Orte, Texte, Zeichen
Dr. Dietmar Albrecht

Beitrag zum Internationalen Colloquium »Ein Zentrum für Vertreibung?« vom 14. – 16.03.2003 in der Akademie Sankelmark

»Groß ist die Kraft des Gedächtnisses, das Orten innewohnt, und mit gutem Grund gründet die Kunst des Erinnerns auf sie.«

Von Marcus Pupius Piso sind diese Worte überliefert.[1] Er unterhält sich mit Cicero während eines Nachmittagsspaziergangs auf den Wegen der Akademie vor den Toren Athens. Das war um das Jahr 80 vor unserer Zeit.

Walter Benjamin hat eines seiner »Denkbilder« unter den Titel »Ausgraben und Erinnern« gestellt. Gedächtnis ist ihm Medium für die Erkundung des Vergangenen, Medium des Erlebten wie das Erdreich das Medium ist, in dem die alten Städte verschüttet liegen:

»Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muss sich verhalten wie ein Mann, der gräbt. Vor allem darf er sich nicht scheuen, immer wieder auf einen und denselben Sachverhalt zurückzukommen - ihn auszustreuen wie man Erde ausstreut, ihn umzuwühlen, wie man Erdreich umwühlt.«[2]

Marcel Proust hat, auf der Suche nach der verlorenen Zeit, die Kunst des Erinnerns auf die Spitze getrieben:

»Wenn von einer weit zurückliegenden Vergangenheit nichts mehr existiert, nach dem Tod der Menschen und dem Untergang der Dinge, dann verharren als einzige, zarter, aber dauerhafter, substanzloser, beständiger und treuer der Geruch und der Geschmack, um sich wie Seelen noch lange zu erinnern, um zu warten, zu hoffen, um über den Trümmern alles übrigen auf ihrem beinahe unfassbaren Tröpfchen, ohne nachzugeben, das unermessliche Gebäude der Erinnerung zu tragen.«[3]

Und so steigen auf einer Woge des Glücks in ihm empor, an einem Sonntagmorgen in Combray, beim Genuss eines Stückchens »petite Madeleine« in Lindenblütentee getaucht –

»alle Blumen unseres Gartens und die aus dem Park von Swann und die Seerosen auf der Vivonne und all die Leute aus dem Dorf und ihre kleinen Häuser und die Kirche und ganz Combray und seine Umgebung, all das was nun Form und Festigkeit annahm, Stadt und Gärten, stieg auf aus meiner Tasse Tee.«[4]

Die Vergangenheit überlebt uns, sie ist das Dauernde. »Schreibe!« endet Johann Gottfried Herder den fünfundneunzigsten seiner Briefe zu Beförderung der Humanität,

»,Schreibe!' sprach jene Stimme und der Prophet antwortete: für wen? Die Stimme sprach: ,schreibe für die Toten! Für die, die du in der Vorwelt lieb hast.' - ,Werden sie mich lesen?' - ,Ja: denn sie kommen zurück, als Nachwelt.'«[5]

Gedächtnisorte der Geschichte, der Literatur, der Kunst erleichtern uns das Erinnern. Sie fordern uns heraus, setzen unser Denken in Bewegung. Sie machen uns vertraut mit einer Landschaft, einer Region, ihren Menschen und ihrer Kultur. An solchen Orten des Erinnerns verdichtet sich der Raum zur Zeit. An solche Erinnerung wird appelliert, um zu heilen, zu beschuldigen, zu rechtfertigen. Sie stiftet individuelles und kollektives Selbstbewusstsein. Sie ist das Fundament unserer Zukunft.

»Daß das Gedächtnis das Vergangene doch fassen könnte in die Formen, mit denen wir die Wirklichkeit einteilen!«

Uwe Johnson sieht die Stücke der Vergangenheit,

»Eigentum durch Anwesenheit«, »abweisend, unnahbar, stumm und verlockend wie eine mächtige graue Katze hinter Fensterscheiben, sehr tief von unten gesehen wie mit Kinderaugen«[6].

Das schreibt Johnson ziemlich zu Beginn der Jahrestage. Margret Boveri hilft ihm das Gedächtnis dingfest machen, schenkt Johnson die »Katze Erinnerung«. Der stellt sie aufs Parkett des Wohnzimmers an der Marine Parade.[7]

Die Arbeit der Academia Baltica ist eine Übung gegen das Vergessen. Die Gedächtnisorte, die ich in die Erinnerung rufen will, sind Mosaiksteinchen unserer Arbeit. Sie fügen sich zu einer Erinnerungslandschaft in Raum und Zeit und sind lebendiger, nachhaltiger, menschlicher als jeder zentralisierte und institutionalisierte Gedächtnisort.

Ein Sommerhaus über dem Haff

Thomas Mann verbrachte nur wenige Sommer in Nidden auf der Kurischen Nehrung – ihrem litauischen Teil. Die deutschen Nazis jenseits der nahen Grenze hatten ihm sein Tusculum verdorben. Doch sein Haus auf dem Schwiegermutterberg hat die Aura des großen Bildungsbürgers und Humanisten, des Europäers und Weltbürgers bewahrt. So bescheiden es ist, so abgeschieden seine Lage, so sehr strahlen Leben und Werk seines Sommergastes über Nidden und die Nehrung hinaus – nach Litauen, ins Preußenland und hinaus in den Ostseeraum.

Das Thomas-Mann-Haus in Nidden ist heute nicht nur ein Brennpunkt, vielleicht der Brennpunkt deutsch-litauischer kultureller Beziehungen und ein Ort neuer Begegnung und Nachbarschaft, der auch für deutsche und deutschsprachige Traditionen steht.[8] Das Thomas-Mann-Haus ist für Litauen ein Ort der Weltoffenheit und des Weltbürgertums und ein Gegenpol zu Engstirnigkeit und Intoleranz.

In seinem Sommerhaus hat Thomas Mann den zweiten Band seiner Josephsgeschichten beendet und den dritten Band begonnen. Tief aus dem Brunnen der Vergangenheit fördern die Josephsgeschichten unsere Gegenwart und unsere Zukunft.

