Winfried Lipscher
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Es gab einmal Ostpreußen, eine deutsche Provinz, die bis Königsberg und Memel reichte, und die nach 1945 von der Landkarte Europas verschwand. Auf Nostalgie gestützt existierte sie weiter in der Erinnerung von Menschen, die von hier stammten und in den Köpfen eines Teils von deutschen Politikern.

Das ehemalige Ostpreußen ist heute auf drei Staaten aufgeteilt: Polen, Russland und Litauen.

Das heutige Gebiet von Ermland und Masuren war ein Teil Ostpreußens (Ermland katholisch, Masuren evangelisch). Dieses Gebiet hat unter politischem Blickwinkel heute nichts mehr mit dem früheren Ostpreußen zu tun. Geblieben ist aber die Geschichte, die sich nicht ausradieren lässt. Die Polen, die heute hier leben, müssen diese Geschichte lernen, und offiziell können sie dies erst seit 1990. Die Polen, die heute in einem Atemzug sagen: Ermland und Masuren, wissen wenig darüber, weshalb sie diese Begriffe auf diese Weise gebrauchen.

Lässt sich das ehemalige Ostpreußen mit Ermland und Masuren von heute und dem Kaliningrader Gebiet sowie Kleinlitauen (Memel) in Einklang bringen? Einen solchen Versuch hat man im Rahmen der Feierlichkeiten zum 300. Jahrestag Preußens in den Tagen vom 18. bis 21. Oktober 2001 in Potsdam mit dem Thema »Preußens vergessene Hälfte« gemacht. Natürlich geht es hierbei nicht um die mathematische Hälfte eines größeren Ganzen. Die Veranstaltung beeindruckte: vier Tage lang gab es Vorträge, Diskussionen, Ausstellungen, Konzerte. Die Frequenz war riesig, das Interesse sehr groß. Vergegenwärtigen muß man sich dabei, dass dies alles in Potsdam stattfand, in der Hauptstadt Preußens, wo zu DDR-Zeiten Walter Ulbricht die preußische Kultur systematisch zerstören ließ. Und plötzlich erschienen bei den einzelnen Veranstaltungen Menschen, die aus Ostpreußen stammten und zuvor keinerlei Möglichkeit hatten, sich zu diesem Thema zu äußern. Ein Beispiel dafür ist die Schriftstellerin Elisabeth Schulz-Semrau, der es in der DDR gelungen war, in den achtziger Jahren ein Buch mit dem Titel »Die Suche nach Karalautschi« zu veröffentlichen. Die Zensoren in der DDR wußten nicht, daß Karalautschi der litauische Name für Königsberg ist, so dass auf diese Weise das einzige Buch in der DDR über Königsberg erscheinen konnte, von wo die Autorin selbst stammt.

Ansatzpunkt zu der Veranstaltung in Potsdam war das Buch von Winfried Lipscher und Kazimierz Brakoniecki »Meiner Heimat Gesicht«, das den früheren und jetzigen literarisch-kulturellen Reichtum des ehemaligen und gegenwärtigen Gebietes von Ostpreußen aufzeigt, d.h. den deutschen, polnischen, russischen und litauischen. In diesen Sprachen ist auch das Buch erschienen. Auf Polnisch heißt es »Borussia. Ziemia i Ludzie« (Borussia. Land und Leute).

Wie können wir uns dieser Sache nähern? Wie wäre die ehemalige preussische Kultur, die bei den Polen aus verständlichen Gründen schlechte Assoziationen weckt, mit der Gegenwart in vier Sprachen und Kulturen in Einklang zu bringen? Wer auch nur ein wenig das polnische Gebiet von Ermland und Masuren touristisch aus eigener Anschauung sowie den Kaliningrader Bezirk und das Gebiet um Klajpeda (Memel) kennt, der wird sicher sagen, dass dies nicht leicht zu machen sei.

Kazimierz Brakoniecki hat in seiner Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung »Die Atlantis des Nordens« in Potsdam gesagt:

»Wie kann es uns gelingen, einen neuen, offenen, dialogführenden Humanismus zu schaffen, der sich seiner eigenen Werte nicht beraubt, der die Kultur des anderen achtet, der nicht aggressiv ist, der kreativ und friedfertig reagiert auf die Herausforderungen der sich verändernden Welt, die sich heute erneut als so dramatisch erweist?«

Ja, das ist die Frage, auf die wir »kreativ und friedfertig« antworten müssen. Und darum ging es in Potsdam. Den Rahmen der Veranstaltung kann man durch die Titel von Vorträgen und Diskussionen abstecken: »Zwischen gestern und morgen. Spurensuche in einem verschwiegenen Land«, »Ostpreußen – Funktion und Wirkung eines literarischen Mythos«, »Grenzgänger an der Memel. Die litauische Literatur Ostpreußens und ihre Schicksale«, »Eine deutsche Vergangenheit, eine russische Gegenwart und eine menschliche Zukunft«. So oder ähnlich lauteten die Themen.

