Rede des Brünner Germanisten Dr. Zdeněk Mareček anlässlich der Präsentation seiner tschechischen Übersetzung von Josef Mühlbergers Erzählung Die Knaben und der Fluss (Chlapci a řeka) am 19. Mai 2003 im Österreichischen Kulturforum Prag

 Josef Mühlberger Josef Mühlberger

Von Zdeněk Mareček

Es ist ein gutes Zeichen, dass in Deutschland und Tschechien desselben Autors aus den Reihen der Vertriebenen anlässlich seines 100. Geburtstages gedacht wird und dass das gleiche Buch gleichzeitig auf beiden Seiten der Grenze erscheint. Es ist ebenfalls ein gutes Zeichen, dass das Nachwort zur Neuauflage der Erzählung Die Knaben und der Fluss im Insel-Verlag von Peter Härtling stammt, der durch seine »mährischen« Romane bekannt ist, den 1985 verstorbenen Mühlberger persönlich kannte und an ihm schätzt, dass er nach 1945 unbeirrbar an der Forderung festhielt, »sich nicht gegenseitig die Gemeinheiten, die Verbrechen aufzurechnen«, und schon in der Zeit vor dem Münchner Abkommen im Geiste eines politisch etwas naiven kakanischen Weltbildes sowohl zur tschechischen als auch zur deutschen Politik auf Distanz blieb.

Es ist ein Verdienst des Deutschen Kulturforums östliches Europa und des Lektorats von Tanja Krombach, dass das Buch in dieser Gestalt erscheinen konnte. Unser Dank gilt auch dem Österreichischen Kulturforum Prag, das hier die tschechische Übersetzung des Werkes der Öffentlichkeit vorgestellt werden darf. Es ist vielleicht symbolisch, dass ein Vermittler zwischen Tschechen und Deutschen auf dem österreichischen Boden seinen Weg zu den Lesern antritt. Der gebürtige Trautenauer Josef Mühlberger entstammte einer deutsch-tschechischen Familie, was in der Habsburger Monarchie gar nicht so selten war. Erst später, nach der Zuspitzung der politischen Konflikte während der Ersten Tschechoslowakischen Republik, der Entstehung des Gaus Sudetenland und der Vertreibung nach 1945, erlebte die Familie ein tragisches Schicksal.

Josef Mühlbergers Erzählung Die Knaben und der Fluss erschien 1934 im Insel Verlag Leipzig. Es war ein Jahr nach der Machtergreifung Hitlers und zwei Jahre nach dem Scheitern von Mühlbergers Zeitschriftenprojekt, das unter dem Namen Witiko zwischen 1928 und 1932 versucht hatte, die Kluft zwischen der tschechischen, Prager deutschsprachigen und der sudetendeutschen Literatur zu überbrücken. Mit der Stoffwahl seiner Erzählung – der Geschichte einer Freundschaft zwischen zwei tschechischen Dorfjungen – schwamm Mühlberger gegen den Strom: Er konnte mit seinem apolitischen, rein ästhetischen Ideal kaum mit einem breiteren Echo unter den deutschsprachigen Lesern in der Tschechoslowakei rechnen. Es war die Zeit der Politisierung der deutschen Kultur in der Tschechoslowakei. 1934 wurde z. B. der gesamtstaatliche Bund der Deutschen gegründet, ein Schutzverband, der die früheren Landesorganisationen ablöste, das gesellschaftliche Leben von drei Millionen Deutschen prägte und trotz öffentlicher Erklärungen politische Ziele verfolgte. Das Jahr 1935 brachte dann den Wahlsieg der Sudetendeutschen Partei Konrad Henleins in deutschen Wahlbezirken und für Mühlberger persönlich Angriffe des sudetendeutschen Schriftstellers Wilhelm Pleyer. Er denunzierte Mühlberger – unter anderem aufgrund der Erzählung Die Knaben und der Fluss – als Homosexuellen, einen »deutschschreibenden Tschechen und Freund der Prager jüdischen Autoren«1.