• Joseph hatte seine Heimat verloren und die Wärme seiner Familie. Er kämpfte um sein Überleben, um neue Identität, ohne Besitz, ohne Hergebrachtes, distanziert und neugierig und lächelnd. Ein Unfreier im Ägypterland, fühlte er sich frei.

• Seine Freiheit, seine Distanz, seine Unbeschwertheit gaben Joseph die Fähigkeit, Träume zu deuten. Joseph wusste zu raten, Rat zu geben. Er hatte die klügeren, die kühnen Ideen. Sein Denken half der Zeit und ihren Nöten. Während seine Umwelt der Zeit nachlief, war Joseph seiner Zeit voraus, deutete seiner Zeit die Träume, lieferte ihr realistische und praktikable Prognosen, wurde seiner Zeit ein Helfer in der Not.

• Und Joseph lebte von Toleranz. Toleranz gehörte in Ägypten zum guten Ton. Das Ägypterland konnte sich Toleranz leisten, in Grenzen. Joseph nutzte sie. Doch unter dem Firnis der Toleranz glomm auch der Hass auf das Fremde. Neben der Fraktion des Sonnengottes, die sich in Toleranz gefiel, stand die Fraktion der Konkurrenz, heilig-streng, die beim Angestammten harrte. Joseph stürzte, und er half sich wieder hoch. Josephs Talent zu praktischer Utopie hat letzten Endes triumphiert.

Kleine Heimat Kaschubei

Geschichte verfährt grob und lakonisch:

»Zuerst kamen die Rugier, dann kamen die Goten und Gepiden, sodann die Kaschuben, von denen Oskar in direkter Linie abstammt. Bald darauf schickten die Polen den Adalbert von Prag. Der kam mit dem Kreuz und wurde von Kaschuben oder Pruzzen mit der Axt erschlagen. Das geschah in einem Fischerdorf, und das Dorf hieß Gyddanyzc. Aus Gyddanyzc machte man Danczik, aus Danzcik wurde Dantzig, das sich später Danzig schrieb, und heute heißt Danzig Gdansk.«[9]

Derart summiert Günter Grass die Geschichte Danzigs und der Kaschubei, einem der Zwischen-Räume an den Ufern der Ostsee. In der Blechtrommel von 1959 ruft Grass Herkunft ins Gedächtnis, Erinnerung, die er nicht vergeben und nicht vergessen kann:

»Ich wußte, daß das weg ist: Danzig. Da war ein Vakuum. Eine Unruhe und ein Ahnen: das wird mir fehlen. Bei mir war sehr früh die politische Erkenntnis da, daß das auf begründete Art und Weise verloren ist durch deutsche Schuld. Das ist im 20. Jahrhundert preisgegeben worden durch eine verbrecherische Politik, die getragen wurde von den Deutschen. Aber damit, daß das alles geographisch und politisch verloren war, war nicht gesagt, daß es ganz und gar weg sein mußte. Das war auch ein Antrieb, mir zumindest literarisch, mir schreibend das wiederherzustellen, was verloren war.«[10]

Grass macht sich an die Arbeit. Stadt und Land sind ihm im Gedächtnis. Und schließlich steht er in der Wohnküche seiner kaschubischen Großtante Anna. Erst als Grass ihr seinen Pass zeigt, glaubt sie ihm:

»Nu Ginterchen, biss abä groß jeworden.«

Dort bleibt Grass einige Zeit und hört zu.[11] Grass überliefert einen weiteren Spruch der Großtante Anna, der viel Weisheit und viel Heimat birgt und uns weglockt von Berlin:

»Ich weiß, Ginterchen, em Westen is besser. Aber em Osten is scheener.«

Danzig ist Vorort der Kaschuben. Die kommen wie die Anna Koljaiczek vom Lande, haben kleine Pachthöfe mit Hühnern, einer Kuh, zwei Schweinen, einige Morgen Kartoffelacker, etwas Gerste und Roggen, ein paar Apfelbäume. Das reicht niemals ganz. So verdienen die Pächter ein Zubrot im Gewerbe, in der Ziegelei, oder sie ziehen in die Stadt, werden städtische Kaschuben. Aus ländlichem Proletariat werden Kleinbürger, die deutsch sprechen und Zweizimmerwohnungen bekommen mit winziger Küche und dem Klo auf dem Treppenabsatz für vier Mietparteien - wie Familie Grass in Danzig-Langfuhr/Gdansk-Wrzeszcz. Ihre Konfession verrät sie. Evangelisch sind die Deutschen, katholisch die Kaschuben. Kleinbürgerlichkeit verbindet beide. Eingeklemmt zwischen Pommern und Danzig, zwischen Deutschen und Polen, leben die Kaschuben ländlich, praktisch und ein wenig schlitzohrig wie alle kleinen Völker unter den großen, außerhalb der Zeit und unbestimmbar, eine Art von Ur-Volk, das den politischen Wahnsinn der umgebenden Völker überlebt - ihre Kriege und Fluchten, ihre Vertreibungen und Optionen.

»So isses nu mal mit de Kaschuben, Oskarchen,«

klagt die kaschubische Großtante Anna Koljaiczek,

»die trefft es immer am Kopp. Aber ihr werd ja nun wägjehn nach drieben, wo besser is, und nur de Oma wird blaiben. Denn mit de Kaschuben kann man nich kaine Umzüge machen, die missen immer dablaiben und Koppchen hinhalten, damit de anderen drauftäppern können, weil unserains nich richtich polnisch is und nich richtig deitsch jenug, und wenn man Kaschub is, das raicht weder de Deitschen noch de Pollacken. De wollen es immer genau haben!«[12]

Unter den vier Röcken der Anna Koljaiczek beginnt alles. Die kaschubischen Röcke der Koljaiczek sind der Fluchtpunkt aus der Welt. Sie bedeuten Paradies und Heimat, Geburt, Liebe, Tod, Rückkehr ins Selbstbewusstsein, Einkehr zum Ich, mala ojczyzna Kaszubów.[13]

Und die Koljaiczek kann uns ein weiteres lehren: Wahrheit ist stets relativ und von niemandem und nimmer gepachtet. Wahrheit finden wir, mit Dietrich Bonhoeffer, in »brüderlichem Dialog«. Bonhoeffer, der in schlimmer Zeit für sein Predigerseminar Zuflucht suchte in Pfarrhäusern Hinterpommerns, wurde für derart verkündete Wahrheit ermordet, von deutscher Hand.

