»Das Böhmen ist ein eigenes Land. Ich bin dort immer gern gewesen.« (Johann Wolfgang von Goethe)
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Böhmen liegt am Meer?

Das tut es nicht und tut es doch. Faktisch wird es von Gebirgen eingerahmt, die zugleich die natürlichen Grenzen zu den benachbarten Regionen bilden. Hierzu gehören das Erzgebirge vor Sachsen im Nordwesten, die Sudeten im Nordosten vor Schlesien, der Böhmerwald vor Bayern im Südwesten, im Südosten die Böhmisch-Mährischen Höhen vor Mähren und im Süden das Mühlviertel und das Waldviertel vor Österreich. Zwischen Böhmen und dem Meer liegen also Berge und Hunderte von Kilometern. Dennoch ist die Poetik, die dieser Ortsbezeichnung innewohnt und die auf eine glückliche, aber unerfüllbare Utopie hinweist, charakteristisch für ein Gebiet, in dem einst Tschechen und Deutsche zusammenlebten, die Chance auf ein gleichberechtigtes Miteinander aber historisch vertan wurde.

Zweivölkerland und Machtzentrum Europas

Der Name Böhmen leitet sich vom keltischen Stamm der Bojer ab, die das Gebiet vom Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. bis um 60 v. Chr. bewohnten. Ab dem 6. Jahrhundert siedelten dort Slawen, darunter der dominierende Stamm der dann namengebenden Čechi. Die Übersetzung für »Böhmen« unterscheidet sich im Tschechischen nicht von der für »Tschechien«. Das Herrscherhaus der Přemysliden übernahm die Macht und erhielt Böhmen und Mähren durch den Kaiser als Reichslehen. Seit dem 13. Jahrhundert siedelten die böhmischen Herrscher Deutsche in den Randgebieten der Region an, aber auch in Gebieten mit überwiegend tschechischer Bevölkerung. Durch die Gegenreformation und die Zentralisierungspolitik der Habsburger wurde der Einfluss der Tschechen zurückgedrängt. Ihre zahlenmäßige Überlegenheit stieg jedoch, was im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend zu Forderungen auch nach politischer Vorherrschaft führte. Die jüdische Bevölkerung Böhmens, die hier seit dem 10. Jahrhundert siedelte, war häufig zweisprachig. Sie stand so einerseits für die böhmische Kultursymbiose, andererseits zwischen den nationalen Gegensätzen. Nach der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik 1918 wurden deutsch besiedelte Gebiete Böhmens von tschechischen Einheiten besetzt. Die Fronten verhärteten sich mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland, die die Sudetendeutschen verstärkt ab 1937 für Propagandazwecke gegen die Tschechen einsetzten und nach dem Münchner Abkommen in ihre Gebiete einmarschierten. 1939 wurde Böhmen Teil des deutschen »Protektorats«, seine sudetendeutschen Teile »Reichsgau«. Nach dem Krieg kam es zur Vertreibung und Aussiedlung der meisten Deutschen aus der Region.

Edle Metalle und Glas, heiße Quellen und rauchende Schlote

Deutsche siedelten zunächst als Kaufleute in Prag und ab dem 12. und 13. Jahrhundert in großer Zahl als Ackerbauern. Sie rodeten die Wälder und machten das Land urbar. Der Bergbau lockte mit der Erschließung neuer Zinn- und Silbergruben seit der Mitte des 15. Jahrhunderts viele Deutsche in das Erzgebirge, aber auch in das Innere Böhmens. Zahlreiche Orte wurden so von Deutschen neu gegründet oder überwiegend deutsch besiedelt. Auch die Glaskunst führte seit dem 16. Jahrhundert zu dieser Entwicklung. Königlich privilegierte Glashütten entstanden vor allem im Adler- und Isergebirge. Gablonz wurde für Glas, später auch für Schmuck weltberühmt. Die überwiegend deutsch besiedelten Städte in Nordböhmen wurden im 19. Jahrhundert zu wichtigen Zentren der Textil- und Papierindustrie sowie der Braunkohlegewinnung. Die nordwestböhmische Stadt Teplitz ist das älteste der böhmischen Kurbäder, deren berühmteste im Egerland zu finden sind.