Mit der tschechischen Übersetzung des erfolgreichsten Buches Mühlbergers wird eine Schuld abgetragen. Die politischen Verhältnisse in der Mitte der dreißiger Jahre waren nicht dazu angetan, die Praxis der fast gleichzeitigen Veröffentlichung des Originals und seiner tschechischen Übersetzung fortzusetzen, wie es noch beim ersten Roman Mühlbergers der Fall gewesen war: Sowohl Hus v Kostnici als auch Huss im Konzil erschienen 1931. Die Übersetzerin war Olga Laurinová, geb. Weiss, die Frau Arne Laurins, des Chefredakteurs der Prager Presse. Mühlberger selbst hatte wohl 1934 schon Angst, dass ein allzu reges Interesse der Tschechen für sein Werk seinen vielversprechenden Start auf dem deutschen Buchmarkt hätte beeinträchtigen können. Auf Anraten seines Verlegers Anton Kippenberger brach er sogar die Zusammenarbeit mit dem Prager Tagblatt ab2. Da nach 1936 in Deutschland kein Buch von Mühlberger mehr erscheinen durfte und er auch von der Sudetendeutschen Partei nahestehenden Kreisen im Lande boykottiert wurde, geriet er in große finanzielle Schwierigkeiten. Deshalb nahm er wohl auch im Dezember 1937 den neu gestifteten Herder-Preis der tschechoslowakischen Regierung an, obwohl er ihn mit Rudolf Fuchs teilen musste und annehmen konnte, dass diese Auszeichnung, die ihm gemeinsam mit dem linken Prager jüdischen Dichter und Bezruč-Übersetzer verliehen wurde, in völkischen Kreisen nur als ein weiterer Beweis seiner politischen Unzuverlässigkeit gelten würde.

Die Knaben und der Fluss ist seit 1989 nicht die erste Übersetzung Mühlbergers ins Tschechische. 1999 erschien im Verlag Aula seine methodologisch problematische, jedoch materialreiche Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen. 1900–1939 in der Übersetzung von Veronika Dudková und mit einem Nachwort von Michael Berger. Berger, der Olmützer Germanist Ludvík Václavek, der Leiter des Adalbert-Stifter-Vereins München Peter Becher und die Autorin Tina Stroheker haben auch wesentlich zur Wiederentdeckung Mühlbergers in den neunziger Jahren beigetragen.

Wäre die gemeinsame Wahl der Verlage nicht auf Die Knaben und der Fluss gefallen, wären noch andere Titel in Frage gekommen, die jetzt wohl als Desiderata des Übersetzers betrachtet werden können: die schmale Autobiographie Das Paradies des Herzens. Eine Kindheit in Böhmen aus dem Jahre 1959 oder Mühlbergers letzter Roman Bogumil. Das schuldlose Leben und schlimme Ende des Eduard Klima aus dem Jahre 1980 – die Geschichte eines Mannes aus einer deutsch-tschechischen Familie, dem viel Unrecht im Protektorat und während der Vertreibung widerfährt und der in Amerika stirbt. Da die Titelgestalt eine gespaltene tschechisch-deutsche Identität besitzt, werden die Ereignisse differenzierter dargestellt als in der Erzählung Galgen im Weinberg, die das Leid der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg thematisiert. Die Schrecken des Nazismus und der Vertreibung bilden bei Mühlberger weiterhin parallele Welten, wobei die Verbrechen nicht gegenseitig aufgerechnet werden sollen.

In seiner Autobiographie erwähnt Mühlberger, wie sein Transport nach Württemberg vor der bayerischen Grenze das Heimatdorf seiner Mutter passierte und die Bewohner Steine nach den Waggons mit Vertriebenen warfen. Trotz dieser erschütternden Erlebnisse blieb Mühlberger der tschechischen Literatur treu, obwohl er Autoren vor 1938 eindeutig bevorzugte und die Hoffnungen auf eine schnelle Annäherung zwischen Deutschen und Tschechen während des Prager Frühlings nicht teilte, da für ihn die Grundvoraussetzung hierfür die offene Diskussion über die verdrängten Fragen der Vertreibung waren. Seit den dreißiger Jahren übersetzte Mühlberger systematisch tschechische Lyrik und Prosa. Der in Prag geborene amerikanische Germanist Peter Demetz schätzt vor allem Mühlbergers Übersetzung der Kleinseitner Geschichten von Jan Neruda (1965), von Božena Němcovás Großmutter (1969), der Gedichte von Jiří Wolker und Jiří Orten. Seine Anthologie Linde und Mohn. 100 Gedichte aus 100 Jahren tschechischer Lyrik aus dem Jahre 1964 ergänzte Mühlberger mit einer ausführlichen Einleitung und mit gründlichen Anmerkungen, in denen er (manchmal etwas krampfhaft) nach Parallelen zwischen tschechischer und deutscher Dichtung sucht. Voll von Sympathien für tschechische Autoren einer Poetik, die der Mühlbergerschen verwandt ist, ist auch sein relativ schmaler Band Tschechische Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, die 1970 von der Ackermann-Gemeinde herausgegeben wurde.