Smålands Auswanderer

Mit den westeuropäischen Rheinlanden teilt der Ostseeraum die wunden Territorien des vergangenen Jahrhunderts. Doch anders als im Westen haben Aussiedlung, Flucht, Vertreibung und Deportationen ganze Landstriche von Karelien bis Pommern entvölkert, neu bevölkert, blutig bereinigt - eine Völkerwanderung von einer kulturell noch kaum bewältigten Dimension. Hundert Jahre zuvor begann eine andere Vertreibung ähnlicher Dimension, eine Flucht aus Armut und Not in die Ferne.

Von Vissefjärda nordwestwärts Richtung Lessebo und Växjö erreicht die Straße über Långasjö und Åkerby den Kirchspielsort Ljuder inmitten des schwedischen Småland. Seine Kirche ist wie allerorten das Wohnzimmer der Gemeinde; dazu der Friedhof, das Pfarrhaus, ein Kotten grasgedeckt, verlassen und samt allem drinnen und drum als Heimatmuseum bewahrt, ein paar Häuser, zwei oder drei Höfe.

Aus Ljuder wandert August Nikolaus Mård um 1865 nach Mecklenburg aus, um sich dort eine Schiffspassage nach Australien zu verdienen. Mård bleibt in Mecklenburg und Pommern, wird sich Johnson nennen und zum Großvater Uwe Johnsons werden.[14]

Die Bauern aus Ljuder stammen aus einem Geschlecht, das seit tausend Jahren und mehr den Boden von Småland bestellt. Ihre Höfe sind eine Welt für sich, sich selbst genug, niedrig und grau, unter Dächern aus Torf und Birkenrinde. In ihren vier Wänden aus grob behauenen Kiefernstämmen feiern sie Hochzeit, Taufe und Tod. Ihr Leben fließt ruhig im Ring der Jahreszeiten. Erst die neuen Kräfte des neunzehnten Jahrhunderts sprengen die hergebrachte Ordnung. Eine fremde Welt rückt näher. Der neue Erdteil im Westen verheißt Land und Freiheit und lockt die Kühnsten unter jenen fort, denen ihr Los in der Heimat unerträglich wird.

In seiner Romantetralogie von den Auswanderern, erschienen zwischen 1949 und 1959, erzählt Vilhelm Moberg, der selbst in der Nachbarschaft aufwächst, von den ersten der Bauern aus Ljuder, die hundert Jahre zuvor nach Amerika ziehen. Sie wissen nicht, dass ihnen ein Fünftel des schwedischen Volkes folgen wird.[15] Von 1815 bis 1900 wächst Schwedens Bevölkerung von zwei auf fünf Millionen. Zugleich verlassen zwischen 1840 und 1900 über achthunderttausend Schweden ihre Heimat, um in Amerika oder anderswo in Übersee mehr Ackerland zu bestellen, als im Königreich zu verteilen ist.

So wie die Auswanderer aus dem Norden Europas fortziehen ins gelobte Land, so ziehen die Überzähligen und Zukurzgekommenen fort aus Finnland und den russischen Ostseeprovinzen, aus Wolhynien und Galizien, aus Pommern und aus Mecklenburg. Not und Elend vertreiben die Menschen. Auch sie leben fort im Gedächtnis von Zeit und Raum.

Die Daheimgebliebenen haben an der Straßenkreuzung in Åkerby, eine Viertelstunde vom Kirchort Ljuder auf dem Weg zum Auswandererhafen Karlshamn, ihren Landsleuten einen Gedenkstein gesetzt, einen Findling, von Grün umgeben. »Pflege, bewahre und achte deine Heimat solange wie du auf Erden weilst« steht auf der einen Seite geschrieben, dazu eine Karte von Ljuder aus dem Jahr vor dem ersten Zug nach Amerika. Die Rückseite des Steins vermerkt: »Hier an der Straßenkreuzung in Åkerby begann für viele die Reise nach dem Lande im Westen. Für den Traum von Freiheit und Wohlstand verließen sie ihre Heimat. Ljuder aber behielten sie in ihrem Herzen.«

An die große Auswanderung aus Not und Elend des 19. Jahrhunderts erinnert, zu unserem Entsetzen, auch ein anderer Ort. In Hartlebens »Illustriertem Führer durch Galizien» von 1914 lesen wir: »Oswiecim [das ist Auschwitz] ist ein Sammelpunkt für die galizische Emigration nach Amerika, sowie für die Saisonwanderung nach Deutschland (sog. »na Sachsy«). Im Frühling und Herbst ist der Bahnhof überfüllt mit polnischen und ruthenischen Bauern sowie Juden. Für die Auswanderer sind eigene Baracken errichtet...«[16]

Auch bleiben Asyl und Exil zu erinnern, offene Wunden unserer Erinnerungslandschaft. 1941, als ich in der Nachbarschaft seines Geburtshauses im schlesischen Neisse geboren wurde, starb, 1933 aus Deutschland vertrieben, in London Max Herrmann-Neisse, heimatfern und todkrank vor Heimweh. Eines seiner letzten Gedichte, Bild der Heimat, endet:

»Die ich stets gewann und stets verlor:
Heimat, schmückt mich wieder jetzt dein Kranz,
welches Leid steht diesem Glück bevor?«[17]

Sowirog

Inmitten Masurens liegt am Niedersee, Jezioro Nidzkie, das Dorf Sowirog. Die Germanisierer nennen es Loterswalde. Seine Bewohner sind fort, der Pflug ist drüber hin. Die Wüstung von Sowirog liegt tot. Eine Fichtenschonung deckt den Ort, in dem Ernst Wiecherts Jerominkinder ihr Leben beginnen.

