Anlässlich der Verleihung des Georg Dehio-Buchpreises 2006
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Ausgezeichnet mit dem Georg Dehio-Buchpreis 2006: Karl-Markus Gauß und Thomas Urban

gehalten am 29. November 2006 in Berlin

Die Grenze ist der eigentlich fruchtbare Ort der Erkenntnis.
Paul Tillich

Karl-Markus Gauß ist einer der recht wenigen Schriftsteller, die ich betont dialogisch gelesen habe. Das heißt, ich habe seine Bücher nicht als abgeschlossene, in sich eingeschlossene Äußerungen erlebt, die eine endgültige Wahrheit des Autors über einen Gegenstand aussprechen sollen, sondern als Repliken eines Partners im Dialog, als Äußerung, die darauf angelegt ist, eine Seite des Gegenstandes, von dem sie spricht, zu beleuchten und auszudrücken, und das auch deutlich zeigt. Meine Lektüre der Gaußschen Bücher war also immer ein Gespräch, darauf gerichtet, seinen Gegenstand mindestens von zwei Seiten zu beleuchten und dazu beizutragen, dass sich die subjektiven Wahrheiten der beiden Gesprächspartner im Raum zwischen ihnen, also dort, wo sich vermutlich der Gesprächsgegenstand befindet, gegenseitig ergänzen, durchdringen, relativieren, in Frage stellen oder bestätigen. Ich will sagen, dass ich, während ich die Lektüre der Gaußschen Bücher genoss, unzählige Male über das, was ich las, nachdachte und sprach, indem ich auf eine konkrete Äußerung reagierte, mich mit einer konkreten Stelle in dem jeweiligen Buch auseinandersetzte, bei mir selbst überprüfte, wieweit ich einem Teil oder einer Schlussfolgerung des Textes, den ich las, zustimmte oder nicht zustimmte. Sie können mir glauben, ich habe das oft und gern getan.

Um so schwerer ist die Aufgabe, die ich jetzt habe, da ich über Gauß und seine Bücher zum ersten Mal im Beisein der Öffentlichkeit nachdenken muss, mit der Verpflichtung, anderen und mir jene Freude, die mir die Lektüre der betreffenden Bücher bereitete, zu erklären. Um meiner Verpflichtung zu entsprechen, muss ich die Bücher von Gauß als Ganzheit betrachten, die Form dieser Ganzheit definieren, ihre Charakteristiken benennen, kurzum, ich muss das Werk von Gauß aus der Außenperspektive betrachten, nachdem ich es jahrelang aus einer inneren betrachtet habe wie einer der Partner in dem Gespräch, das von diesem Werk nicht nur ermöglicht, sondern auch initiiert wird. Alle, die Gauß gelesen haben, werden mir, glaube ich, zustimmen, dass das keine einfache Aufgabe ist, und das aus vielen Gründen. Bereits die technischen Gründe, die als erstes ins Auge springen, zeugen von der Schwere meiner Aufgabe: das Werk von Gauß ist umfangreich, und schon deshalb ist es schwer, es mit einem Blick zu umfassen, seine Grenze, seine Form zu beschreiben, in den Klassifizierungsschemata einen Platz dafür zu finden und es zu klassifizieren.

Versuchen wir eine kurze Inventur: Karl-Markus Gauß schreibt Literaturkritiken für angesehene deutschsprachige Blätter wie Die Zeit, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Neue Zürcher Zeitung, Die Presse. Seine Kritiken sind oft neuen Büchern von Autoren aus Ost- oder Südosteuropa gewidmet, können aber keineswegs auf diesen Kreis beschränkt werden. Diese Kritiken zeigen eine beneidenswerte Vertrautheit mit dem kulturellen und literarischen Kontext, aus dem die einzelnen Autoren kommen, demonstrieren eine maximale Kompetenz in Fragen der literarischen Technik und der formalen Analyse, aber kein einziger Gaußscher Text über ein Buch beschränkt sich auf einen ruhigen neutralen Bericht über die technischen und formalen Eigenheiten des Buches, den kulturellen und literarischen Kontext, aus dem der Autor kommt, und die allgemeine Bewertung, wie es sich gehört, wenn es sich um Literaturkritik handelt. Seine Kritik ist nie neutral, sie schreibt sich in das Buch ein und bemüht sich, Gründe für seine Lektüre zu entdecken, deshalb ist die Kritik von Gauß immer auch ein Gespräch mit dem Buch ebenso wie ein Selbstgespräch anlässlich des betreffenden Buchs. Darin weist die Kritik der aktuellen Literaturproduktion Berührungspunkte mit einem anderen Segment der Arbeit von Gauß auf, das man bereits in Buchform genießen kann, mit der literarischen Essayistik wie der in seinen Büchern Tinte ist bitter – Literarische Porträts aus Barbaropa und Die Vernichtung Mitteleuropas. Gaußens Essays über Miroslav Krleža und Ciril Kosmač, Prežihov Voranc und Bruno Schulz, Theodor Kramer und Albert Ehrenstein, Danilo Kiš und Hermann Ungar, Fulvio Tomizza und Ismail Kadare wie auch eine Reihe anderer Autoren, die ich vielleicht weniger kenne oder weniger mag als die erwähnten, die aber wahrscheinlich nicht weniger bedeutend sind, korrespondieren in gewisser Weise mit seinen Kritiken der aktuellen Literaturproduktion. Die einen wie die anderen erforschen einen kulturellen und geistigen Raum, die einen wie die anderen verzichten dem Einschreiben in den betreffenden Text zuliebe auf Neutralität, die einen wie die anderen sind Gespräche mit Büchern oder einem Werk, mit einem Gegenstand oder einer Frage, aber die ganze Zeit auch Selbstgespräche, die offen nach einer Antwort auf die Grundfrage jeder Lektüre suchen – »Warum sollte ich das lesen?«, d.h. »Warum lese ich das?« – Ich gebe zu, dass ich diese Gaußschen Bücher, d. h. das ganze literarisch-essayistische Segment seines Opus, außerordentlich mag, nicht nur weil ich in Gaußens literarischer Essayistik luzide Überlegungen und geistreiche Analysen einer Reihe von Autoren finde, die ich selbst schätze und von denen ich lerne, sondern vielleicht noch mehr, weil Gaußens Essay eigentlich ein Dialog mit dem Werk ist, über das er spricht, mit der Epoche und Kultur, der er sich zuwendet, eine aufregende Gegenüberstellung des Subjektes, das spricht, und des Gegenstandes, über den das Subjekt spricht und dem es, entgegen der traurigen Praxis unserer Zeit, erlaubt, ein Subjekt zu sein und sich als solches zu verhalten. Ja, genau so: Gaußens Essay ist ein Dialog zweier Subjekte, die sich in ihrer vollen Konkretheit gegenüberstehen.

