Deutsche Architektur in Prag in den Jahren 1900 bis 1914 • Vortrag von Prof. Jindřich Vybíral in der Berliner »Galerie im Saalbau«
André Werner
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Ein Lichtbildervortrag im Rahmen der Ausstellung »Begleichung der Schuld. In Prag tätige deutschsprachige Architekten 1900–1938«

Die Leser der tschechischen Zeitschrift Volné Směry waren nicht amüsiert: »Ein Monstrum germanischer Rohheit« sei dies, »das nicht in unser Mütterchen Prag passt«, wo ansonsten »gottlob in nationaler Weise und Tradition des Barock, der Renaissance oder im Stil der gemäßigten Sezession« zu bauen sei, wetterten sie 1908 über das neue Gebäude des Wiener Bankenvereins in der Straße Na Přikopě/Am Graben. Auslöser und Zielscheibe der polemischen Kritik war der deutsche Architekt Josef Zasche. Der Baukünstler stand im Zentrum des Vortrages Deutsche Architektur in Prag 1900–1914, den Prof. Dr. Jindřich Vybíral von der Prager Hochschule für angewandte Kunst am Donnerstagabend in der Berliner »Galerie im Saalbau« hielt. Dort im Stadtbezirk Neukölln ist derzeit ein Teil der Ausstellung Begleichung der Schuld. In Prag tätige deutschsprachige Architekten 1900–1938 zu sehen, der Vortrag gehörte zum Rahmenprogramm.

Der derart kritisierte Zasche war dabei nach den Worten von Prof. Vybíral noch der einzige von zahlreichen deutschsprachigen Architekten, der zumindest von den tschechischen Kollegen nicht nur toleriert, sondern dessen Arbeit akzeptiert, teilweise sogar begeistert aufgenommen wurde. Im Allgemeinen aber gestaltete sich die Situation für deutschsprachige Baukünstler an der Schwelle zum 20. Jahrhundert schwierig. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts sahen sich die Deutschen als die kulturell tonangebende Nationalität Prags. Der rasante Aufstieg der tschechischen »nationalen Wiedergeburt« vor allem in den Jahren ab 1880 führte jedoch zu einem Konkurrenzkampf, der auf nahezu allen Feldern des öffentlichen Lebens und insbesondere der bildenden Kunst und Architektur ausgetragen wurde. Um 1900, so der Prager Maler und Kunstprofessor Karl Krattner, stellten die Deutschen eine »Entzauberung ihres Unvermögens« fest.

Ihnen wurde die Rolle der rückwärtsgewandten Bewahrer zugeteilt. Sie nahmen diese Rolle der Bodenständigen, die auf Ursprünglichkeit und kräftigen Archaismus setzten, z.T. auch bereitwillig an – in Abgrenzung von der »oberflächlichen Effekthascherei« der an Westeuropa orientierten Tschechen, deren alleiniges Vermögen darin bestünde, so ein zeitgenössisches Zitat, »Paris nachzuahmen«. Die Gräben, die zwischen den »Traditionalisten« und den »Modernen« verliefen, wurden mehr und mehr mit denen zwischen den Nationalitäten gleichgesetzt. Jede fachliche Auseinandersetzung um »modern« oder »bewahrend« wurde so mit nationalen Ressentiments aufgeladen, tatsächliche künstlerische Gemeinsamkeiten und Anknüpfungspunkte überdeckt. »Alles wurde zum Politikum, auch die Kunst und was sie bildet« (Karl Krattner). Dass es abseits der politischen Grabenkämpfe weniger rigide zuging und sich die unterschiedlichen Stilrichtungen nicht immer an der Volksgruppenzugehörigkeit festmachen ließen, zeigte der Vortrag von Prof. Vybíral. So habe sich z.B. in der gegenseitigen Wertschätzung von Zasche und dem bedeutenden tschechischen Architekten Jan Kotěra gezeigt, dass man durchaus miteinander ausgekommen sei – »jedenfalls solange es nicht ums Geschäftliche ging«.

