Der Anblick der ihnen zugedachten Unterkünfte war für die Ankömmlinge ein Schock. »Die Häuser waren in einem katastrophalen Zustand«, stellte Hans Schmutzer, einer der künftigen Bewohner, deprimiert fest. Türen und Fenster waren heraus gerissen, ebenso Schlösser, Steckdosen und Schalter. Halbe Dächer fehlten. Keller waren vermauert und mit Schutt gefüllt. Stromleitungen lagen zerrissen auf der Straße. Und auch funktionierende Brunnen waren kaum vorhanden. »Trotzdem war jeder froh, als er ein Haus oder eine Wohnung zugewiesen bekam.«
Die 286 Personen, für die das bei Jüterbog gelegene Dorf Zinna zur neuen Heimat werden sollte, kamen aus dem Sudetenland, genauer aus der für ihre Glas- und Schmuckindustrie bekannte Stadt Gablonz und Umgebung. Wie fast alle deutsch-stämmigen Bewohner der bis Kriegsende vom NS-Regime besetzten Tschechoslowakei mussten oder sollten sie ihre angestammte Heimat verlassen. Am 12. Februar 1946 rollte ihr Transport über die Grenze zur sowjetisch besetzten Zone und machte zunächst im sächsischen Pirna Station.
Eigentlich hätten die zum Transport gehörenden 90 Familien das Land nicht verlassen müssen. Denn die erwachsenen Mitglieder waren Kommunisten und Sozialdemokraten, Bürger also, die nach dem neu erlassenen Verfassungsdekret über die Staatsbürgerschaft als »Antifaschisten« der tschechoslowakischen Republik »treu geblieben waren, sich niemals gegen das tschechische und slowakische Volk vergangen und sich entweder aktiv am Kampf um seine Befreiung beteiligt oder unter dem NS-Terror gelitten haben.« Da diesen deutschen Mitbürgern jedoch jegliche politische Tätigkeit verwehrt wurde und sie auch sonst von den tschechischen Behörden wenig Unterstützung erhielten, zogen sie es vor, ihr angestammtes Siedlungsgebiet Richtung Deutschland zu verlassen.
Nachdem sich deutsche Antifaschisten aus Böhmen und Mähren bei ihren Genossen in Berlin über die Behandlung durch die Prager Regierung beschwert hatten, kam es im September 1945 zu einer Vereinbarung zwischen den Führungen der Kommunistischen Parteien in der Tschechoslowakei und in Deutschland über die Umsiedlung deutscher Kommunisten und »antifaschistischer Funktionäre« in die Sowjetische Besatzungszone (SBZ). Bei dieser von Moskau gebilligten Aktion wurden nach Angaben der Historikerin Heike van Hoorn zwischen Oktober 1945 und Dezember 1946 etwa 50.000 als »Antifa-Umsiedler« registrierte Sudetendeutsche in speziellen Transporten in die SBZ gebracht.
Den Transfer deklarierte man als »freiwillige Ausreise«. Zur Begründung hieß es, die das Land verlassenden Genossen wollten sich in politischen Funktionen am Aufbau demokratischer Verhältnisse in Deutschland beteiligen. Tatsächlich hatte die KPD-Spitze vor, nur einen kleineren Teil der überführten Genossen in die hauptamtliche politische Arbeit einzusetzen. Die weitaus meisten sollten in den Arbeitsprozess eingegliedert werden. Anders als dem Gros der ausgewiesenen Sudetendeutschen wurden den »Antifa-Umsiedlern« gestattet, einen großen Teil ihres beweglichen Besitzes mitzunehmen. Ausgenommen waren nur Tiere, Gold, Werkzeuge und Maschinen.