Wir suchen Sowirog.[18] In Ukta – links führt die Brücke über den Kruttinnenfluss – wenden wir uns rechtsab nach Ruciane-Nida, Niedersee, und folgen der Landstraße nach Pisz, Johannisburg. Am Bahnhof von Szeroky Bór, Breitenheide, biegen wir über die Gleise rechtsab zum Ort Breitenheide und dort links weiter nach Wiartel, Kilometer um Kilometer durch den masurischen Wald. Gleich hinter dem Ortsschild von Wiartel halten wir uns rechts auf den Waldweg nach Jaskowo, Jaschkowen-Reiherswalde, und in Jaschkowen über die Kreuzung weiter geradeaus. Hinter den letzten Häusern geht es zu Fuß weiter, immer den weit sich schwingenden Niedersee, Jezioro Nidzkie, zur Linken im Blick.

Von Jaskowo wandern wir nicht lange. Holzgatter sperren den Weg; Zauntritte erlauben den Übergang. Kusseln, junger Aufwuchs rechts und links, Fliederbüsche, wildes Obst, Ziersträucher deuten auf verlassene Hofstellen. Schwere Furchen sind durch die Wüstung gezogen, Setzlinge gepflanzt. Doch der Pflug hat Ziegeltrümmer aufgewühlt, Putzbrocken, Dachpfannen. Wir stehen in Sowirog.

Wir halten die Zeit an, schauen zurück auf die braunen Rohrdächer, auf die Balken der Brunnen und den See, der sich in die Wälder zieht. Aus den Schornsteinen steigt Rauch, und wir glauben die Armut zu schmecken. Ein verlorenes Dorf, mit einer staubigen Straße, die sich in Wald und Öde verläuft. Sowirog, das heißt der Eulenwinkel. Petzolds Gemeindelexikon von 1911 zählt 98 Einwohner. Die Post ist in Wiartel, die Bahn in Breitenheide, Szeroki Bór, das Amtsgericht in Johannisburg, Pisz. Nicht mehr ist es und war es als dies.

In diesem Sowirog lebt die Jerominfamilie. Großvater Michael herrscht wortkarg und weise, Patriarch und Prophet. Seinem Sohn Jakob ist lange schon der Wind unter den Flügeln erstorben; er brennt die Kohlen für den Herrn von Balk. Seine Frau Marthe, stolz, enttäuscht, lebt gegen den Mann und ihre sieben Kinder. Während durch den Traum Frau Marthes in ihrer Kate ein Schiff mit einem großen weißen Segel zieht, unter dem Mast ihre Kinder, fremd und still – zur gleichen Stunde liegt Friedrich vor der Rohrhütte auf der Insel, den Kopf an die warmen Halme gelehnt, und bläst ein Lied auf seiner Flöte:

»Er sah kein Segel, denn er hatte keine Schiffe gesehen in seiner Kindheit, aber er sah, dass der Meiler aufgetan war mit einem dunklen Tor und Männer und Frauen standen davor. Sie standen so schweigend wie Marthes Gestalten um den Mast, aber sie blickten nicht über ihre Schultern zurück. Sie blickten in das dunkle Tor, aus dem die leise verwehte Melodie erklang. Sie standen ganz bewegungslos, den Kopf vorgeneigt, und eine ernste, schwere Trauer lag um ihre Stirnen. Doch konnte er keines ihrer Gesichter erkennen, und niemand sprach ein Wort. Der Wald rauschte wie im Regen, aber es fiel kein Regen, nur ein grauer Himmel war über ihm ausgespannt, schimmernd wie schmelzendes Metall.
Da rief eine Stimme aus dem Tor, eine starke und dunkle Stimme, und der erste der Männer trat gehorsam in das Tor. Jakob kannte die Stimme, aber er wusste nicht, von wem sie kam. Er kannte auch das Wort, aber sein Sinn war ihm fremd. Der erste der Männer trat so gehorsam an, als stehe er auf einem Appellplatz oder als seien sie alle im Wartezimmer eines Arztes und man musste gehorchen, schnell und stumm, damit nichts von der Zeit verlorenginge. Er hatte noch kaum die dunkle Schwelle betreten, so war er schon fort, aufgelöst und in das Innere gesogen wie eine Wolke, die in ein Sturmtal fährt.
Und wieder rief die Stimme, und eine Frau ging hinein und verschwand. Aber keine Angst erfasste die anderen. Sie standen noch alle, wie sie am Beginn gestanden hatten, bewegungslos, lauschend, mit vorgeneigter Stirn.
Sie gingen alle hinein, und keiner sah zurück. Auch blieb das Tor, wie es gewesen war, nur dass aus der Kuppel des Meilers nun langsam eine dünne Säule hellen Rauches aufzusteigen begann, wie von einem Brandopfer. Die Stimme schwieg, die ferne Flöte war nicht mehr zu hören, und Jakob erwachte.[19]

Wiechert schreibt diese Vision vor dem großen Holocaust. Das Manuskript des ersten Teils der Jerominkinder vergräbt er, bis die Nazizeit zu Ende geht.

Die Apokalypse wird wahr. Sowirog ist verschwunden, fortgemacht wie seine Menschen. 1948 soll sein letzter Bewohner tot aufgefunden worden sein. Die Häuser sind abgetragen, Stein für Stein. Wir finden sie wieder, wenige Kilometer südlich, in den polnischen Dörfern jenseits der alten Grenze des Preußenlands.

Zwischen Auschwitz und Brody: Galizien

Der Weg nach Lemberg führt an den Rand der Welt.[20] Die Grenzsperren zwischen Polen und der Ukraine sind Deutschen noch vertraut. Der Bürgerkrieg Europas hat Lemberg ins Abseits gedrängt. Und doch liegt es nur zwei Tagesfahrten von Berlin.

Das galizisch-habsburgische Lemberg ist ockergelb, legt sich als Ring um die mittelalterliche Stadt, trumpft auf im Stil des Wiener Rings, mit Bahnhof, Polytechnikum, Landtag, Oper, dem Hotel »Georges«. Letztere liegen im Norden und Süden des Korsos, der unter Österreich Karl-Ludwig-Straße hieß, dann ulica Karola-Ludwika, unter Polen Straße der Legionen, unter den Sowjets Prospekt Leninskij, heute Prospekt svobody, Freiheitsallee.

