Die Grenze zwischen Österreich und Tschechien befindet sich mitten in den Weinbergen beider Länder. Durch den von viel Sonnenschein verwöhnten Landstrich schlängelt sich das Flüsschen Thaya/Dyje. Die Region hat wegen ihres milden Klimas eine lange Weinbautradition. Das österreichische Weinviertel liegt nur einen Steinwurf entfernt, bis zur Hauptstadt Wien sind es eineinhalb Autostunden. In Klöstern und Adelshäusern hatte man mit dem Anbau der Reben begonnen und bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurde er weitgehend von deutschen Winzereien betrieben.
Nach der Vertreibung der Deutschen und dem Fall des Eisernen Vorhangs führen tschechische Winzer das Erbe der alten Weinbaukultur fort. Mährischer Wein war immer populär in Tschechien, seit ein paar Jahren aber nimmt die Beliebtheit stetig zu, auch in der Hauptstadt gibt es überall mährische Weinstuben.
Gemeinsam mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern erforschte Petr Eckl, Kurator im Südmährischen Museum in Znaim/Znojmo, in einem grenzüberschreitenden europäischen Projekt das kulinarische Erbe zwischen Böhmen, Mähren und Wien. »Belegt ist, dass bereits in der Zeit des Großmährischen Reichs im 9. Jahrhundert Weinreben angebaut wurden«, sagt der Germanist und Historiker, »obwohl sich der Weinbau damals noch nicht auf einem hohen Niveau befand.« Es gebe reichlich Nachweise ihrer Kultivierung, so fanden sich bei archäologischen Grabungen Weinsamen in mehreren großmährischen Siedlungen.
Znaim mit seinem Labyrinth von unterirdischen Gängen und Weinkellern gilt als das Zentrum dieser Region. Auch die Gemeinden südlich davon – Neu Schallersdorf-Edelspitz/Nový Šaldorf-Sedlešovice, Schattau/Šatov, Gnadlersdorf/Hnanice und Urbau/Vrbovec seien wichtig für die Weinkultur, ergänzt Eckl. Im Frühmittelalter waren es vor allem die Klöster, die den Traubenanbau vorantrieben, denn das edle Getränk wurde als Messwein genutzt. Im Jahr 1190 kamen die Prämonstratenser nach Znaim, um in Klosterbruck/Louka ein neues Ordenshaus zu gründen. Wobei Petr Eckl hervorhebt, dass der Weinbau sowohl hoch in der Gunst der Herrschenden als auch der Znaimer Bürgerinnen und Bürger stand. Diese pflegten in ihren Dörfern Weingärten. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in der Zeit der Erneuerung nach dem Dreißigjährigen Krieg, kam es zur »Verbäuerlichung«, die Weinberge wurden beackert.
Die Znaimer Weinregion ist für weiße aromatische Weine bekannt, für den Grünen Veltliner, aber auch Müller-Thurgau, Sauvignon Blanc und Riesling. Die größten Weinproduzenten der Region sind heute die Weinbetriebe Lahofer und Znovín, letzterer mit Sitz in Klosterbruck im ehemaligen Prämonstratenserkloster.
Daneben gibt es viele leidenschaftliche kleinere Winzer wie Josef Trávníček. Mit dem Verkauf von Landmaschinen hat der perfekt deutsch sprechende Mährer gutes Geld verdient. Ein Besuch in Burgund gab ihm vor einigen Jahren den letzten Anstoß, selbst zum Winzer zu werden. »Ich bin gern in der Natur, trinke gern guten Wein, aber vor allem mache ich das aus Liebe zu meiner Heimat, wo Wein ein wichtiger Bestandteil der Traditionen ist«, erzählt der Mittsechziger über seinen spät wahrgewordenen Lebenstraum.
