Unter Schichten von Farbe, Putz und Staub liegt ein altes und vergessenes Kapitel Breslauer Geschichte. Restauratoren, Denkmalaktivisten und eine neue Generation social-media-begeisterter Einwohner holen es achtzig Jahre nach dem Ende des Krieges, nach Flucht und Vertreibung sowie Neubesiedlung zurück ans Licht. Mit Skalpell, Pinsel und Smartphone.
Kulturkorrespondenz östliches Europa, № 1446 | Zweites Quartal 2025
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Luiza Kostańska und ihre Kollegin Amelia Filipik sitzen auf einem Baugeländer und restaurieren die Eingangshalle einer Mietskaserne.

Unter Schichten von Farbe, Putz und Staub liegt ein altes und vergessenes Kapitel Breslauer Geschichte. Restauratoren, Denkmalaktivisten und eine neue Generation socialmedia-begeisterter Einwohner holen es achtzig Jahre nach dem Ende des Krieges, nach Flucht und Vertreibung sowie Neubesiedlung zurück ans Licht. Mit Skalpell, Pinsel und Smartphone.

In der linken Hand die Farbpalette ein rundes Tablett, überzogen mit dicken Klecksen in Ocker, Siena, Olivgrün und Schwarz. Die rechte Hand führt den feinen Pinsel über die Wand kaum sichtbar entstehen filigrane Linien, Farbschlieren, Maserungen. Es ist keine Malerei im klassischen Sinn, sondern eine Kunst der Täuschung.

»Das sind Polychromien, die eine Marmorwand imitieren und wie echter Stein aussehen«, erklärt Luiza Kostańska. Die 39-Jährige ist Restauratorin und sitzt mit ihrer Kollegin Amelia Filipek auf einem Baugerüst, das mitten in der Eingangshalle einer Mietskaserne in der Salzstraße/ul. Cybulskiego in Breslau/Wrocław steht. Tupfer für Tupfer versehen die beiden die Wände mit dem Marmorimitat.

»Manchmal muss man nur mit dem Skalpell kratzen und plötzlich kommt etwas Wunderschönes zum Vorschein«, sagt Kostańska. Denn oft sind es gerade die Zufälle, die den Ausschlag geben. Die Restauratorin war vor einiger Zeit zu einer Vorbesichtigung in der Mietskaserne. »Weil wir immer ein bisschen neugierig sind, haben wir angefangen, vorsichtig zu kratzen.« Und da war sie, die marmorierte Wand. »Da kommt Geschichte unter dem Putz hervor«, sagt die studierte Kunsthistorikerin. Eine Geschichte, die ähnlich wie das Marmorimitat der Eingangshalle lange Zeit nicht sichtbar war, über die nur wenig gesprochen wurde und die die Bewohner auch nicht wirklich interessierte.

 Als der Zweite Weltkrieg 1945 zu Ende ging, kamen Niederschlesien mit Breslau und auch Oberschlesien, Hinterpommern, das Ermland und Masuren unter die Adminis­tration der Volksrepublik Polen. Die deutsche Bevölkerung wurde zwangsumgesiedelt, floh entweder vor der Roten Armee oder wurde vertrieben. An ihre Stelle kamen sogenannte »Siedler« aus Zentralpolen oder aus ostpolnischen Regionen, die nun zur Sowjetunion gehörten, darunter etwa aus Wolhynien.

 Die einst deutschen Ostgebiete wurden von den kommunistischen Machthabern zu »wiedergewonnenen Gebieten« erklärt. »Wiedergewonnen«, da etwa Schlesien im Mittelalter slawische Herrscher hatte und es nach »Rückkehr« und »historischer Gerechtigkeit« klingt. Doch für viele der Neuankömmlinge war es keine Rückkehr, sondern ein Neuanfang in einer fremden, ruinierten Stadt.