Die hier genannten Themen bildeten die Grundlage für eine differenzierte, sachliche und nur in wenigen Fällen kontroverse Diskussion, in der im Prinzip versucht wurde, auf die von Kazimierz Brakoniecki aufgeworfenen Fragen zu antworten. Zwar wurde über den Terrorismus nicht diskutiert, jedoch war allen Teilnehmern bewusst, dass nach dem 11. September die »wiederum so dramatische Welt« für uns eine Herausforderung darstellt, um wenigstens am Beispiel der Geschichte Preußens und des früheren Ostpreußen ein gemeinsames friedliches Europa anzustreben. Die Menschen in dem heute dreigeteilten ehemaligen deutschen Ostpreußen (Polen, Russen, Litauer) sind sich dessen bewusst, daß sie, seit sie miteinander ohne ideologische Barrieren umgehen können, ihren eigenen Beitrag dazu leisten, damit die Welt weniger dramatisch ist. Und für die Russen im Kaliningrader Gebiet ist das sehr viel, denn ihnen fällt es doch wohl am schwersten, die sich in Europa vollziehenden gewaltigen Veränderungen zu begreifen, zumal ihre eigene Zukunft ziemlich ungewiss ist. Die Russen verstehen von allen am wenigsten die Vergangenheit dieses Landes, und trotzdem sind sie bemüht, sich in die Suche nach einer neuen Identität einzubinden.

Wie kann man zu dieser Identität vordringen, sie gestalten? Die nationale und kommunistische Propaganda in Polen trichterte den Menschen ein, das Land sei wiedergewonnen worden. Nur, wenn man erneut in sein wiedergewonnenes Land zurückkehrt, warum zerstört man es bei der Inbesitznahme? Sofern dieses Land angestammt polnisch war, hätten die Neuankömmlinge sich darüber freuen müssen, daß sie wieder bei sich zu Hause waren. Aber so war es nicht. Denn in Wirklichkeit war dieses Land zuvor nie polnisch, es war aber polnisches Lehen, nur das Ermland war eine stärkere polnische Einheit. Bei Ostpreußen muß man endlich aufhören, von einem wiedergewonnenen Gebiet zu sprechen. Und was ist mit dem Kaliningrader Gebiet? Sind dorthin die Russen womöglich auch in ihr angestammtes Gebiet zurückgekehrt? Natürlich nicht. Wir wissen doch alle, wie es war: Nazideutschland musste für den entfesselten und verlorenen Krieg bezahlen. Das ist alles. Man sollte keine Klimmzüge machen.

Bei der Herausgabe des Buches »Meiner Heimat Gesicht« war ich mir durchaus im klaren, dass es sich um etwas grundlegend Neues handeln müsse, etwas, was Zukunft eröffnet. Wir hatten schon genug literarische Konserven, mindestens in deutscher und polnischer Sprache, wo jeder das Gebiet für sich als Mutterland reklamierte.

Was weiter? Freigelegt bis zum letzten Dorf ist nun durch »Borussia« jegliche Geschichte und jeder deutsche Friedhof. Die Erde birgt keine Geheimnisse und Überraschungen mehr. Wie sollten wir nun umgehen mit dieser »kopernikanischen Wende«, wie ich einst den Zusammenbruch des Kommunismus und der Berliner Mauer genannt habe? Ich habe für mich persönlich bereits die Entscheidung getroffen durch meine Mitgliedschaft bei »Borussia« und dazu ausgeführt:

»Ich wäre ein rückständiger ermländischer Provinzionalist, wollte ich mich jener Sache verschließen und der Einladung zum Mittmachen nicht folgen. Ja, auf diese Weise die Heimat zurückgewinnen und nach Europa einbringen, das macht Sinn. Was vergangen, ja abgestorben war, erwacht nun zu einem neuen Leben...«

Und so schließt sich für mich der Kreis und kehrt zu meiner Kindheit zurück

Gut. Und weiter? Was haben wir einander zu sagen, jetzt, z.B. zum Thema Vertreibung?