Die Wanderung zu seinem Weinberg führt Trávníček durch Wiesen und Wälder. Der Fluss Thaya, der in Tschechien entspringt und sich an der österreichisch-tschechischen Grenze entlang schlängelt, ist eine wichtige Lebensader für Flora und Fauna. Es geht vorbei an einer Herde grasender englischer Ponys, sie leben im Freien und sind sozusagen die Bodenpfleger im Naturpark. Gut vor Wind geschützt und durch die Nähe der Thaya ideal bewässert, baut der Winzer hier im Naturschutzgebiet die Rebsorte Pálava an.
Der mährische Wein macht selig, wirklich glücklich aber wird man erst in Kombination mit einem grünen Gemüse, das mit dem Namen und Lebensgefühl der Weinstadt unmittelbar verbunden ist, der Znaimer Gurke. Das Markenzeichen ist Zutat vieler Gerichte wie des Znaimer Bratens. Die Anfänge des Gurkenanbaus, so erzählt Petr Eckl, gehen ebenso wie die Weinberge auf die Prämonstratenser aus Znaim und ihren Abt Sebastian Freytag von Czepiroh/Šebestián Freytag z Čepirohu zurück. Dieser habe von seinem Jurastudium in Padua und Siena Gurkensamen aus dem Mittelmeerraum in den Klostergarten gebracht. Und das warme und feuchte Klima der Znaimer Region tat sein Übriges. So begann man in Klosterbruck die Geschichte der Znaimer Gurke zu schreiben. Zunächst wurde das Gemüse als angebliches Heilmittel gegen die Pest verabreicht oder als Nachtisch mit Zucker oder Honig aufgetischt. Erst später geraten die Gurkensamen in die Bauerngärten. Die Landbevölkerung legte die Gurken in Salz- oder Essigwasser mit Dill oder Majoran ein, um sie zu konservieren.
Um 1870 entstanden erste größere Produktionsbetriebe. Die Znaimer Gurken wurden als Salzgurken, Pfeffer- oder Gewürzgurken und als Senf- oder Salatgurken verkauft. Eckl weist auf einen Zeitzeugen aus der »Blütezeit der Znaimer Gurke« hin. Der erste Kustos des Znaimer städtischen Museums, Anton Vrbka, schreibt in seinem Gedenkbuch der Stadt Znaim aus dem Jahr 1927: »Der Gurkenanbau ist rentabel, wenn Regen und Sonnenschein mithelfen und kalte Nächte der Pflanze nicht schaden. […] Mit dem Gurkenanbau beschäftigen sich die Ortschaften des Thayabodens, in letzterer Zeit immer mehr und mehr Ortschaften der Umgebung, dann auch die Umgebung von Bratelsbrunn (Březí) im Nikolsburger Bezirk (Mikulov), endlich auch Ortschaften im angrenzenden Niederösterreich. Aber nur die Gurke aus der nächsten Umgebung Znaims hat jenen feinen, aromatischen Geschmack, welcher ihr den Weltruf gesichert hat. Die Znaimer Gurke geht in die ganze Welt und wird überall geschätzt.«
Mehr als sechzig Firmen befassten sich zu diesem Zeitpunkt in Znaim mit der Konservierung von Gurken, bis zu 1500 Waggons wurden jährlich auf den Znaimer Markt angeliefert. Nach ganz Europa wurden sie versandt, erst in Holzfässern, später in Flaschen oder Gläsern, von fünf, zwei und einem Liter. In den 1920er Jahren wurden vier bis sechs Millionen Gläser jährlich produziert. Der Bedarf an Essig für den Aufguss zur Konservierung stieg dementsprechend an. Einer der bekannten Essig- und Gurkenproduzenten in Znaim war Rudolf Foglar mit seiner Konserven-, Likör- und Essigfabrik.