Viele Mietskasernen blieben zwar stehen, aber ihre Geschichte war verstummt. Straßennamen wurden geändert und deutsche Inschriften übermalt. »Die Menschen dachten, das bleibt sowieso nicht lange in unserer Hand«, weiß Kostańska aus Erzählungen vieler Bewohner. Das erkläre, wieso kunstvolle Bemalungen oder Stuckverzierungen häufig nicht nur nicht gepflegt, sondern sogar verdeckt wurden. »Deshalb hat man nicht gepflegt, was da war obwohl es eigentlich schön war.«

Kostańska macht mit ihrer Mitarbeiterin Filipek eine Pause und geht vor die Tür. Am Türbogen nimmt sie ein Skalpell zur Hand und kratzt an der Wand, Putz perlt ab. Was nun freigelegt wird, sind Inschriften. Buchstabe für Buchstabe: »Polstermaterialien«. Für Kostańska sind solche Aufschriften keine Nebensache. Sie erzählt, wie ihre Mitarbeitenden und sie immer wieder deutsche Inschriften unter dem Putz entdeckt und restauriert haben.

»Begonnen hat es einmal mit einem wunderschönen Schriftzug ›Zigarren‹«, erinnert sie sich. »Ich habe gesagt: Ich restauriere das gratis, weil es schade ist, wenn das wieder verschwindet.« Seitdem gilt sie in Breslau als die Frau, die die deutschen Schriftzüge rettet. Auf ihren Social-Media-Kanälen postet sie immer wieder restaurierte deutsche Aufschriften auf Breslauer Mietskasernen und bekommt viele Likes.

Aber auch das: »Jemand hat mich mal als Mitglied der Fünften Kolonne bezeichnet«, erzählt Kostańska und bleibt dabei gelassen. In Polen ist das ein spöttischer Ausdruck für jemanden, der für Deutsche arbeitet. »Aber ich erkläre dann, dass man darüber reden sollte. Breslau war polnisch, böhmisch – und am längsten deutsch. Und warum sollte man das nicht zeigen?«

 

»Unter dem Putz schaut Breslau hervor« (Spod tynku patrzy Breslau) lautet eine Sammlung von deutschen Inschriften auf Instagram. Seit 2021 gibt es mit »Breslau schaut aus der Erde hervor« (Spod ziemi patrzy Breslau) eine Bürgerinitiative, die sich um das Erbe Breslaus und seiner Grabsteine kümmert und allein bei Facebook über 7000 Follower hat. Getoppt wird die »Social-Media-Denkmalpflege« von der Seite mit dem sperrigen Namen »Breslaus Bauinvestitionen« (Wrocław – Inwestycje budowlane) mit über 87 000 Followern. Ihr Betreiber ist der 27-jährige Filip Heliasz, einer von fünf Mitarbeitern von Kostańskas Restaurationsfirma. In der Pandemie fing er an, alte Mietskasernen zu posten, und über die Zeit entwickelte sich eine beliebte Fanpage, die über die Geschichte der Gebäude informiert und vor allem ein Gefühl für die Stadt vermittelt.

Für Heliasz begann alles mit einer Mischung aus Neugier, Entdeckerlust und dem Wunsch, der Stadt etwas zurückzugeben. »Es war einfach Interesse«, sagt er. »Ich wollte meine Zeit auf kreative Weise nutzen.« Er streifte mit der Kamera durch Breslau, hielt Fassaden fest, Details, verwitterte Schriften. Was als privates Projekt begann, wurde zu einer Art kollektivem Gedächtnis auf Social Media.

Achtzig Jahre nach dem Krieg sei daraus ein Projekt einer neuen Generation geworden, die keine Angst mehr habe, unter dem Putz auch deutsche Geschichte zu entdecken, glaubt er. »Breslau hat sich selbst wiederentdeckt, durch die Kraft der Bewohner«, sagt Heliasz. »Nicht, weil jemand von oben, von der Politik, gesagt hat, dass wir uns um unsere Stadt kümmern sollen, sondern weil wir selbst angefangen haben, hinzuschauen.« Zu dem Hinschauen gehören auch die Stadtspaziergänge, die er für seine Fangemeinde fast wöchentlich anbietet. Man kommt ins Gespräch und berichtet sich gegenseitig, was zu den Mietskasernen bekannt ist.