Ein anderes umfangreiches Segment der Arbeit von Gauß ist die sogenannte kulturpolitische Publizistik (die Bücher Der wohlwollende Despot, Ritter, Tod und Teufel, Ins unentdeckte Österreich, Das Europäische Alphabet), die ich lieber Prosa über kulturelle Identität und ihre eminent grenzhafte Natur nennen würde. Karl-Markus Gauß befasst sich geistreich und hartnäckig mit den Fragen der österreichischen kulturellen Identität und dem Diskurs darüber, der europäischen kulturellen Identität und dem Diskurs über Europa, die kulturelle Identität und ihre konstitutiven Elemente, über die Natur der Identität und die Möglichkeiten, sie zu verstehen, zu benennen, zu beschreiben… In diesem Segment des Gaußschen Opus sind schon auf den ersten Blick, sowohl thematisch als auch methodologisch, Ähnlichkeiten mit den oben erwähnten Segmenten zu erkennen, um nicht zu sagen, Elemente der Kontinuität in seiner Arbeit. Auch in diesen Schriften sucht Gauß nach der Grenze als Ort, an dem die Form entdeckt und erkannt wird, auch in diesen Texten entdeckt er sich dem Gegenstand, über den er spricht, und lässt den Gegenstand sich ihm entdecken/offenbaren, sich dessen bewusst, dass einzig in der Gegenüberstellung zweier Subjekte, im Prozess des gegenseitigen Entdeckens/Offenbarens ein dialogischer Text entstehen kann, der offensichtlich eine Grundforderung seiner Poetik ist. Gauß offenbart uns Österreich als dichtes Netz von Grenzen und dann Europa als erweitertes Österreich und offenbart uns dabei, dass Österreich und Europa vor allem wegen ihrer »Grenzhaftigkeit« aufregend und anziehend sind, d. h. wegen der Tatsache, dass sie sozusagen aus einer unüberschaubaren Reihe kultureller Grenzen bestehen. Sind Österreich und Europa deshalb, wegen dieses dichten Netzes von Grenzen, Orte starker Identitäten und betonter »Eifersucht der kleinen Unterschiede«?

Ein besonderes Segment des Gaußschen Opus bildet, bedingt gesprochen, die Reiseprosa, eigentlich ein Genre, das sich einer Klassifizierung und einer eindeutigen Definition entzieht, weil es Reportage, Reisebeschreibung, Essay und Erzählprosa in sich vereinigt (in diesem Segment des Gaußschen Werks ist mir der Titel Die sterbenden Europäer am nächsten und am liebsten). Diese Bücher sind Minderheiten gewidmet, kulturellen und ethnischen Randgruppen, Ethnien, die aussterben, kulturellen Identitäten, denen das Verschwinden droht… Also wieder die Grenze, dieses mal eine neue Art Grenze und eine neue Perspektive, aber die alte, aus den früheren Büchern von Gauß bekannte Methode, die Methode des Kennenlernens des Gegenstandes, die eine dialogische Rede über ihn ermöglicht.

