Zum 100. Todestag des galizischen Dichters Karl Emil Franzos
Oskar Ansull
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Karl Emil Franzos

Da hab ich da einen bunten Flecken auf meinen Kaftan
geheftet und dort einen – wie ich sie eben bekommen
konnte, aber ein deutscher Rock ist es nicht geworden.

Karl Emil Franzos, Der Pojaz (1893)

»Du bist deiner Nationalität nach kein Pole, kein Ruthene, kein Jude – du bist ein Deutscher«, prägte der Vater dem Sohn Karl Emil ein, als er noch keine drei Käse hoch war und fügte hinzu, »aber deinem Glauben nach bist du ein Jude«. Diese vertrackte und jegliche Identität aufhebende Dialektik bestimmte das Leben des Schriftstellers Karl Emil Franzos. Er zählt zu den vergessenen deutschsprachigen Autoren des 19. Jahrhunderts. Auf ihn hinzuweisen und seine Arbeit zu würdigen, zumindest aber seinen besten Roman zu entdecken, dazu ist sein 100. Todestag am 28. Januar 2004 Anlass genug. Die deutsche Literaturgeschichte hat ihn vernachlässigt, weil sie ihn nach 1933 völlig verschwieg, und vor und nach 1945 anfangs der österreichischen Literaturgeschichte überlassen. Wenn auch kein österreichischer Verlag sich um Franzos kümmert, gibt es doch inzwischen von der Wiener Stadt- und Landesbibliothek eine virtuelle, ständige Franzos-Ausstellung, zu der ein kleiner Katalog – anlässlich des 150. Geburtstag des Dichters, 1998 – vorliegt und die im Internet unter www.stadtbibliothek.wien.at zu besuchen ist. In der DDR hingegen gab es seit den 50er Jahren fast so etwas wie den Beginn einer Werkausgabe in ausgewählten und kommentierten Einzelbänden, die seine wichtigsten Publikationen bereit hielt. In der Bundesrepublik setzte erst seit 1979 eine langsame und noch immer zögerliche Wahrnehmung ein.

Wo kam er her, der Autor Karl Emil Franzos? Seine Vorfahren, spaniolische Juden, waren reiche und gebildete Handelsherren, die vor der Inquisition nach Holland geflüchtet, sich in Lothringen als »Lichtzieher« ernährten und ursprünglich Levert hießen. Der Urgroßvater, Michael Levert, arbeitete sich zum Fabrikanten empor, ging 1770 mit seinen beiden jüngsten Söhnen nach Polen und errichtete zwei Wachskerzenfabrikationen, eine bei Warschau und eine bei Tarnopol. Der Sohn mit der Fabrik in Tarnopol war Karl Emils Großvater. Der wurde 1772 österreichischer Staatsbürger und erhielt, nach einer angeordneten Namensverleihung für alle Juden Galiziens, den Namen Franzos zugeteilt. Seine Begeisterung für die Ideen der deutschen Aufklärung, die deutsche Sprache und Kultur brachte der Großvater mit nach Ostgalizien, und dies trennte denn auch die Seinen von der übrigen Bevölkerung des Landes, die bunt gemischt sich aus Polen, Juden und Ruthenen zusammensetzte. Der Vater, Heinrich Franzos, studierte Medizin in Wien, München und Erlangen. Er blieb, nach seiner Heirat, nicht freiwillig in Galizien und führte als Arzt ein ebenfalls intellektuell isoliertes Leben und vererbte den Sinn für deutsche Bildungsideale auf seinen im Revolutionsjahr 1848 in Czortkow geborenen Sohn Karl Emil und legte testamentarisch den Besuch des deutschen Gymnasiums in Czernowitz fest, das Karl Emil Franzos von 1859 an auch besuchte. Später ging Franzos nach Graz und Wien, um dort Jura zu studieren, weil ihm als Juden die Philologie nicht offen stand und schlug, etwa 1872, dann doch eine schriftstellerische und journalistische Laufbahn ein, da auch die Ausübung eines Richteramtes für ihn nicht möglich war. Sein publizistisch spannender, ungewöhnlicher und sehr erfolgreicher Weg, vor allem als Reisejournalist einer inzwischen untergegangen Welt Osteuropas, führte ihn über Wien, wo er 1877 Ottilie Benedikt, Tochter aus einer in gutem Ruf stehenden jüdischen Familie heiratet, und schließlich zehn Jahre später nach Berlin. Dort gibt er bis zu seinem Tod eine literarische Zeitschrift heraus und veröffentlicht einige seiner wichtigsten Bücher.