In Pirna wurde der Transport, bestehend aus 22 Güter- und vier Personenwaggons, in einen deutschen Zug umgeladen und nach Jüterbog gebracht. Nach dreitägigem Quarantäne-Aufenthalt in örtlichen Kasernenbauten kam der nächste Ortswechsel. Den 90 sudetendeutschen Familien, zu denen 69 Kinder gehörten, wurde das leerstehende Dorf Zinna – nicht zu verwechseln mit dem an der heutigen Bundesstraße 101 gelegenen Jüterboger Ortsteil Kloster Zinna – zur Besiedlung zugewiesen. Wegen der geplanten Erweiterung des von der Wehrmacht genutzten Jüterboger Truppenübungsplatzes hätte der Ort wie andere benachbarte Dörfer abgerissen werden sollen. So war es jedenfalls geplant. Weil aber die Wehrmacht Unterkünfte für Arbeiter, Soldaten und später auch für Kriegsgefangene benötigte, ließ man die bereits 1937 leer geräumten Häuser in Zinna stehen und errichtete zusätzliche Baracken. Nach Kriegsende wurden Häuser und Gehöfte geplündert und der Verwahrlosung preisgegeben.
Am 18. Februar 1946, nach der Freigabe durch die Sowjetische Militärverwaltung, verteilte eine von den Umsiedlern benannte Kommission die neuen Behausungen. »Auf die Haustüren wurden die Namen der künftigen Hausbesitzer geschrieben,« notierte der Ortschronist Schmutzer in einer 1966 veröffentlichten Jubiläumsschrift. Selbstverständlich habe es auch Unzufriedene gegeben, denn manche Gebäude waren nicht nur halbe Ruinen, sondern auch noch von Ungeziefer befallen. Wie viele andere Flüchtlingen und Vertriebene tauschten die Gablonzer bei den Bauern der Umgebung Textilien und Wertgegenstände gegen Kartoffeln und Saatgut. Nicht selten wurden die Zugezogenen abgewiesen. »Wir galten hier als die Roten«, sagt Annemarie Vlk, die mit Eltern und Bruder als Zweijährige nach Zinna kam und bis heute im Ort wohnt. Manche Geschäfte in Jüterbog weigerten sich, die übergesiedelten Dörfler zu bedienen. Und in der Schule blieben ihre Kinder, die anfangs noch den heimischen Isergebirgs-Dialekt der Eltern sprachen, oft unter sich.
Unter den mehr als 200 erwachsenen Neubürgern gab es Vertreter unterschiedlichster Berufe. Neben klassischen Handwerkern wie Elektriker, Bäcker, Dachdecker, Maurer, Schlosser und Zimmermann gab es Textilarbeiter, Hilfsarbeiter, Heimarbeiter und Angestellte. Da nur zwei Bauern zur neuen Einwohnerschaft zählten, wurden auch Berufsfremde zu Landwirten bestimmt. Insgesamt wurden 20 Familien zu Neubauern. Annemarie Vlks Eltern zählten zu ihnen. Sie hatten es anfangs schwer. Sie besaßen weder Zugtiere noch Maschinen. Wenn die Umsiedler bei einheimischen Bauern der umliegenden Dörfer um Hilfe baten, um die verkrauteten Felder für die Frühjahrsbestellung vorzubereiten, wurde ihnen diese – wie es in der Ortschronik heißt – nur selten gewährt.
24 Glasarbeiter bildeten die größte Facharbeitergruppe. Schon wenige Wochen nach dem Einzug in Zinna, das 1951 in Neuheim umbenannt wurde und heute ein Ortsteil von Jüterbog ist, besannen sie sich auf ihren erlernten Beruf und begannen, eine neue Produktion aufzubauen. Im Hofgebäude des Hauses Nr. 18 fertigte der Glasdrucker Karl Appelt aus Ziegeln, Lehm und einer Grabsteinplatte einen mit Kohle befeuerten Glasdruckofen. In dem presste er aus Glas, das unter Mühen aus der Gemeinde Glashütte bei Baruth bezogen wurde, Plaketten, in die eine Fackel und ein Datum eingraviert wurden. Bestimmt als Abzeichen für die 1. Mai-Demonstration in Luckenwalde. Die 9.000 Stück gingen – wie die Lokalausgabe der »Märkischen Allgemeinen Zeitung« in einer Reportage vom 30. Juni 2015 schrieb – »als erste Serie der örtlichen Schmuckindustrie in die Dorfgeschichte ein.« Fast zeitgleich wurde in einem anderen Gebäude eine Glasspinnerei eingerichtet. Gelernte Schleifer errichteten in der ehemaligen Schmiede eine Steinschleiferei. Im früheren Pfarrgebäude entstand eine Formenschlosserei. Die meisten Werkzeuge wurden aus dem Schrott von zerstörtem Kriegsgerät gefertigt, das reichlich an den Wegen herumlag.