Vor dem »Georges« steht seit 1905 Adam Mickiewicz am Fuß einer granitenen Säule, über ihm ein flügelschlagender Genius, hoch oben lodernd die Fackel. Als Held der nationalen Befreiung durfte Mickiewicz bleiben. Jan Sobieski, der Wien vor den Türken rettete, ist auf Danzigs Holzmarkt verzogen, der Lustspieldichter Alexander Graf Fredro von der Lemberger Akademikergasse auf den Breslauer Ring gewechselt, so wie manches polnische Nationalgut aus Lemberg in Breslau eine neue Bleibe fand.

Das vorhabsburgische Lemberg um den Ring ist vom Alter gedunkelt. Die Familiengruft des Kaufherrn Boim ist schönste Renaissance, Figurenwerk wie aus dem Serail, gleich neben der lateinischen Domkirche am Kapitelplatz, die Gotik Kasimirs des Großen ist, Sitz des römisch-katholischen Erzbischofs. Neben ihm residieren ein griechisch-katholischer Bischof in der Georgskathedrale im Westen der Stadt, zu der man aufsteigt wie auf Himmelsleitern, und auch noch ein armenisch-katholischer in eigener Kathedrale nahe beim Ring.

Käme Gott nach Lemberg, er ginge zu Fuß. Lembergs Türme und Kuppeln wüchsen über ihm zusammen wie die Wilnas; Vorposten des Vatikans sind sie beide. Polnischer Dichter und ein Sohn der Stadt, schaut Stanislaw Lem vom Hohen Schloss auf seine Kindheit in Lemberg, richtet sein Gedächtnis gegen den Strom der Zeit, erinnert, wie plötzlich 41/42 die Straßen von der Bernsteingasse bis hinter das Theater wie ausgestorben standen, dann die Holzzäune des Ghettos, schließlich nur noch die grasbewachsenen Trümmer.

Alexander Lisen und Boris Dorfman kümmern sich in der Scholem-Alejchem-Gesellschaft um die zehntausend Lemberger Juden, suchen sie zum Bewusstsein ihrer selbst zu mobilisieren, zum Aufbau eigener Schulen, zur Wiederbelebung des Kults. Eine Rebbe aus Jerusalem hilft. Ein Drittel der 300.000 Vorkriegseinwohner Lembergs bekannte sich zum Judentum; heute zählt Lemberg 800.000 Einwohner. An der Ausfahrt der Stadt Richtung Brody erinnert ein zornig sich reckender Gigant an die Gewalt in Lemberg.

Der Reichtum der Naphtastadt Drohobycz im Süden Lembergs wirkt nach in ihren stillen Villenalleen. Als Alfred Döblin auf seiner Polenreise 1924 Drohobycz besucht, tritt Bruno Schulz gerade sein Amt als Zeichenlehrer am Stadtgymnasium an. Bruno Schulz, Jude, ein wenig aus dem Paradies vertrieben, ein wenig Don Quichotte, ein wenig Heiliger, schreibt polnisch, zählt neben Andrzej Kusniewicz, Zbigniew Herbert, Stanislaw Lem zu den großen galizischen Schriftstellern Polens. Schulz wird im Geschäftshaus seiner Eltern am Markt von Drohobycz 1892 geboren; fünfzig Jahre darauf stirbt er auf dem Trottoir vor dem Judenrat der Stadt, erschossen an einem jener Tage freier Judenhatz. Alfred Schreyer, in den dreißiger Jahren Schüler von Schulz, zeigt die Lebensstätten des Dichters und den Ort seines Sterbens. Der Zeichensaal im Gymnasium trägt Schulzens Namen; die polnische Kulturgesellschaft hat an seinem Wohnhaus in der Florianska eine Tafel montiert.

Unweit, in Boryslaw, hat Berthold Beitz von 1941 bis 1944 für die Karpathen-Öl AG gearbeitet und manchen seiner jüdischen Mitarbeiter und Zwangsarbeiter das Leben gerettet, ein »Gerechter unter den Völkern«, wie die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem vermerkt. Das Buch von Thomas Sandkühler über die »Endlösung« in Galizien dokumentiert den vielhunderttausendfachen Judenmord – und nicht nur den Mord an Juden – in Ostpolen und die Rettungsinitiativen von Beitz.[21] Als Deutscher lese ich diese Zeugnisse mit brennender Scham. Vor den von Deutschen höchstpersönlich vollzogenen Morden verblassen und verschwinden Flucht und Vertreibung, die ich am eigenen Leib erfuhr, und ebenso das Blut, das ich sah.

Nachbarschaft in Raum und Zeit

In den beiden großen Kriegen des 20. Jahrhunderts hat Europa sich ausgeblutet und erschöpft. Beide Kriege begannen als innereuropäische Bürgerkriege und endeten mit dem Verlust der kontinentalen Dimension Europas. Mit dem Zusammenbruch der Vielvölkerstaaten der Habsburger und der Osmanen im Ersten Krieg und mit Völkermord, Vertreibung und Flucht im und nach dem Zweiten Krieg hatte Europa ein jahrhundertealtes kulturelles, gesellschaftliches und politisches Erbe verspielt, das mit dem Vorstoß der sowjetischen Armee bis an die Elbe vollends aus dem kollektiven Gedächtnis Westeuropas verschwand. Ostmitteleuropa, der zentrale Raum unseres Kontinents von Karelien bis zur Bukowina, war für den Westen zu terra incognita geworden.

Ein ganzes Jahrhundert musste vergehen, ehe die alten Worte und Werte von Nachbarschaft und Region wieder Leben gewinnen. Polen und Deutsche, Polen und Litauer, Deutsche und Litauer, Polen und Ukrainer, Finnen, Esten, Letten auf der einen, Russen auf der anderen Seite, Finnen und Schweden und wer auch immer, haben sich nicht stets gehasst. Lange haben sie in erträglicher Nachbarschaft gelebt, durcheinander, miteinander in vielfältig verwobener Mischpoke. Wieviele Brandopfer und Ruinen mussten wir sehen, in wievielen schwer passierbaren Grenzen uns wiederfinden, bevor wir nun und erneut lernen und lernen müssen, in Nachbarschaft zu leben, mit allen Unterschieden und miteinander, so wie unsere Vorfahren miteinander lebten.