Und wieder ein besonderes Segment bilden die Texte wie die in dem Buch Der Mann, der ins Gefrierfach wollte gesammelten »Albumblätter«, Texte, die Essays und Erzählungen, Anekdoten und ironische Kommentare sind. Dabei nicht zu vergessen den Anthologen Gauß (Das Buch der Ränder), den Herausgeber Gauß, der, zumindest im Fallseiner Zeitschrift Literatur und Kritik, durchaus eine Autorentätigkeit ausübt …

Wie also ein Werk, das aus Reisebeschreibungen und Reportagen, Essays, Kritiken, Chroniken, Erzählprosa und Skizzen, Polemiken, Überlegungen zur Kulturpolitik, Anthologien und Aufzeichnungen über das Verschwinden besteht, beschreiben und definieren? Wie sich und anderen die Vollständigkeit dieses Werks erklären, wie die Linien der Kontinuität in diesem Werk sichtbar machen und die Elemente der Einheit, die dem Leser vollkommen klar sind, weil man sie bei der Lektüre spürt, aber für einen Betrachter von außen weniger sichtbar sind?

Dieses schwierige Problem löste wie viele andere mein großer Lehrer Miroslav Krleža für mich. Er war ein leidenschaftlicher Jugoslawe und den »professionellen Jugoslawen« deshalb immer ausgesprochen suspekt, weil er sein ganzes Leben lang leidenschaftlich über das Jugoslawentum nachdachte. Er war ein überzeugter Linker und deshalb schrieb er eine der ersten und die bis heute vielleicht überzeugendste Polemik gegen die parteiliche, dogmatische und ideologische Auffassung von Literatur. Er war so sehr Bürger und kulturelles Kind Mitteleuropas, wie man es überhaupt sein kann, und schrieb deshalb ein Leben lang seine Fragen, Zweifel, Verzweiflungen und Einwände hinsichtlich dieses kulturellen und politischen Raums auf. Schon in meiner Jugend verwendete ich, so für mich selbst, für das gesamte gewaltige Werk Krležas den Titel seiner polemischen Schrift Der dialektische Antibarbarus. So hatte Krleža seine Polemik gegen die ideologischen Deutungen der Literatur genannt, in der er sich ihren Vereinfachungen entgegensetzte und gleichzeitig auf seinen großen Lehrer Erasmus von Rotterdam verwies, der seinerzeit auch selbst mit einem Antibarbarus gegen Vereinfachungen anderer Art, aber gleichermaßen gefährliche, gekämpft hatte. Wenn ich traurig war, weil man Krleža angriff, und es griffen ihn immer Nationalisten und Antinationalisten, Kommunisten und Antikommunisten, Linke und Rechte an, erinnerte ich mich an die Tatsache, dass er sein ganzes Leben lang an einem gewaltigen Antibarbarus schrieb, an einer unendlichen und nicht zu vollendenden Schrift gegen Vereinfachungen und gegen den Verlust von Maß. Die Grundeigenschaften der Barbaren sind die Neigung zu Vereinfachungen, die Überzeugung, sie hätten immer recht, sie besäßen eigentlich die einzige letzte einfache Wahrheit, und das Fehlen des Gefühls für Maß. Gegen diese Eigenschaften in sich selbst und in seiner Kultur, in der Gesellschaft, in der er lebte, und in seiner politischen Bewegung, in seinem Volk und in seinem Staat, also in sich und um sich herum, kämpfte Krleža leidenschaftlich und beharrlich.

Mein großer Lehrer kam mir in den Sinn, als es galt, dieses Nachdenken vor Publikum über Karl-Markus Gauß zu beenden. Ich habe gezeigt, dass seine Denkweise seine Schriften zu einer Ganzheit verbindet, habe seine Besessenheit von der Grenze und von Grenzphänomenen gezeigt, habe gezeigt, wie gekonnt er den aktuellen Augenblick mit der tiefen Vergangenheit verbindet, indem er aufzeigt, wie sich das eine im anderen widerspiegelt, ich habe also den wohlmeinenden Gesprächspartner mehr als genug auf Elemente der Einheit in Gaußens Arbeit aufmerksam gemacht. Aber das ganze Unterfangen ist vergebens, wenn ich nicht mir und den Gesprächspartnern helfe, das Wichtigste zu begreifen – die Freude, die die Lektüre der Gaußschen Texte mit sich bringt. Hier ist mir mein großer Lehrer Krleža beigesprungen und hat mir durch sein Beispiel geholfen, eine der Quellen für die mit der Lektüre der Gaußschen Bücher einhergehende Freude zu erkennen. Auch Gauß schreibt wie mein Lehrer an einem großen, nicht zu vollendenden Antibarbarus und kämpft gegen alle Vereinfachungen in sich und um sich herum. Und wer gegen Vereinfachungen kämpft, ist darauf angewiesen, Nuancen aufzudecken, andere auf sie hinzuweisen, an die Schönheit der kleinen Unterschiede und ihre Wichtigkeit für das Leben zu erinnern. Indem er das tut, zieht er den Leser ständig in seinen Text hinein, als unterhielte er sich mit ihm. Und was gibt es Schöneres, Heiligeres und Wichtigeres als ein Gespräch mit einem klugen Menschen?!

Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber