden noch mehr Zeitzeugen gefunden. Im Buch befinden sich die Lebensberichte von etwa dreißig Menschen, die in Preßnitz zwischen den 1930er und 1970er Jahren gelebt haben, ein einzigartiges Mosaik.

Für die beiden Lehrerinnen ist das Wichtigste jedoch die positive Energie, die bei der Zusammenarbeit der tschechischen und deutschen Schüler entstand. »Es war spannend zu beobachten, wie die Schüler während des Projekts gewachsen sind! Der Anfang war sehr unsicher, vor allem als sie ihr Wissen vor einem unbekannten Publikum präsentieren sollten. Später entwickelten sie sich zu richtigen Experten. Sie konnten von der Bühne aus mit den Besuchern diskutieren und die Präsentationen alleine durchführen«, freut sich Veronika. »Es war beeindruckend, als wir die Präsentation im Kloster Kaadens durchgeführt haben! Als wir den ehemaligen Einwohnern Zitate vorlasen, herrschte eine unglaubliche Stille im Saal! Das war ein besonderes Erlebnis für mich«, sagt dazu Jirka Klepp aus dem tschechischen Schülerteam, und er setzt fort: »Ich habe festgestellt, dass unsere Arbeit im Rahmen des Projekts sehr sinnvoll ist, weil es vielen Leuten hilft und der Versöhnung dient.« Veronika Kupková und Daniela Hielscher jedenfalls wollen weiter daran arbeiten, diese Brücke zwischen Deutschland und Tschechien auszubauen.