Bekenntnishaft geschrieben – trotz des etwas irreführenden Untertitels – ist Mühlbergers Buch über deutsch-tschechische Beziehungen Zwei Völker in Böhmen. Beitrag zu einer nationalen historischen und geistesgeschichtlichen Analyse aus dem Jahre 1973. Sein Credo geht u. a. auf einen Ausspruch von Franz Spina, Mühlbergers Prager Slawistikprofessor und von 1926 bis 1938 Minister in mehreren tschechoslowakischen Regierungen, zurück:

»Wir stellen […] die verschiedenen Muster eines Teppichs dar. Natürlich kann man einen Teppich zerschneiden, aber man kann die eingewebten Blumen nicht voneinander trennen.«

Im Kapitel Urteile, Vorurteile, Fehlurteile versucht Mühlberger sowohl tschechische als auch deutsche Eigenbilder in der Darstellung gemeinsamer Geschichte zu überprüfen. Den Tschechen wirft er einerseits ihre Kollaboration mit den Nationalsozialisten im Protektorat vor, hebt andererseits die mutige Stellungnahmen der Zeitschrift Obzory gegen die unmenschliche Behandlung der Vertriebenen im Herbst 1945 hervor. Die Deutschen erinnert er an die Pläne des Staatsministers Karl Hermann Frank – der als einziger unter den Sudetendeutschen ein so hohes Amt im »Protektorat Böhmen und Mähren« bekleidete –, rassisch unpassende oder politisch unanpassbare Tschechen zu liquidieren bzw. aus Böhmen und Mähren auszusiedeln. Abschließend zitiert er Rudolf Medeks Titelhelden aus dem Stück Oberst Švec aus dem Jahre 1928, der auf die Behauptung des Gemeinen Janda, Frieden, Zusammenleben und Liebe seien wichtiger als ein Sieg oder der Staat, so reagiert: »Solche Jandas gehören umgebracht.« Mühlberger wollte auf der Grundlage der Solidarität der Opfer von nationalistisch motivierten Machtkämpfen neue deutsch-tschechische Beziehungen errichten, die nicht den Sieg, sondern die Versöhnung anstreben. Der tschechischen Ausgabe von Josef Mühlbergers Die Knaben und der Fluss bleibt zu wünschen, dass sie ähnlich gesinnte Leser findet. Steine nachwerfen wird ihr in Tschechien wohl niemand mehr.

1 In Will Vesper (Hrsg.): Die Neue Literatur. Leipzig. Heft 2/1935, S. 109: Pleyer spricht von Mühlberger als einem Sudetendeutschen, dem ausgerechnet die Geschichte »tschechische[r] Jungen aus innertschechischer Landschaft« am Herzen liege, einem Autor, dessen Darstellung einer Knabenfreundschaft nur als »widerlich« und »pervers« bezeichnet werden könne.

2 Am 23. Juli 1934 erkundigte sich Mühlberger, ob Kippenberger seine weitere Mitarbeit am Prager Tagblatt vielleicht missbillige. Mühlberger entschuldigte sich dabei geradezu, Mitarbeiter dieses »ganz links stehenden« Blattes zu sein, und bittet Kippenberger, offen seine Meinung zu sagen. Kippenbergers Antwort lautete: »Ich möchte Ihnen dringend dazu raten, für die Zukunft davon abzusehen.« Mühlberger verspricht zu versuchen, die positive Rezension von Die Knaben und der Fluss im Prager Tagblatt zu verhindern (vgl. Peter Bechers Darstellung der Korrespondenz zwischen Mühlberger und dem Insel-Verlag, in: Josef Mühlberger. Beiträge des Münchner Kolloquiums. München: Adalbert-Stifter-Verein 1989, S. 38–39).

Literaturtipps

Peter Becher (Hrsg.): Josef Mühlberger. Beiträge des Münchner Kolloquiums. München: Adalbert-Stifter-Verein 1989

Susanne Lange-Greve: Leben an Grenzen. Josef Mühlberger 1903–1985. Schwäbisch Gmünd: Einhorn-Verlag 2003

Josef Mühlberger: Die Knaben und der Fluss. Erzählung. Mit einem Nachwort von Peter Härtling. Frankfurt a/M: Insel Verlag 2003

Tina Stroheker: Vermessung einer Distanz. Aufzeichnungen in der Umgebung Josef Mühlbergers. Eislingen: eislinger edition 2003

Tina Stroheker: Mein Kapitel Mühlberger. Erinnerungen an einen Autor. Eislingen: eislinger edition 1999

Josef Mühlberger: Chlapci a řeka (Die Knaben und der Fluss)
Das berühmteste Prosawerk des deutschböhmischen Schriftstellers zum ersten Mal in tschechischer Übersetzung
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