Franzos konnte und wollte mit seiner Religion keinen Handel treiben, zu keiner Zeit, denn

als Jude geboren, hast du Jude zu bleiben, weil dies offenbar Gottes Wille ist, und weil deine Glaubensbrüder, die noch – zu Recht oder Unrecht – scheel angesehen werden, guter und gebildeter Männer bedürfen, die sie läutern und verteidigen.

So hat Franzos sich, die Ideale der Aufklärung seit Großvaters Zeiten vor Augen, als einer von den gebildeten und guten Männern gesehen, die Licht in die Dunkelheit des östlichen Ghettos bringen wollten. Er gehört mit seinen Novellen und Romanen nicht zu den Verklärern ostjüdischer Lebenswelt, zeichnet keine rückwärtsgewandten Idyllen, wie sie seine schreibenden Kollegen in ihren Ghetto- und Dorfgeschichten vorführen. Er hat dieses Genre, dessen negative Bilanz im Urteil auch oftmals auf Franzos abfärbt, mit seinem fremden Blick geschärft; als ein wohl im Ostjudentum aufgewachsener, aber dem Chassidismus und der ostjüdischen Orthodoxie entfernter Zeitgenosse. Dort aber, im Osten, wollte er vor allem von seinen Glaubensgenossen, als kritischer Erzähler und Aufklärer gehört und schließlich auch gelesen werden, denn nicht zu Verhöhnung, nicht zur Verherrlichung des östlichen Judentums seien seine Novellen geschrieben, sondern um, allerdings nur nebenbei, auf Düsteres hinzuweisen und es lichten zu helfen. Den größten Absatz fand er jedoch im Westen, allein seine Ghetto-Novellensammlung Die Juden von Barnow erlebte hohe Auflagen und wurde in 33 Sprachen übersetzt. Leserinnen und Leser des Westens, z. B. der Westermanns Monatshefte, die die ersten Franzos-Novellen abdruckten, griffen gern nach den exotisch anmutenden Erzählstoffen aus diesem Winkel Europas, für den Franzos nahezu intuitiv einen prägenden Begriff gefunden hatte: »Halb-Asien.« Ein Begriff, der zu Missverständnissen geradezu einlädt und nicht frei ist von der kulturellen Überheblichkeitsgeste eines sich zum Europa der Zeit zählenden späten Aufklärers. Dennoch, trotz aller Kritik, die wir heute leichter formulieren können, wo wir auf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts zurückblicken, behält das Hamburger Fremdenblatt vom 30. Januar 1904 Recht, wenn es zum Tod von K. E. Franzos prophezeite:

Sollte jemals eine Zeit kommen, wo die europäische, die halb-asiatische Unkultur, auch die der östlichen Juden, verschwunden sein wird, dann wird sie in den Erzählungen Franzos‘ Aus Halb-Asien, aus der Sammlung Vom Don zur Donau, aber noch aus manchen anderen für die Nachwelt zu einem erstaunenden Literaturleben erwachen.

Diese zum Teil hellsichtige Vorhersage hat sich in Bezug auf K. E. Franzos bisher noch nicht erfüllt. Der Autor, dessen Schriften eine Fundgrube für ethnographische Studien des Nordkarpatenraums sind, also Ostgalizien, Bukowina, die westliche Ukraine und das nördliche Rumänien, war sich seiner Stellung in der literarischen Welt wohl bewusst, wenn er in einem Brief an seine Frau, die ebenfalls schriftstellerisch tätig war, auf sein Dichter-Leben blickt:

Ich weiß ja, ein wahrhaftig großer Dichter, ein Stern am Himmel werde ich nicht werden, weil ich mein Talent nicht so hoch emportragen kann, aber vielleicht werde ich doch ein irdisches Licht, welches einzelnen die Nacht erhellt.

Dabei hat er zu allen Zeiten, bis heute, bedeutende Fürsprecher seiner Arbeit gefunden. Auch wenn er zu den »vergessenen« Autoren gehört, war er nie ganz vergessen. Schon 1878 würdigt der Schriftsteller und Sprachphilosoph Fritz Mauthner den dreißig-jährigen Franzos ausführlich als den Entdecker, Taufpaten, Beschreiber und Generalpächter von »Halb-Asien« Im Jahr 1900 gibt Stefan Zweig mit Blick auf Franzos’ Werk in einem Essay zu bedenken:

Es wäre wohl noch die Frage, welcher Ruhm der höhere wäre, der rauschende Erfolg, der so mächtig ist, dass er den ganzen Tag überdauert oder eine tiefe, stille Achtung, die in jedem neuen Werk nur eine Bestätigung ihrer unabänderlichen Überzeugung sieht. Bei Franzos ist das letztere der Fall. Kein Werk von ihm hatte Sensationserfolg, … sondern Jahre hindurch sind seine Bücher von Hand zu Hand gegangen, aber wenige werden sie wohl ohne … ehrliche Empfindung weggelegt haben …

Der Pojaz

Auch der junge Victor Klemperer portraitiert Franzos 1908 in einem freundlichen, wenn auch äußerst kritischen Essay und hebt dessen wohl wichtigsten, ein Jahr nach seinem Tod erschienenen Roman Der Pojaz hervor und stellt fest:

Doch der Pojaz ist nicht bloß die gefällige Aufreihung wertvoller Schilderungen, er ist eine echte Dichtung von großer Schlichtheit und stark ergreifend … der Pojaz enthält bei aller Tragik echten Humor.

Dies Buch über die Emanzipation eines jüdischen Jungen aus dem Ghetto, der, gegen das rabbinische Verbot sich erhebend, deutsch lernt und Schauspieler werden will, hat den Namen seines galizischen Autors für einige Leser lebendig gehalten. Der Roman liegt heute wieder bereits in der 6. Auflage in der Europäischen Verlagsanstalt vor. Er hat stets Leser gefunden, die wie Victor Klemperer vom Pojaz ergriffen und überzeugt waren. Klemperer ist zwischen 1907 und 1909 lesend mit diesem Volks-Buch durch die Gemeinden gezogen und überall wollten sie den Pojaz hören. Es ließe sich eine eigene Entstehungs- und wohl einmalige Wirkungsgeschichte gerade dieses Buches schreiben, das 1905, ein Jahr nach dem Tod des Dichters bei Cotta erschienen ist und mehrere Auflagen erlebte, bis zu der Zeit, als, abgesehen von der Bibel, kein Buch eines Juden mehr in Deutschland gedruckt wurde. Einmalig ist dieser Entwicklungs- und Komödiantenroman aus dem Osten, weil es nicht nur ein halb autobiographisch angelegtes Buch mit hohem Identifikationswert für umhergetriebene, entwurzelte Seelen, sondern in gewissem Sinne auch eine Biographie im Voraus ist. Der Pojaz ist in manchen Zügen die Geschichte des erst 1888 geborenen Alexander Granach, der sich im Todesjahr des Autors quer durch Ostgalizien schlug, um in Berlin Schauspieler zu werden. Dort drückt ihm 1907 jemand den Pojaz-Roman in die Hand und er erkennt sich in ihm unter Tränen wieder. Granach beschrieb dies bewegende Erlebnis in seinem Buch Da geht ein Mensch.

Die wirkliche Bedeutung dieses Romans wird allerdings erst sehr spät, anlässlich der ersten westdeutschen Neuausgabe 1979, besorgt von Jost Hermand, festgestellt und angemessen gewürdigt. Hermand stellt in einem engagierten und kenntnisreichen Nachwort den Pojaz in eine Reihe mit Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser und Goethes Wilhelm Meister. Das Buch brauche solche Vergleiche nicht zu scheuen, auch wenn es nicht so vielschichtig, aber dafür um so dramatischer und aufwühlender sei.

Dem schließt sich später auch Peter Härtling an, wenn er schreibt:

… ein Entwicklungsroman gegen das übliche Muster. Der Pojaz strebt nicht, wie Anton Reiser, ins bürgerliche Leben, erhöht nicht, wie der Bürgersohn Wilhelm, durch Heirat seinen Stand. Er entwickelt sich allein aus einem Widerstand, den er sich 'Stück für Stück' auslegt und mit dem er sich unentwegt 'aufs Spiel' setzt. Sender Glatteis [d. i. der Pojaz] meistert mehr als Wilhelm. Er bleibt bei sich, obwohl er sich verlässt.

Franzos ist der erste bedeutende Literat, der aus dem inzwischen literarisch-berühmten Czernowitz kam, das die deutschsprachige Literatur bereichert hat, die ohne ihn und Paul Celan, Rose Ausländer, Gregor von Rezzori, Alfred Gong, Selma Meerbaum-Eisinger, um nur die bekanntesten Namen zu nennen, gewiss ärmer wäre. Es war Theodor Fontane, der in einem seiner letzten Briefe einen Stoßseufzer in diese Richtung aussandte:

Ach, Professor Lasson hatte recht, als er mir mal zwischen Berlin und Steglitz sagte: 'Ein wirkliches Interesse für deutsche Literatur hat nur die Karl-Emil-Franzos-Gegend.'