Am 30. September 1946 gründeten Glasarbeiter im Dorf Zinna die »Produktiv- und Handelsgenossenschaft für Glas- und Bijouterieindustrie.« Ihr gehörten zunächst 32 Mitglieder an. Sie konnten sich dabei auf einen Erlass der Sowjetischen Militäradministration vom 27. Mai 1946 stützen, der die Einrichtung neuer Produktionsmöglichkeiten für vertriebene Handwerker und Gewerbetreibende vorsah. Die Arbeit der Genossenschaft beschränkte sich zunächst auf die Fertigung von Knöpfen, Broschen und Lüsterbehängen. Als schwierigstes Problem erwies sich die Beschaffung von Material und Werkzeugen. »Niemand außerhalb des Dorfes glaubte an die Verwirklichung des Vorhabens der Glasarbeiter, eine Schmuckindistrie mit Weltruf aufzubauen«, notierte Hans Schmutzer.
Die Genossenschaftler ließen sich jedoch nicht beirren. Im Jahr 1947 betrug der Umsatz bereits 1,27 Millionen Reichsmark. Auch die Zahl der Arbeiter stieg von 89 (Stand: Dezember 1947) im folgenden Jahr auf 244. Hinzu kamen 31 Angestellte. Ermöglicht wurde dies auch durch weiteren organisierten Zugzug aus dem Sudetenland. Da die einzelnen Werkstätten im Ort verstreut lagen, begann die Genossenschaft Anfang 1948 am Südausgang des Dorfes mit dem Bau einer Fabrik. Den ersten Exportauftrag erhielt das Unternehmen im selben Jahr aus Polen.
Die für die Sowjetzone zuständige Zentralverwaltung für Umsiedler sah es als vordringlich an, Industriezweige zu fördern, die in den von Deutschen besiedelten Gebieten Tschechiens erfolgreich gewirtschaftet hatten. Das galt besonders für die Gablonzer Schmuck- und Glasindustrie. Kommunalbehörden warben regelrecht um diese Facharbeiter, seien es nun Schmelzer, Schleifer oder Graveure. So entstand im thüringischen Gotha die Genossenschaft »Bijou Schmuck- und Glaswaren GmbH.« In Quedlingburg wurde eine ähnliche Einrichtung unter dem Namen »Harzer Glas- und Schmuckwaren-Industrie GmbH« gegründet. Laut einer Studie der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund bemühten sich beide Unternehmen mit Unterstützung der Landes- und Provinzialbehörden, »alle in der SBZ verstreuten Fachkräfte ausfindig zu machen und zur nochmaligen Umsiedlung zu bewegen.« Auch in anderen Wirtschaftszweigen gründeten Umsiedler mit staatlicher Förderung Genossenschaften. Bis Ende Oktober 1948 gab es zwischen Elbe und Oder 68 solcher Betriebe. Viele von ihnen wurden von »Antifa-Umsiedlern« gegründet und geleitet.
In den ersten beiden Jahren konnten die Genossenschaften noch weitgehend eigenständig wirtschaften. 1948 änderte die SED-Führung ihre Strategie und reglementierte mehr und mehr unternehmerische Initiativen. Einigen Betrieben wurden Subventionen gestrichen. Schließlich verfügten die kommunistischen Machthaber, die größeren und leistungsfähigeren Umsiedler-Genossenschaften in Volkseigene Betriebe umzuwandeln. Dabei spielte offenbar auch die Sorge der SED-Spitze eine Rolle, die Umsiedler-Genossenschaften als landsmannschaftlich geschlossene Gruppen könnten ein Eigenleben führen und die auf vollständige Assimilierung der Flüchtlinge und Vertriebenen ausgerichtete Politik behindern.