Nach dem Zweiten Weltkrieg knüpfte die Firma Znojmia an die alte Tradition an: Eine neue Rezeptur mit süß-sauren Gurken wurde entwickelt – vor allem für den Export. Die Firma gibt es nicht mehr, die Handelsmarke dagegen blieb: Nachdem sie an den norwegischen Mischkonzern Orkla verkauft worden ist, wird die traditionelle Sauergurke jetzt in der Türkei produziert. Aber auch in der Region um Znaim werden die legendären Gurken weiterhin angebaut, allerdings nur noch von Hobbygärtnern und kleineren landwirtschaftlichen Betrieben wie der Firma Bouda. Jeden August wird der Mythos der Znaimer Gurke von der heimischen Bevölkerung und vielen Angereisten mit einem Gurkenfest gefeiert, mit kulinarischen Spezialitäten um das grüne Gemüse und einem Wettbewerb um die beste Sauergurke. Doch die mährische Küche bietet weit mehr als nur eine »Saure-Gurken-Zeit«.
Eckl legt drei handgeschriebene Rezeptsammlungen auf den Tisch. Sie stammen aus dem 18. und 19. Jahrhundert, alle auf Deutsch. Typische Festtagsgerichte und Fastenspeisen aus böhmischen und österreichischen Kochbüchern von 1750 bis 1920 waren die Quelle, allesamt auf Deutsch aufgezeichnet. Tschechisch geschriebene Kochbücher erschienen erst unter dem Einfluss der Nationalbewegung, das erste 1826 von der ursprünglich rein deutschsprachigen Magdalena Rettig.
Buchteln, Kolatschen, Liwanzen – die österreichische Küche lässt grüßen. Legendär viel Raum nehmen in den selbstverfassten Kochbüchern die Knödelvariationen ein, als Suppeneinlage, Hauptspeise, Beilage oder als Süß- bzw. Nachspeise. Es finden sich Rezepte aus Kartoffeln, Semmeln (Brötchen), Brot, Grieß, Topfen (Quark) oder Mehl, in Salzwasser pochiert oder gedämpft oder in Schmalz herausgebacken. Eckl weist auf ein Rezept der Knoblauch-Suppe, der Česnečka. Die füllte zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem armen Bauernfamilien die Mägen. Bei den Deutschmährerinnen und -mährern hatte sie eine besondere Stellung: »Die Deutschen aßen sie vor allem an Fastentagen wie am Aschermittwoch.« An Festtagen, etwa am Kirchtag, gehörte unbedingt auch Fleisch auf den Tisch. Abhängig vom familiären Budget wurde Wild geschossen oder ein Hase, ein Huhn, eine Gans oder sogar ein Zicklein oder ein Schwein geschlachtet.
Weniger fleischlastig ist die Rezeptsammlung aus einem Kloster, die viele Mehlspeisen enthält und der einfachen Volksküche sehr ähnlich ist. Über viele Seiten engzeilig geschrieben, reiht sich Rezept an Rezept. An fast 150 Tagen sollten die Gläubigen auf Fleisch verzichten. Diese hohe Zahl der Fastentage gehe aus der klösterlichen Tradition hervor, sagt Eckl. »Neben den langen Fastenzeiten im Advent und vor Ostern verzichtete man auch vor allen Kirchenfesten, an Freitagen und Mittwochen.«
Weil Fisch als Alternative teuer war, waren die Köche erfinderisch, berichtet Eckl: Neben Eier- und Gemüsegerichten wurden Mehlspeisen und Schmalzgebackenes von Buchteln über diverse Strudel, Krapfen, Knödel bis hin zu Schmarrn in fantasiereichen Varianten auf den Tisch gebracht. Und natürlich werden all diese Gerichte am liebsten von einem Glas mährischen Weins begleitet. Auch die eingelegte Gurke? »Mluvíš z hladu«, sagt man in Tschechien, übersetzt: »Du sprichst aus Hunger«, gemeint ist: »Du redest Unsinn.« Die Mährer aber würden Ihnen eine Znaimer Gurke, eingelegt in süß-saurer Lake mit Karotten und Dill, und dennoch ein Glas trockenen Pálava hinhalten. Ein Rezept, das glücklich macht.