Laudatio von Reiner Kunze auf den ukrainischen Literaturwissenschaftler und Übersetzer Prof. Petro Rychlo aus Anlass der Verleihung des Georg Dehio-Kulturpreises 2015
von Reiner Kunze

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

der Preisträger hat darum gebeten, über ihn selbst nur das Al-
lernötigste zu sagen und vornehmlich darüber zu sprechen, wie
schwer es ist, ein Gedicht zu übersetzen. Weder das eine, noch
das andere ist in fünfzehn Minuten möglich, mir stehen aber für beides nur fünfzehn Minuten zur Verfügung.

Einen Bruchteil des Allernötigsten über Professor Dr. Rychlo

Professor Rychlos Werk materialisiert sich in Stapeln von Übersetzungsbänden, u.a. der zehnbändigen zweisprachigen Ausgabe der Gesammelten Gedichte Paul Celans, von Monographien, u.a. der Abhandlung Jüdische Identitätssuche in der deutsch-sprachigen Dichtung der Bukowina, von Werkherausgaben, u.a. der deutschsprachigen Prosa der ukrainischen Klassikerin Olga Kobylanska, von Anthologien, u.a. der deutschsprachigen Lyrik der Bukowina, und von literar- und kulturwissenschaftlichen Sammelbänden und Zeitschriften mit Hunderten von ihm verfaßten Rezensionen, theoretischen Aufsätzen und Essays.

Das Singuläre dieses Werkes besteht jedoch darin, daß in ihm eine Tradition aufersteht, die zu den bewundernswürdigsten Kulturleistungen Mitteleuropas zählt. In Czernowitz, der Hauptstadt der Bukowina, lebten u.a. Deutsche, Österreicher, Ukrainer, Rumänen, Juden, Polen und Armenier. In einem Endevergangenen Jahres in München gehaltenen Vortrag sagte Professor Rychlo:

»Die kleine Bukowina hat vielleicht zum ersten Mal so deutlich und überzeugend demonstriert, wie produktiv das harmonische Zusammenleben mehrerer Völkerschaften sein kann, die durch gegenseitige Sympathie und humanistische Kultur verbunden sind.«

1940 beendete Stalin dieses schöpferische Zusammenleben brutal. Petro Rychlo schreibt im Nachwort zu der von ihm herausgegebenen Czernowitz-Anthologie:

»Erst nach der großen Wende 1991 beginnt man sich wieder … auf die nationale Identität und Multikulturalität im ukrainischen Černivci zu besinnen. Langsam, nur zögernd erwacht das historische Gedächtnis an jene Zeit, in der die Stadt Teil des mitteleuropäischen kulturellen Raumes war.«

Petro Rychlos Werk selbst ist mitteleuropäischer kultureller Raum ukrainischer Identität. Europa schuldet dem heutigen Preisträger großen Dank.

Drei Beispiele, wie schwer es ist, ein Gedicht zu übersetzen

Erstes Beispiel: Die mißlungene Übersetzung
Ein Buch, das in Anlehnung an ein Gedicht von Peter Huchel Die Chausseen der Dichter betitelt war, sollte auf englisch erscheinen. Der Titel erwies sich jedoch als unübersetzbar, weil man im Englischen für das Wort »Chaussee« nur das im Großen Oxford-Duden als veraltet apostrophierte »highroad« und im amerikanischen Englisch nur »highway« kennt. Mein englischer Schwiegersohn sagte mir, bei »highroad« denke er aneine mittelalterliche Landstraße, an der die Wegelagerer den herrschaftlichen Kutschen und den Planwagen der Kaufleute auflauerten, nicht aber an die brandenburgischen Chausseen, die Huchel meint. Was man in den USA unter »highway« versteht, muß ich nicht erklären. Der Londoner Verleger sah sich  deshalb nach einem anderen Titel um und wurde fündig bei Hölderlin, von dem er im Buch den Vers zitiert fand »und wozu Dichter in dürftiger Zeit«. Das Buch erhielt den Titel In dürftiger Zeit.

Das Englische verfügt über mehrere Wörter für »dürftig«, aber über keines, das dem entspricht, was Hölderlin in seinem Gedicht Brot und Wein unter »dürftig« versteht. Für ihn sind jene Zeiten dürftig, die »kein kühneres Leben« erlauben, Zeiten, in denen man nicht aufbrechen kann »zu höchsten Freuden«. Der Verleger griff jedoch auf die im Englischen gängige Übersetzung dieses Verses zurück, die »and what use are poets in time of need« lautet (»und was nützen Dichter in Zeiten der Not«), so daß das Buch schließlich unter dem Titel erschien In Zeiten der Not. Die Übersetzung »und was nützen Dichter in Zeiten der Not« ist jedoch nicht nur irreführend, sondern auch eine Verkennung Hölderlins, denn dieser hätte die Bedeutung des Dichters in Zeiten der Not wohl kaum in Frage gestellt. Aus dem Titel Die Chauseen der Dichter wurde In dürftiger Zeit, und aus In dürftiger Zeit wurde In Zeiten der Not. Manchmal ist es schwer, ja unmöglich, auch nur drei Wörter eines Gedichts getreu zu übersetzen.