In der Folge flüchteten viele Glasarbeiter aus der DDR in die Bundesrepublik, wo frühere Gablonzer im bayerischen Neugablonz (Kaufbeuren) seit Kriegsende ebenfalls eine leistungsfähige Produktion aufgebaut hatten. In der Neuheimer Ortschronik ist vermerkt, dass bis zum Bau der Berliner Mauer im Jahre 1961 insgesamt 54 Personen den Ort verlassen haben. Chronist Schmutzer, wie viele Gründungsmitglieder der »Antifa-Umsiedler«-Genossenschaft Mitglied der SED, kommentierte das so: »Sie übten damit Verrat an unserer Republik, schwächten den Arbeitskräftemarkt und stärkten den Wiederaufbau des westdeutschen Monopolkapitals.«
Am 1. Januar 1950, wenige Monate nach Gründung der DDR, wurde aus der Genossenschaft der Volkseigene Betrieb Gablona Schmuckwaren. Das neue Fabrikgebäude wurde zwei Jahre später bezogen. Mit seinen Modeschmuck-Produkten versorgte das zum »Leitbetrieb« aufgewertete Unternehmen über Jahrzehnte nicht nur den heimischen Markt, sondern exportierte seine begehrten Erzeugnisse in mehrere Dutzend Länder. Die Einwohner profitierten von dem erfolgreichen Unternehmen, das sich auch beim Ausbau der Infrastruktur engagierte. Etwa mit einer öffentlichen Bibliothek und einem Schwimmbad. Mit der Währungsunion 1990 geriet Gablona in eine tiefe Krise. Im vereinten Deutschland und im Ausland war das Unternehmen nicht wettbewerbsfähig. Die meisten Mitarbeiter mussten entlassen werden. Einige Beschäftigte führten den Betrieb weiter und stellten auch noch Schmuckwaren her, die im Internet angeboten wurden.
Heute liegt ein Teil des weitläufigen Firmengeländes brach. An den Mauern einstiger Fabrikationsgebäude bröckelt der Putz. »Die brauchen wir eigentlich nicht mehr«, sagt der jetzige Geschäftsführer. »Aber Abriss kostet auch Geld.« Das neben dem Werksgelände gelegenen Schwimmbad hat die Natur zurück erobert. Im ehemaligen Becken wachsen Büsche. Hier ist schon lange niemand mehr geschwommen. Noch prangt am Eingang des Unternehmens der Firmenname: »Gablona Schmuck GmbH«. Doch Schmuckwaren werden hier nicht mehr hergestellt. Die Firma hat sich in einer der Werkshallen auf galvanische Metallveredelung spezialisiert.
Der Journalist und Buchautor Peter Pragal, geboren 1939 in Breslau, war ab 1974 der erste in Ost-Berlin lebende bundesdeutsche Korrespondent. Bis in die Wendezeit Ende 80er/Anfang der 90er Jahre berichtete er für die Süddeutsche Zeitung und den Stern aus der Hauptstadt der DDR und ab 1991 bis 2004 für die Berliner Zeitung über die zusammenwachsende Stadt. Seine Erfahrungen und Erlebnisse schildert er in dem Buch Der geduldete Klassenfeind: Als West-Korrespondent in der DDR. (Osburg Verlag, Berlin, 2008). Über seine familiären Wurzeln und sein Verhältnis zur Heimat berichtet er in Wir sehen uns wieder, mein Schlesierland – Auf der Suche nach Heimat, erschienen 2012 im Piper Verlag, München.
Weitere Fotos des Fotografen Mario Jahn vom heutigen Zustand der Gablona-Fabrik und des Jüterboger Ortsteils Neuheim finden Sie hier.