Franzos hat die Gegend, aus der er kam, zu einem Begriff werden lassen, der seinen Namen trägt. Er kam quasi als Pionier, kam zu früh (oder zu spät, je nachdem) und kam freiwillig aus der »K. E. Franzos-Gegend«, einer Landschaft, die Paul Celan sechzig Jahre später mit einer inzwischen vielzitierten Wendung als eine Gegend bezeichnete, in der Menschen und Bücher lebten. Hätte aber Paul Celan 1960 in seiner Büchnerpreisrede nicht auf seinen wiedergefundenen Landsmann Karl Emil Franzos hingewiesen und auf dessen Herausgabe der Ersten Kritischen Gesammt-Ausgabe von Georg Büchner’s Sämmtlichen Werken und handschriftlichen Nachlaß (1879) aufmerksam gemacht und ihn dadurch nachträglich nobilitiert, Franzos wäre hier wohl völlig vergessen – wie auch dort, wo er sich einst auf den Weg gemacht hat.

Karl Emil Franzos sollte an allen seinen mit ihn verbundenen Orten gewürdigt werden, in Czortków und Czernowitz, seinem Vorhof zum erträumten Paradies Deutschland, in Graz und Wien, wo er seine spannungsreichste und produktivste Zeit verbracht hat und in Berlin. Von allen ist er geprägt worden, von allen hat er sich wieder abgestoßen, zuletzt auch von Berlin, seinem desillusionierten preußischen Traum, der für ihn verbunden war mit den Namen der deutsch-jüdischen Aufklärung und Klassik: Moses Mendelssohn, G. E. Lessing, Schiller und Heine, Börne und Büchner. Wenn auch die Idee der deutschen Kultur für Franzos unzerstörbar blieb, ist er doch politisch und innerlich, auch in Berlin, auf Distanz gegangen. Er hat sich zuletzt, wenn er nicht zwischen Don und Donau, Dessau und Dresden auf Reisen war, an seinen Schreibtisch geflüchtet, von wo er seine literarische Halbjahresschrift »Deutsche Dichtung« (1886-1904) herausgab. Er hat sich nie recht den Berlinern assimiliert. Er tauchte in der Berliner Schriftstellerwelt selten auf, heißt es in einem Nachruf, war nie zu sehen, wo das literarische tout Berlin sich versammelte. Er distanzierte sich schließlich von seinen Aktivitäten hinsichtlich einer großdeutschen Lösung, der er lange, auch als Publizist anhing, indem seine Zeitschrift gegen die sich breit machende Deutschtümelei und deutschen Chauvinismus Stellung bezog. Er machte sehr deutlich, dass der in dieser Zeit massenhafte poetische Patriotismus in seiner Deutschen Dichtung keinen Platz finden würde und schrieb:

Welches Volk … soll auf Dauer gesund bleiben, wenn ihm unablässig dieses Hurrahgeschrei von seiner eigenen Herrlichkeit und der Erbärmlichkeit aller anderen Völker die Ohren füllt?!

Er lebte fast 20 Jahre in Berlin und starb in der Reichshauptstadt, wo der blühende Salon-Antisemitismus des Kaiserreichs den Ton angab und den Weg in eine Richtung wies, dessen Konsequenz Franzos erspart blieb. So findet sich sein Grab unversehrt auf dem größten jüdischen Friedhof Europas in Berlin Weißensee. Sein Werk kann in einer Auswahl seiner besten Prosaarbeiten und einer kritischen Ausgabe seiner Kulturbilder entdeckt werden. Mit einer ausführlichen, bisher nie geschriebenen Biographie dieses Mannes, geriete ein wenig beleuchtetes Assimilations-Kapitel in den Blick, eine Generation vor Joseph Roth, dem 1894 geborenen und berühmten Landsmann, in dessen Leben und Werk sich das im Pojaz schon vorgezeichnete Schicksal eines emanzipierten galizischen Juden wiedergespiegelt sehen lässt, der entwurzelt von seiner galizischen Heimat, trotz des überragenden künstlerischen Erfolgs, stets mit seiner Identität zu kämpfen hatte.

Oskar Ansull lebt in Berlin und hat mehrere Gedichtbände veröffentlicht. Als Rezitator stellt er literarische Entdeckungen vor, empfiehlt Anderes und Andere, liest aus den Manuskripten der Vergessenen oder mischt die Bekannten so, dass sich neue Zugänge und Perspektiven eröffnen. Seine »Lesebühne« umfasst inzwischen mehr als 50 Titel. Einige Lesungen wurden vom Rundfunk aufgezeichnet.

Der Pojaz
Eine Geschichte aus Ostgalizien