Zweites Beispiel: Die geniale Übersetzung
Die Tschechen hadern mit Gott. Sie fühlen sich diskriminiert, weil er sie in ein Land ohne Meeresküste gesetzt hat. Vor diesem  Hintergrund entstand Jaroslav Seiferts selbstironisches Gedicht Friedhof in Genua, in dem er die Genuesen beneidet, zwei Häfen zu besitzen. Das Gedicht endet mit den Versen:           

Dva přístavy
ó Janovane
Moře se vzdouvá
a neustane

Život a moře život a moře

Wortwörtlich heißt das:

Zwei Häfen
o Genuese
Das Meer bäumt sich auf
und wird nicht innehalten

Leben und Meer Leben und Meer

H.C. Artmann hat die Verse so übersetzt:

Zwei Häfen
ihr Genuesen
An Land ist noch
keiner genesen

Seemannslos Seemannslos

Ein Gedicht zu übersetzen heißt, es so zu übertragen, daß es in der Sprache, in die es übersetzt wird, wie ein Original wirkt, und daß dieses dem fremdsprachlichen Original höchstmöglich gleicht. Ein Gedicht zu übersetzen heißt, dasselbe zu schaffen, das ein anderes ist, ein Eigenes, das ein Fremdes bleiben muß. Artmanns Verse sind deutsche Verse, die dem Original in nichtsnachstehen. Selbst der Reim ist originalgetreu plaziert, und den Seufzer »Leben und Meer Leben und Meer« mit »Seemannslos Seemannslos« zu übertragen, ist ein nachdichterisches Glanzstück. Seifert soll ausgerufen haben: »To je lepší než originál!« (»Das ist besser als das Original!«) Als ich Artmann eines Tages zu seiner Übersetzung gratulierte und ihm sagte, die Idee, den Schluß mit »Seemannslos Seemannslos« zu übersetzen, sei genial, entgegnete er, er könne nichts Geniales daran entdecken. Ich brauchte in Wien nur in die Straßenbahn einzusteigen, da stehe an jeder Tür »Schaffnerlos Schaffnerlos«.

Drittes Beispiel: Die fast gescheiterte Übersetzung
In einem tschechischsprachigen Schauspiel des heute auf französisch schreibenden Autors Milan Kundera gibt es einen Schlager, der eine bedeutende dramaturgische Rolle spielt und in jedem der vier Akte mit einer neuen Strophe wiederkehrt. Das Schauspiel war bereits übersetzt, der Verlag drängte, aber im Refrain des Schlagertextes befand sich ein unabdingbares Wortspiel, das nur auf tschechisch möglich ist. Kundera hatte ein anzügliches tschechisches Wort erfunden, indem er einen Buchstaben aus dem Wort »sich ausziehen« in das Wort »Fräulein« transplantiert hatte. Der Refrain des Schlagers lautete sinngemäß:

Wenn Sie ein Fräulein sind, also jemand, der sich auszieht,
so ziehen Sie es aus, das Kleid!

Auf tschechisch:

Když jste, slečno, svlečna,
svlékněte si ty šaty

Im Deutschen zu den Wörtern »sich ausziehen« und »Fräulein« ein Wortspiel zu finden, das ebenso scheinlogisch und anzüglich ist wie das Wortspiel Kunderas und sich zudem noch singen läßt, kann kein Übersetzer zusichern. Wie der Dichter ist auch der Nachdichter gelegentlich angewiesen auf einen Gnadenakt des Unbewußten. Nach sechswöchigem, zuweilen verzweifeltem Bemühen um eine wortspielerische Entsprechung oder eine Wortneubildung, fiel mir in einem Augenblick, in dem ich nicht an die Übersetzung gedacht hatte, die Wendung ein:

Ledig sein heißt ledig sein,
fräulein, auch des kleides.

Damit Sie die dramaturgische Bedeutung dieses Schlagers erahnen und die Unabdingbarkeit der Übersetzung dieser zweiVerszeilen erkennen können, lese ich Ihnen den Text in leicht gekürzter Fassung vor:

Ledig sein heißt ledig sein,
fräulein, auch des kleides.
Frauen nur, die reizlos sind,
lügen mit dem kleide.
Sie, mein ledig schönes kind,
brauchen keine seide.

Warum nicht, mein lieber? Ich finde,
die kleider sind nur für die andern,
und das für die andern
verschwinde!
Zum spaß deiner augen und jeder
spiegelnden fläche
will ich brav ledig sein, ledig
bis auf die wäsche.

Ledig sein heißt ledig sein,
fräulein, auch der wäsche.
Einen mann erfreuen Sie
mit der haut am meisten …

Warum nicht, mein lieber, ich finde
die wäsche ist nur für die andern,
und das für die andern
verschwinde!
Und weil ich verstehe, weshalb ihr
gern nach uns schaut,
will ich auch ledig sein, ledig
bis auf die haut.

Ledig sein heißt ledig sein,
fräulein, auch der haut …

… Ich habe doch anstand und halte,
was ich versprochen:
Ich werde gleich ledig sein, ledig
bis auf die knochen.

Ledig sein heißt ledig sein,
fräulein, auch der knochen …

… ich geh dir, mein lieber, entgegen
frohen gesichts,
und werde gleich ledig sein, ledig
bis auf das nichts.

Epilog mit Verneigung

Professor Rychlo und ich, wir haben vor kurzem anderthalb Tage beisammen gesessen und fast ausnahmslos nachdichterische Problemfälle erörtert. Der Autor, der einen Übersetzer findet wie Petro Rychlo, kann sich glücklich schätzen.

Ich danke Ihnen.