Meine ganz persönliche Überlegung dazu ist folgende: Die Vertreibung war unumgänglich. Wenn Hitler den Krieg nicht angezettelt hätte, wären wir womöglich heute noch unter der Herrschaft seiner Ideologie. Nicht auszudenken! Die Deutschen würden zwar weiterhin die Bewohner Ostpreußens sein, aber sie wären vielleicht extreme Nazis oder antipolnisch eingestellt. So gesehen, war der Krieg ein Beitrag zur Beseitigung des Naziregimes. Er hat uns allen die Augen was das verbrecherische Potential des Dritten Reiches angeht, geöffnet. Was sollen wir einander dazu sagen? Als Deutscher sage ich schlicht und einfach: Es ist schade, dass wir die Gebiete verloren haben, aber wenn wir sie heute noch unter der Naziideologie besäßen, wäre es noch schlimmer. Wir verharrten womöglich in Ostpreußen wie auf einer Insel und wüssten nicht viel über unsere Nachbarn. Um den Preis des Verlustes dieses Landes haben wir die Freundschaft mit den Polen gewonnen. Ist das nicht mehr als der Besitz des Landes? Mehr noch: Die deutschen katholischen Ermländer kamen infolge der Vertreibung nach Westen und fanden sich dort inmitten einer evangelischen Bevölkerung wieder, z.B. in Schleswig-Holstein. Das waren die ersten Keime eines ökumenischen Zusammenlebens, noch bevor Papst Johannes XXIII. das ökumenische Konzil verkündete. Die Menschen lernten das Miteinander von Grund auf. Und die Tatsache, daß sie Christen waren, half ihnen dabei, die Zeichen der Zeit zu begreifen. So verstanden war die Vertreibung ein Zeichen zur ökumenischen Annäherung, wenngleich ich mir bewusst bin, dass man so nur aus der zeitlichen Distanz argumentieren kann.

Und was sagen wir einander heute? Die kopernikanische Wende fand vor 12 Jahren statt. Dadurch wurde eine Perspektive eröffnet, die es ohne den zweiten Weltkrieg nicht geben würde: die Einigung Europas, das Zusammensein von Deutschen und Polen in denselben europäischen Strukturen und der NATO. Und das ist die Botschaft unseres Buches und solcher Veranstaltungen wie in Potsdam: Auf der Umlaufbahn des neuen kopernikanischen Systems bewegen sich gleichberechtigte Staaten: Polen, Deutschland, Tschechien, Litauen usw. Ist das nicht eine friedliche Revolution? Und hier meldet sich die Regionalität Europas zu Wort? Oder wäre etwa ohne diesen leider höllischen Krieg das Bewußtsein vorhanden, dass die Regionalität ein Gut darstellt? Am europäischen Himmel bewegen sich heute Staaten, die es überhaupt nicht mehr gegeben hätte. Man verdächtige mich bitte nicht, dass ich den Krieg befürworte, nur für mich als Theologen gibt es auch so etwas wie eine felix culpa, eine glückliche Schuld. Vielleicht hat uns Gott diesen Krieg aufgegeben, damit wir verstehen, was Sache ist. Denn es steht außer Zweifel, dass es ohne Hitler und seinen Krieg heute das sich einende Europa nicht geben würde. Hitler hätte alles getan, um die Völker zu entzweien.

Zu kommunistischer Zeit durften in Polen die alten deutschen Ortsbezeichnungen nicht benutzt werden, z.B. Allenstein, Frauenburg, oder Rastenburg und Sensburg. Heute sollte das niemanden mehr nerven, denn es ist sowieso klar, dass es diese Orte nicht mehr gibt. Es gibt dagegen Olsztyn und Frombork, es gibt Kętrzyn und Mrągowo, wenngleich Kętrzyn überhaupt keine historische Bezeichnung ist, sondern von Wojciech Kętrzynski abgeleitet wurde, der eigentlich Adalbert von Winkler hieß und nur schlecht polnisch konnte. Erst als er seine polnischen Wurzeln entdeckte, wurde er zum polnischen Patrioten, der seine Gedichte aber auf deutsch schrieb. Was sollen wir einander sagen? Vor allem die Wahrheit, denn nur sie wird uns frei machen (Joh 8,32).

Die Literatur ist eine gute Quelle, um zur Wahrheit vorzudringen. Sie spiegelte immer die Seele der Menschen wieder, die in diesem Gebiet lebten. Literatur ist ein Bindeglied, das Menschen verbinden kann. Und das tut sie jetzt auch. Das hat die Veranstaltung in Potsdam gezeigt. Geschichte und Kultur dieser Gebiete sind sehr reichhaltig. Die Literatur belegt das. Die Schriftsteller jeder Epoche haben uns dies in verschiedenen Sprachen gesagt. Das betrifft die bekannte Autorin Agnes Miegel aus Königsberg mit ihrem bewegenden Gedicht »Abschied von Königsberg«, und das betrifft auch den russischen Schriftsteller Sergiej Pogonjajew aus Kaliningrad mit seinem Gedicht »Friedhof im Jahre 1947«. Königsberg und Kaliningrad sind zwar ein und derselbe geografische Punkt, aber die Wahrheit über diese Stadt ist gänzlich anders im Jahre 1945 und 1947. Ähnliches kann man über andere Schriftsteller und Dichter sagen. Kazimierz Brakoniecki ist kein Lyriker aus Allenstein, sondern aus Olsztyn. Für ihn ist das Olsztyn der Nachkriegszeit Heimat, sein kleines Vaterland. Andererseits wird Siegfried Lenz immer ein deutscher Schriftsteller aus Masuren bleiben und Erwin Kruk ein polnischer. Trotz der furchtbaren Erlebnisse im Kriege und in der Nachkriegszeit hat die Literatur für uns einen großen Reichtum bewahrt. Die Literatur dieses Raumes stirbt nicht ab, sie geht weiter. Und sie antwortet auf die Frage: wer bin ich, woher komme ich, warum bin ich gerade hier?