Solche Nachbarschaft kennen heißt ihre Vergangenheit kennen. Jeder Bewohner eines Territoriums ist der materiellen und geistigen Kultur ausgesetzt, die seinem Gebiet innewohnt, und er wird von ihr geprägt. Kein Krieg kann dieses Gedächtnis zerstören. Erst wenn die Menschen, wo auch immer, das Gedächtnis ihrer Region mit ihren Biografien verbinden, werden sie Wurzeln schlagen, sich niederlassen, sich sicher und zu Hause fühlen und Heimat begründen. Erst dann werden sie Selbst-Bewusstsein, Identität gewinnen. Ökonomische Orientierungen können schnell wechseln. Aber es dauert, ehe das Gedächtnis einer Region zur Symbiose findet mit dem Leben ihrer Bewohner.

Heimatmuseum

Im März 1988 wurde der dreiteilige Fernsehfilm Heimatmuseum nach dem Roman von Siegfried Lenz in Warschau uraufgeführt, vor einem überwiegend polnischen und obendrein jungen Publikum. Die Regie hatte für diesen westdeutschen Film ein Regisseur der DDR geführt, Egon Günther. Der hatte, so sagte er, das masurische Lucknow, Lyck, Ełk des Siegfried Lenz nicht wiedergefunden. »Wahnsinnsprobleme«, so sagte Günther in Warschau, habe er gehabt, die ganze »braune Vergangenheit« an ihren originalen Schauplätzen wieder erstehen zu lassen. So hat Günther die masurische Szenerie in Böhmen nachgestellt.

Die Aufführung in Warschau wurde zu einem politischen und kulturpolitischen Kunststück, wurde zum Anlass für ein Gespräch über Heimat, Krieg, Flucht und Vertreibung. An zwei Abenden war das Theater »Bajka« an der Marszałkowska brechend voll. Zweihundert blieben zum Gespräch: über masurischen Lokalpatriotismus, über Masuren als Objekt deutscher Nostalgie, über nationale Schattierungen, die nicht passen in die Schemata von Volkstumskampf, über sprachliche Eigenart, über den eigentümlichen masurischen Menschenschlag. Die polnischen Gesprächspartner bemängelten, dass der Film die Konflikte zudecke, die in einer solchen Landschaft entstehen, wenn ihre Bewohner optieren müssen, propolnisch oder prodeutsch. Der darauf hinwies, stellte sich in fließendem Deutsch als gebürtiger Warschauer, als Sohn eines Schlesiers, als Enkel eines preußischen Unteroffiziers vor.

Die, die den Roman gelesen hatten, warfen dem Regisseur vor, die Vorlage in einem wichtigen Punkt verfälscht zu haben: im Roman verbrennt allein das Heimatmuseum, das jener Zygmunt Rogalla in Westdeutschland neu aufgebaut hat. Im Film verbrennt der Held gleich mit.

Die Zuschauer beklagten, dass diese Selbstverbrennung sie um jede Perspektive bringe. Der Regisseur hatte gemeint, dass die menschlichen Brücken abgebrochen werden müssten, dass Schluss sein müsse mit den Erinnerungen, dass Schluss sein müsse mit dem Zweifel, wohin man gehöre. Die Polen schüttelten darüber den Kopf. Schluss mit den Erinnerungen? Verlischt das Woher? Nimmt man das Vaterland an den Schuhsohlen mit?

Kunzendorf

Das Neue kommt von den Rändern. Das gilt auch für den aufregenden Roman, den Olga Tokarczuk 1999 vorgelegt hat: Taghaus Nachthaus, Dom dzienny, dom nocny, deutsch erschienen 2001. Frau Tokarczuk, geboren 1962, lebt, nach Verlagsauskunft, »im polnischen Grenzgebiet«. Dort am Rande, an der Grenze Schlesiens zu Böhmen, liegt das winzige Nest, über dem sich Geschichte und Geschichten von Menschen und Dingen zu Zeit und Raum verdichten, aus denen ein Stück europäische Mitte wächst, Europa zentral.

Mit dem niederschlesischen Dorf, in dem sich regelmäßig das Wasser von den böhmischen Bergen sammelt, rückt uns Niedamirów vor Augen, das deutsche Kunzendorf, im Südosten des Riesengebirges, wo die Wege sich in den letzten Höfen und Wiesen verlaufen. Dort haben heute Beata Justa, ihre Familie und ihre Freunde einen von den Deutschen verlassenen Hof zum Haus der drei Kulturen erhoben, zum Ort der Grenzgänger aus den Nachbarschaften Tschechiens, Deutschlands und Polens.[22]

So wie die Leute von Parada im früheren Kunzendorf ungehemmt und utopisch zwischen Weltbürgertum und Randleben suchen, so setzt der Roman um die Menschen von Pietno historische Zeichen jenseits von Schuld und Recht. Unbefangen prüft die Erzählerin ihren Ort inmitten böhmisch-schlesisch-preussisch-österreichisch-polnischer Erinnerung, schwankend zwischen dem Taghaus selbstbewusster Verankerung in Zeit und Raum und einem Nachthaus bedrohlichen Lebens zwischen den Zeiten.

Die polnische Obrigkeit teilt Dörfer und Häuser zu. Den ganzen Sommer über leben sie miteinander, Polen und Deutsche. Die Männer bauen gleich den Destillierapparat, hocken vor dem Haus, erörtern die Maschinen, wissen aber nicht, wie sie funktionieren. Die Frauen beobachten die Gewohnheiten der anderen und lernen deren verhasste Sprache, ohne es zu wollen. Solange die Deutschen da sind, brauchen die Polen nicht zu arbeiten.