Josef Zasche wurde 1871 in Gablonz/Jablonec nad Nisou geboren, im selben Jahr wie auch Kotěra und Adolf Loos. Nach dem Studium in Reichenberg/Liberec und an der Akademie der Künste in Wien bei Karl Hasenauer ging er 1894 nach Prag, wo er zunächst Friedrich Schachner beim Bau der Böhmischen Sparkasse assistierte und danach als selbstständiger Projektant arbeitete – als einziger Deutscher seinerzeit, wie Prof. Vybíral betonte. Er zeichnete als Autor verschiedener bedeutender Bauwerke verantwortlich, darunter für die 1904/05 erbaute Villa für den Bildhauer und Myslbek-Schüler Karl Wilfert und dessen Frau Maria in Prag-Bubeneč. Das nahezu ornamentfreie, allein durch die Anordnung des Grundrisses und der Dach- und Giebelkonstruktion wirkende Haus sei für ihn, so der Prager Kunstprofessor, »das erste moderne Haus in Prag, auch wenn dies in den Ohren meiner tschechischen Kollegen oft fremd klingt«. Neben dem erwähnten Haus des Wiener Bankvereins überzeugen die Paläste Zu den drei Reitern/U tří jezdců insbesondere durch die »originellen Flaggen-Elemente« an der Fassade, und der Palast der Industriegesellschaft mit seinen Applikationen. 1908 baute Zasche die Konzerthalle für die Jubiläumsausstellung, die mit einem Konzert unter der Leitung Gustav Mahlers eingeweiht wurde, und ab 1912 beteiligte er sich an der Neubebauung eines der interessantesten Grundrisse am Senovážné náměstí in der Prager Neustadt. Leitender Architekt war hier Theodor Fischer aus München, Zasche übernahm später die Ausführung des komplizierten Baus, der als Sitz der Versicherungsgesellschaft der Zuckerverarbeitenden Industrie (Asekurační spolek průmyslu cukrovarnického) diente. Gerade an dieser »Architektur ersten Ranges« macht Prof. Vybíral die Stärke der deutschen Architekten aus: den »besseren Sinn für die Umgebung«, das Aufnehmen der verschiedenen Formen der Prager Fassadenkunst. Gemeinsam mit Jan Kotěra realisierte er die Allgemeine Pensionsanstalt am Rašin-Ufer/Rašínovo nabřeží (1912/13) und projektierte Neubauten für die deutsche und die tschechische Universität, die jedoch nicht ausgeführt wurden.

Nach der Gründung der ČSR 1918 wurde der Ruf nach einer neuen National-Architektur der Tschechen besonders laut, für deutsche Architekten blieben so oftmals nur die von einheimischen Deutschen oder mit ausländischem Geld finanzierte Projekte. Um so erstaunlicher und beredetes Zeugnis für seine Bedeutung, dass Josef Zasche weiterhin größere Projekte ausführen konnte, so gemeinsam mit Pavel Janák den ungewöhnlichen Palác Adria in der Jungmannová ulice/Jungmann-Gasse sowie verschiedene Villen, Schulen und Amtsgebäude. In seiner Geburtststadt Gablonz/Jablonec verewigte er sich mit zwei Sakralbauten, einer Jugendstil-Kirche zu Beginn seiner Laufbahn (1903) und einem modernen Kirchenbau (1930).

Nach dem Zweiten Weltkrieg musste Zasche das Land 1946 verlassen – trotzdem sich tschechische Kollegen mit einer Petition für den Verbleib des mittlerweile 75jährigen Pensionärs eingesetzt hatten. Josef Zasche siedelte nach Schackensleben in der Nähe von Magdeburg um, wo er 1957 vollkommen vergessen starb. Sein Nachlass wurde vernichtet.

Der zweite Architekt, dessen Wirken der Vortrag beleuchtete, war Friedrich Kick, der 1867 in Prag als Sohn eines Maschinenbauprofessors geboren wurde (gestorben 1945). Er studierte ebenfalls in Prag und Wien bei Hasenauer und Otto Wagner. Als »modernen Traditionalisten« bezeichnete ihn Prof. Vybíral, der sich theoretisch sehr modern, in der praktischen Umsetzung dagegen »ein bisschen zurückhaltender« geäußert habe. Kick nutzte für seine Vorstellungen eine Nische am damaligen Prager Technikum: Weil er keine Chance sah, seine Ideen auf den klassischen Lehrstühlen des Fachs zu realisieren, nahm er eine Professur für Nutzbau an und konnte auf diesem weniger im Fokus stehenden Gebiet fortan als einziger Prager Professor moderne Architektur lehren. Zu seinen bedeutendsten Bauten zählen das – noch stark an Helmer und Fellner orientierte – Theater in Aussig/Ustí nad Labem, eine Kapelle, die durch ihre Integration in den umliegenden Wald einzigartig sei, und insbesondere das Rathaus im nordböhmischen Bílý. Während bei Zasches Entwicklung eine »klare Richtung« zu beobachten sei, würden bei Kick gerade die Realisation verschiedener Stile auffallen. Gemeinsam sei beiden das Bestreben, »keine Negation, sondern die Weiterführung der Geschichte« zu erreichen. So könne man zwar grundsätzlich an der vereinfachenden Einschätzung festhalten, »die Tschechen wollten Europäer« sein, während die Deutschen für die Bodenständigkeit stünden, doch seien die Nuancen wichtig. Und abgesehen davon, dass, wer um 1900 als modern galt, oft bereits 1918 zu den Bewahrern gezählt wurde, gebe es für ihn nicht nur eine, sondern mehrere Modernen, die nicht chronologisch linear auftraten, so Prof. Vybíral. Josef Zasche sei es für ihn schon allein wegen seiner »Originalität«.

Im erwähnten Streit um den Palast des Wiener Bankenvereins sprangen ihm damals Vertreter des tschechischen Künstlerklubs Mánes zur Seite und lobten den Bau als »sentimentfreie, sachliche Architektur«, eines »modernen Bankgebäudes würdig«, die Redaktion der Volné Směry urteilte anerkennend: »ein echtes Großstadthaus«.

Jindřich Vybíral: Deutsche Architektur in Prag in den Jahren 1900 bis 1914
Vortrag im Rahmen der Ausstellung »Begleichung der Schuld«

Begleichung der Schuld
Ausstellung über in Prag tätige deutschsprachige Architekten 1900–1938