Die Botschaft unseres Buches ist überhaupt nicht bescheiden. Wir wollen in diesem unseren Europa ein Beispiel für andere europäische Regionen sein. Das kann ganz in der Nähe sein, im polnisch-deutsch-tschechischen Grenzgebiet oder im polnisch-ukrainischen Gebiet, aber auch z.B. auf dem Balkan, im ehemaligen Jugoslawien.

Wir haben uns also eine Menge zu sagen im europäischen Kontext. Und in Bezug auf Ostpreußen? Allein schon der Name kann für die Polen eine Belastung sein. Deshalb ist ja auch »Borussia« und nicht »Ost Prussia« entstanden. »Borussia« reicht auch viel weiter zurück als »Ostpreußen«. Das zeigt uns der erste Text des Buches, nämlich das »Vater unser« in der verschwundenen Sprache der Pruzzen. »Preussen« oder »Ostpreußen« sind erst spätere Namen für dieses Gebiet. Und deshalb hat diesen Namen auch niemand mehr zu fürchten. Bester Beweis dafür war in Potsdam die Ausstellung »Die Atlantis des Nordens«. Das Wort Atlantis besagt, dass etwas unwiederbringlich der Vergangenheit angehört. Ja, aber es strahlt in die Gegenwart aus, in Richtung Zukunft. Man muß die Vergangenheit kennen lernen, um die Zukunft gestalten zu können. Brakoniecki sagte bei der Eröffnung der Ausstellung: »Ein solches Kennenlernen dient sowohl der Gestaltung meiner eigenen privaten als auch der gemeinsamen deutsch-polnisch-europäischen Erinnerung, aber auch der Schaffung einer völlig neuen deutsch-polnisch-europäischen Zukunft. Es muss um eine Zukunft gehen, bei der die gute, weil friedfertige und kulturkreierende Erinnerung beiträgt zur Errichtung einer europäischen Zivilisation und Kultur, die auf einer humanistischen und nicht aggressiven Vision der Welt basiert. Mein Verstand sagt mir, dass das eine Utopie ist, jedoch das Herz diktiert mir, dass wir dies ständig versuchen müssen, weil darin die Größe des Menschen begründet liegt, die das Böse überwindet und das Gute schafft.« Als Theologe kann ich nur hinzufügen: das ist christlich, im Einklang mit dem Evangelium.

Nun ist auch die Zeit gekommen, da sich die Kirchen, besonders auch in Polen, in die Diskussion zum Thema Rettung der allgemeinmenschlichen, christlichen Werte unseres Kontinents zwecks europäischer Integration und Beitritt neuer Mitglieder zur EU eingebunden haben. Die Zeit drängt, denn sonst könnte Europa in einer nicht zu fernen Zukunft zur Atlantis werden.

Ja, Europa könnte zu einer Atlantis werden, wenn wir freiwillig auf unsere griechischen und jüdisch-christlichen Werte verzichten und alle Werte auf einen nicht näher definierten laizistischen Humanismus reduzieren.

Wir müssen, selbst wenn wir keine Christen sind, unsere Kulturen, die einen europäischen Urgrund haben, vereinigen. Auf diesem kleinen Stückchen Erde, das einst Ostpreußen hieß, begegnen sich heute die Kulturen der alten Pruzzen, des Deutschen Ordens, des preußischen und deutschen Staates mit der Kultur aus dem polnischen Wilna, aus Litauen, Russland, der Ukraine und aus verschiedenen christlichen Konfessionen. »Borussia« ist für alle gleichsam die Klammer, sie möchte das alles zusammenbringen. Ihr schwebt eine Gesellschaft vor, die sich der Tatsache bewußt wäre, daß sie ein altes Erbe antritt und verwaltet und dieses mit seiner aus dem Osten nach dem Kriege mitgebrachten Kultur verbinden sollte.

Treffen wir uns also, und sagen wir einander die Wahrheit über unsere Heimat, die uns geradewegs zu den Wurzeln Europas führt: zu den griechischen, jüdischen, christlichen, humanistischen Wurzeln. Vielleicht können wir auf diese Weise verhindern, dass Europa zu einer Atlantis wird.