Aber es sind nicht nur Mauern, die Geschichten erzählen. Auch die Möbel, die oft seit Jahrzehnten unbeachtet in den Wohnungen stehen, sind stille Zeugen der Vergangenheit. »Oft landen sie auf dem Sperrmüll, weil eine Restaurierung zu teuer wäre«, sagt Katarzyna Tokarz. Die Werkstatt der Möbelrestauratorin im Stadtteil Carlowitz/Karłowice gleicht einem Museum für Alltagsgegenstände. »Ich finde jeden Tag etwas im Container: ein Stück Glas, einen Stuhl, einen alten Mörser. Und das meiste davon hat deutschen Ursprung«, erzählt sie.

Poniemieckie, so der polnische Ausdruck, »ehemals deutsch«. Lange Zeit war das kein wertfreier Begriff, er stand für etwas Fremdes, Verlorenes, manchmal auch Verbotenes. Poniemieckie werden auch in anderen Landesteilen Polens alte Gegenstände und Gebäude genannt, sagt Tokarz. »Heute kommen zunehmend Menschen zu mir und sagen: ›Das Möbelstück wohnte schon immer hier ich möchte es erhalten.‹«

Dass heute altes Inventar nicht mehr verbrannt, sondern gerettet wird, Inschriften nicht übermalt, sondern freigelegt werden, Stuckverzierungen nicht abgeschlagen, sondern aufwendig restauriert werden all das hat mehrere Gründe. »Früher hatten die Leute nichts. Nach dem Krieg, in der Zeit des Kommunismus, wurde nicht restauriert, da wurde gestrichen, übermalt, vereinfacht«, weiß Kostańska.

Und: »Man sollte nicht zu schön wohnen, alle sollten ja gleich sein im Kommunismus.« Es war lange nicht daran zu denken, Geld für aufwendige denkmalgerechte Sanierungen auszugeben. Die Mietskasernen waren zudem verstaatlicht und in einem schlechten Zustand, private Eigentümer selten. Im Zuge der Privatisierung in den 1990er Jahren wurde das anders. »Die Leute investieren heute, weil es ihr Eigentum ist, weil sich Polens Wirtschaft gut entwickelt und sie es sich leisten können.«

Der Wandel sei nicht nur finanziell motiviert, sondern auch kulturell, meint Kostańska. Über viele Jahrzehnte habe das deutsche Erbe geschwiegen, lag quasi unter Schichten von Farbe aber auch unter ideologischen Schichten. Mittlerweile gab es einen Bewusstseinswandel. Krimis von Marek Krajewski, der seine Geschichten im alten Breslau spielen lässt, waren bereits Anfang der 2000er Jahre frühe Vorboten. Heute wachse das Interesse, besonders unter Jüngeren, beobachtet Kostańska.

Sie merke das an den eigenen Mitarbeitern, die um die dreißig Jahre alt sind. »Die sehen das nicht mehr als fremd, sondern als etwas Spannendes an. Die wollen wissen, wie die Stadt früher aussah«, sagt die Restauratorin. »Sie gehen mit Stolz an die Arbeit.« Von Stolz spricht auch Filip Heliasz, der auf seinem Handy seine tausendfach gelikten Social-Media-Kanäle zum deutschen Erbe in Breslau zeigt. »Nun kümmern wir uns um das Erbe, es gehört jetzt uns«, sagt er. »Aber wir vergessen nicht, dass es einst jemand anderem gehörte, und restaurieren es mit Respekt für seine ursprüngliche Form, damit es für kommende Generationen bewahrt werden kann.«

Text und Fotos: Markus Nowak