Kultur aus »böhmischen Dörfern«

»Böhmen hegt in seinem Inneren […] eine reiche dichterische Flora, welche sogar, gemäß den eigentümlich zwiefachen Geschichtselementen ihres Bodens, in doppeltem Dasein, in einem böhmischen und einem deutschen hervortritt.« Was Goethe zur Literatur der Region sagte, gilt ebenso für andere kulturelle Bereiche wie die Baukunst oder die Musik. Wichtig waren auch die ausländischen und jüdischen Einflüsse, die Böhmen zu einem einzigartigen europäischen Geisteszentrum machten. Nicht nur ethnische, sondern auch konfessionelle Gegensätze trugen zur kulturellen Besonderheit der Region bei, die zunächst reformatorisch und seit der Herrschaftsübernahme der Habsburger 1526 zunehmend katholisch-süddeutsch geprägt war. Berühmte deutschsprachige Persönlichkeiten aus dem Land sind der 1805 im Böhmerwald geborene Dichter Adalbert Stifter, der aus Reichenberg stammende Kinderbuchautor Otfried Preußler und der Grafiker Alfred Kubin aus Leitmeritz.

Geschichte und Gegenwart ohne Komplexe

Heute leben in der historischen Region Böhmen um Aussig und Karlsbad die meisten Deutschen. Nicht nur die älteren Angehörigen der deutschen Minderheit sprechen ihre Sprache, auch ihre Enkel sind zum Teil ganz selbstverständlich mit ihr aufgewachsen, auch wenn es zu gemischten Ehen kam und sie sich eher als Tschechen mit deutschen Wurzeln fühlen. Nach 1989 entstanden zunehmend Kontakte zwischen ehemaligen deutschen Bewohnern und ihren Heimatorten. Gemeinsam kümmerten sie sich um den Wiederaufbau zerstörter oder verfallener Baudenkmäler. Das Collegium Bohemicum in Aussig veranstaltet Konferenzen zu Themen der gemeinsamen Geschichte in Böhmen und bereitet eine große Ausstellung zu den Deutschen in den böhmischen Ländern vor. Die tschechische Bürgerinitiative Antikomplex trägt mit Ausstellungen, Schülerprojekten, Publikationen und Medienarbeit zur Beschäftigung mit der gemeinsamen Vergangenheit im ehemaligen Böhmen bei.

Unser Tipp

Die Ausstellung »Verblieben in der Heimat« zeigt Porträts und Interviews mit zehn deutschstämmigen Tschechen aller Altersgruppen. Die unter anderem von der Landesversammlung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien konzipierte Schau war bereits in Berlin und in München zu sehen und soll in weiteren Städten in Deutschland gezeigt werden.

Literatur

Bahlcke, Joachim u. a. (Hg.): Handbuch der historischen Stätten. Böhmen und Mähren. Stuttgart 1998

Brandl, Bruno (Hg.): Liebe zu Böhmen. Ein Land im Spiegel deutschsprachiger Dichtung. Berlin 1990.

Prinz, Friedrich: Böhmen und Mähren. München 1993 (Deutsche Geschichte im Osten Europas).

Rokyta, Hugo: Die Böhmischen Länder: Böhmen. Handbuch der Denkmäler und Gedenkstätten europäischer Kulturbeziehungen in den Böhmischen Ländern. Prag 1997.

Schenk, Hans: Die böhmischen Länder. Bielefeld 1993.

Links

Die Ackermann Gemeinde

Adalbert Stifter Verein
Der Adalbert Stifter Verein erforscht die deutsch-böhmische Kulturgeschichte und fördert den deutsch-tschechischen Kulturaustausch.

Die Bürgerinitiative Antikomplex

Collegium Bohemicum
Die Website des Collegium Bohemicum präsentiert Forschungsergebnisse zur Geschichte des Zusammenlebens von Deutschen und Tschechen in den böhmischen Ländern.

Collegium Carolinum
Das Collegium Carolinum befasst sich mit der Geschichte und Gegenwart Tschechiens und der Slowakei sowie Ostmitteleuropas.

Deutsch-tschechische Presseagentur
Die deutsch-tschechische Presseagentur bietet Journalisten und Privatpersonen Informationen und Nachrichten zur deutsch-tschechischen Region.

Landesversammlung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien

Zeitung der Deutschen in der Tschechischen Republik

Die Seliger Gemeinde