»Sie gaben den Deutschen, was ihnen gebührte, sie waren ja schließlich nicht aus eigener Schuld hier, es war nicht ihre Idee gewesen, ihre weiten Felder im Osten aufzugeben und zwei Monate lang hierherzuzockeln. Sie hatten nicht um diese fremden Steinhäuser gebeten.«

Im Herbst kommt die Obrigkeit wieder, diesmal zu den deutschen Frauen, und schickt sie auf die Abreise. Frau Bobol gibt den Deutschen Speck und freut sich, dass sie jetzt ein Zimmer mehr hatten. Die alte Frau will aber nicht gehen:

»Sie ging zurück in die Küche und griff nach einer Porzellanschüssel. Bobol, der schon angetrunken war, versuchte, ihr die Schüssel zu entreißen. Sie rangen eine Zeitlang, bis die weißen Haare der Alten ganz zerzaust waren, und plötzlich, zum ersten Mal in all den Monaten, schrie sie etwas. Sie lief vor das Haus hinaus und schrie, wobei sie die Faust gen Himmel schüttelte.
,Was hat sie gesagt? Was brüllt sie da?'
fragte Bobol nach, aber die Obrigkeit wollte es ihm nicht sagen.
Erst als die Deutschen hinter den Hügeln verschwunden waren, kam die Obrigkeit zurück, um ihnen zu sagen, dass ihr Dorf nicht mehr Einsiedler hieß, sondern Pietno. Bobol erfuhr bei der Gelegenheit auch, dass die alte Deutsche ihn verflucht hatte.
,Sie hat dich verflucht, hat dir einen Haufen Dummheiten an den Kopf geworfen, die Erde soll dir nichts hervorbringen, du sollst allein auf der Welt bleiben, keine Krankheit soll dich verschonen, die Tiere sollen dir verenden, die Bäume keine Früchte tragen, deine Wiesen verbrennen und deine Felder überschwemmt werden. Das hat sie geschrieen', sagte die Obrigkeit. ,Aber nur ein Dummkopf wird sich so etwas zu Herzen nehmen.'«[23]

Der Roman der Olga Tokarczuk stellt polnisch-deutsche Nachbarschaft auf die Füße, unverkrampft und unverklärt, schafft selbstbewusste Sicherheit.

Perdere felix

Als der Krieg zuende ist und die Sieger Europa ordnen, verschonen Plünderung und Not den Wiesenstein.[24] Unter dem Schutz von Roter Armee und polnischer Verwaltung, umhegt von seiner Frau, von Krankenschwester, Pfleger, Hausverwalter und Haushilfen, versorgt mit Nahrung, Heizung, Strom und Telefon lebt Gerhart Hauptmann seine letzten Tage, im eigenen Haus und in Würde. Einsam ist es auf dem Wiesenstein, wenige der verbliebenen Deutschen wagen sich und finden zum Hause Hauptmanns. Am 6. Juni 1946 stirbt Hauptmann, sanft und ohne Kampf.

Die Nachricht vom Tode verbreitet sich in Windeseile. Unter den Fenstern des Sterbezimmers rüpeln Milizionäre mit Topfgeklapper und Katzenmusik. Hauptmanns Wunsch war, im Park des Wiesenstein beerdigt zu sein. Doch ringsum werden Gräber geschändet und beraubt. Margarete Hauptmann bittet das Liegnitzer Hauptquartier der Roten Armee um das angebotene Geleit auch für den Toten. In die Kutte des Franziskaners gehüllt und in den Zinksarg verlötet wird der Leichnam Hauptmanns in die sowjetische Besatzungszone Deutschlands überführt, von Agnetendorf, Jagniatków, über Hirschberg, Jelenia Góra, nach Forst und weiter über Berlin und Stralsund nach Hiddensee.

Paradiese wandern. Paradiese ereignen sich stets neu. Erhart Kästner, in den dreißiger Jahren Sekretär bei Hauptmann, schreibt dies, als er zu Beginn der sechziger Jahre erneut vor dem Wiesenstein steht.[25] Agnetendorf ist zu Jagniatków geworden. Das Tor zum Wiesenstein ist ausgehängt. Ein Trampelweg führt zum Dichterhaus, Herberge verlorener Zeit, Gedächtnisort.

Als Kästner vor dem Tor steht, ist der Wiesenstein Hort für Kinder geworden. Mit einer Disziplin, für die Preußen viel Schelte einsteckte, hütet die Leiterin den Ort der Erinnerung, den zahllose Busse der Deutschen heimsuchen. Seit dem Herbst 2001 ist das Hauptmann-Haus von den Kindern geräumt und als Gedenkstätte und Begegnungszentrum geöffnet.

Kehren wir uns vom Wiesenstein um, sitzt die Schneegrubenbaude noch immer dem Kamm auf, Schronisko nad Śnieżnymi Kotłami, Froschkönig wie im Märchen, wenn auch der Zeit gemäß als Fernsehstation, Krötenkönig. Die Hänge triefen und rinnen vom Wasser. Glühende Herbstwälder ringsum. Kein Mensch in vielen Stunden, Wege die niemand geht. Alle wetteifern auf den großen Straßen, halten ihr Leben um wenig feil.

Herbst im Riesengebirge, Karkonosze, Krkonoše. Oder Frühling der hangaufwärts wandert. Schnee und Eis auf der Koppe, flaschengrün der Blick ins Tal. Land das sich herbiegt. Felder weiß von Korn.

Uralte Schmugglerwege führen hinüber nach Böhmen, Fluchtwege aus Deutschland herüber. Querwege wie Emanuel Quint sie ging, im Widergang der sich einzig lohnt.

Und wenn wir aus dem Wald in den Talgrund treten: die Bauernhäuser und Sommerfrischen weit gestreut, Holzfeuer, blaue Rauchstangen an denen die Dörfer hängen wie Schaukeln. Tage wie Dukaten. Birkenzweige im Aufschein schräg fallender Strahlen. Rückzug des Fests in die Dinge. Gedächtnis birgt, was früher die Schleppe war und bloß das Mitgenommene.

Perdere felix, Glück des Verlustes. In der Osternacht singen wir Glückliche Schuld, in dich fiel ich, rettende Schuld, felix culpa. Eine tausendjährige Hymne, deren Reim die Schuld preist.

Verluste lassen etwas zurück, das vorher nicht da war. Verluste sind Linsen, die uns schärfer blicken lassen. Besitz schenkt selten, was wir uns versprechen. Kraft schöpft aus Verlusten. Verlieren heißt gewinnen. Perdere felix!

[1] Marcus Tullius Cicero, De finibus bonorum et malorum. Über das höchste Gut und das größte Übel. Übersetzt und hg. von Harald Merklin. Stuttgart: Reclam, 1989 (RUB 8593), Fünftes Buch, S. 395f.
[2] Zum Folgenden Anregungen bei Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck, 1999.
[3] Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band IV 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991, S. 400.
[4] Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 1. Unterwegs zu Swann. Frankfurter Ausgabe. Hg. von Luzius Keller. Werke II/1. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1982 (19941), S. 70.
[5] Op. cit. S. 71.
[6] Johann Gottfried Herder, Briefe zu Beförderung der Humanität. Werke in zehn Bänden. Hg. von Martin Bollacher u. a. Band 7. Hg. von Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1991, S. 530.
[7] Zitiert von Aleida Assmann, op. cit. S. 165.
[8] Uwe Johnson, Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1970-1983. Band 1 (1970), S. 63f.
[9] Bernd Neumann, Uwe Johnson. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 1994, S. 711.
[10] Heinrich Heine, Jehuda Ben Halevy. In: Romanzero. Drittes Buch. Hebräische Melodien. Werke und Briefe in zehn Bänden. Hg. von Hans Kaufmann. Band 2. Berlin und Weimar: Aufbau, 19803, S. 130f.
[11] Günter Grass, Die Blechtrommel. Roman (1959). Werkausgabe hg. von Volker Neuhaus und Daniela Hermes. Göttingen: Steidl, 1997, Band 3, hg. von Volker Neuhaus, S. 520.
[12] Günter Grass im Gespräch mit Heinrich Vormweg 1985. In: Heinrich Vormweg, Günter Grass mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 3., ergänzte und aktualisierte Auflage 1996 (19861, rowohlts monographien 359), S. 46.
[13] Günter Grass, Rückblick auf die Blechtrommel - oder Der Autor als fragwürdiger Zeuge. Ein Versuch in eigener Sache. Beitrag zur WDR-Sendereihe »Wie ich anfing«, gesendet am 16.12.1973. In: Essays und Reden II 1970-1979, hg. von Daniela Hermes, Werkausgabe Band 15. Göttingen: Steidl, 1997, S. 323-332, hier S. 331.
[14] Günter Grass, Die Blechtrommel (1959) op. cit. S. 547.
[15] Werner Bergengruen, Der Rittmeister erzählt. In: Schnaps mit Sakuska. Baltisches Lesebuch. Hg. von N. Luise Hackelsberger. Zürich: Arche, 1986, S. 407.
[16] Nach den biografischen Angaben bei Jaan Kross - Leben und Werk, in »Baltica«, Heft 1 Frühjahr 1995, S. 3-6, und Jaan Kross, Autobiographie, in »Baltica«, Heft 3 Herbst 1997, S. 2-9.
[17] Die biografischen Angaben folgen Hella Wuolijoki, Und ich war nicht Gefangene. Memoiren und Skizzen. Hg. von Richard Semrau. Aus dem Finnischen von Regine Pirschel. Rostock: Hinstorff, 1987 (Auswahl aus den finnischen Erstausgaben Yliopistovuodet Helsingässa 1904-1908 [Universitätsjahre in Helsinki]1945, Minusta tuli liikenainen eli valkoinen varis, 1953 und Enkä ollut vanki[Und ich war nicht Gefangene] 1944 samt Briefen aus dem Staatsarchiv Helsinki) sowie Manfred Peter Hein, Leben und Werk der Hella Wuolijoki. In: Mitteilungen aus der Deutschen Bibliothek, Helsinki 9 (1975), S. 43-77. Auch in: Trajekt 3, 1983, S. 162-186. [18] Söja laul. Das estnische Kriegslied. Zusammengestellt und mit Hilfe von Bertolt Brecht und Margarete Steffin ins Deutsche übertragen von Hella Wuolijoki. Estnisch und deutsch. Hg. und kommentiert von Hans Peter Neureuter, Ruth Mirov und Ülo Tedre. Stuttgart: Klett-Cotta, 1984 (Trajekt 18).
[19] Ende 1940. Söja laul, a.a.O. S. 97.
[20] Beatrice von Matt, Reise zu einem ungekrönten König. Gespräch mit dem estnischen Schriftsteller Jaan Kross. In: Neue Zürcher Zeitung, 8. Dezember 1997, S. 23.
[21] Willy Dähnhardt und Birgit S. Nielsen, Dänemark als Asylland. In: Exil in Dänemark. Deutschsprachige Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller im dänischen Exil nach 1933. Hg. von Willy Dähnhardt und Birgit S. Nielsen. Heide: Boyens, 1993 (nach der dänischen Vorlage von Steffen Steffensen Paa flugt fra nazismen. Tysksprogede emigranter i Danmark efter 1933. Kopenhagen: Reitzel, zweite revidierte Auflage 1987 [19861]), S. 14-54, hier S. 17-19.
[22] Walter Benjamin, Aufzeichnungen 1933-1939. In: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp, erste Auflage 1974-1985, Band VI (1985), S. 520-542, hier S. 526.
[23] Hans Christian Nörregaard, Bertolt Brecht und Dänemark. In: Exil in Dänemark op. cit. S. 405-462, hier S. 414.
[24] Vgl. Knut Hamsun, Auf überwachsenen Pfaden. Ein Tagebuch. Aus dem Norwegischen von Elisabeth Ihle. München: List, 1950 (erste, norwegische Ausgabe Paa giengrodde Stier 1949). Thorkild Hansen, Der Hamsun Prozeß. Aus dem Dänischen von U. Leippe und M. Wesemann. Hamburg: Knaus, 1979 (erste, dänische Ausgabe Processen mod Hamsun 1978). Tore Hamsun, Knut Hamsun mein Vater. Aus dem Norwegischen von Werner von Grünau. München: List, 1953 (erste, norwegische Ausgabe Knut Hamsun min Far 1953; erste deutsche Ausgabe Mein Vater. Aus dem Norwegischen von Elisabeth Ihle und Dannis Sandberg. Leipzig: List, 1940).
[25] Olga Tokarczuk, Taghaus Nachthaus. Roman. Stuttgart und München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2001, S. 254-256.