Ob Oscar Troplowitz, der Erfinder der Nivea-Creme, der Literat Paul Celan oder der Vorreiter der modernen Architektur Erich Mendelsohn – sie alle haben etwas gemeinsam: Als Juden aus dem östlichen Europa haben sie mit ihren Werken bis heute fortwirkende Spuren hinterlassen. Wie es heute – rund acht Jahrzehnte nach dem Holocaust – um das jüdische Erbe im östlichen Europa steht, versucht die KK-Redaktion herauszufinden. Eine Bestandsaufnahme anhand jüdischer Bauwerke und Relikte. Von Markus Nowak und Renate Zöller.
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Die wiederaufgebaute Synagoge in Königsberg. © AdobeStock/Birute Vijeikiene

»Plötzlich erschienen Skinheads und fingen an, Steine durch die Fensterscheiben zu werfen«, erinnert sich Jerzy Kichler an jenen Freitagabend des Jahres 1995. Gerade setzte er sich mit Schülern zum Gebet zusammen, da trafen Steine die Breslauer Synagoge zum Weißen Storch. Von Groll oder Angst ist keine Spur beim 76-Jährigen. Nicht, weil jenes Ereignis so lange zurückliegt. Sondern, weil die Steine etwas angestoßen haben, das bis heute einmalig ist im östlichen Europa. Denn anstatt zur Polizei ging Kichler zu den drei christlichen Geistlichen in der Nachbarschaft: den Katholiken, den Protestanten und den Orthodoxen. In ihren Predigten berichteten diese ihren Gemeinden von den Steinwürfen. Seitdem flogen keine Steine mehr. Dafür kam es immer häufiger zu Treffen zwischen den vier Breslauer Religionsvertretern und auch die Gemeindemitglieder öffneten sich für einen Dialog. »Das Viertel des gegenseitigen Respekts« wird das Quartier seitdem genannt und ist neben der Breslauer Altstadt und der Jahrhunderthalle ein Aushängeschild der Oder-Metropole.

Respekt und Toleranz ist heute auch das Ziel der Stiftung »Bente Kahan«. Nachdem sie an den Renovierungsarbeiten der Synagoge zum Weißen Storch beteiligt war, eröffnete sie darin 2010 die Ausstellung »Wiedererlangte Geschichte« (Historia Odzyskana), in der die Geschichte der Breslauer Juden seit den Anfängen dargestellt wird. Denn in einer Kontinuität mit den alten jüdischen Breslauern sieht auch Kichler die heutige jüdische Gemeinde, zu der derzeit rund 280 zahlende Mitglieder zählen. »Mit Kriegsunterbrechung gibt es unsere Gemeinde seit 1740, als Friedrich der Große die erste neuzeitliche Gemeinde in Breslau zuließ«, sagt der ehemalige Gemeindevorsteher. Formell nach polnischem Recht wurde die Gemeinde aber 1945 wiedergegründet, hauptsächlich von ehemaligen KZ-Insassen und Holocaust-Überlebenden aus Galizien. Man stehe mit einigen ehemaligen jüdischen Breslauern in Kontakt, auch wenn diese nicht mehr Mitglied in der heutigen Gemeinde seien. »Das kulturelle Erbe der einstigen Juden führen wir weiter« sagt Kichler.

Diese Kontinuität in Breslau ist möglich, da die Synagoge zum Weißen Storch das Novemberpogrom 1938 beinahe unbeschadet überstand und sich so in ihrem Umfeld eine neue Gemeinde bilden konnte. Anders in anderen Städten, die zum Deutschen Reich gehört hatten. So etwa Allenstein/Olsztyn im Ermland. Hier wurde das jüdische Gebetshaus während der »Reichskristallnacht« geplündert und niedergebrannt. Im polnischen Staat wurden die Juden Allensteins »mehrfach vergessen«, sagt Kornelia Kurowska. Sie leitet die Stiftung Borussia, die sich seit über dreißig Jahren für die Erforschung und Vermittlung der Kultur des Ermlands und Masurens einsetzt und dafür 2021 vom Kulturforum den Georg Dehio-Kulturpreis erhielt. »Die Juden wurden vergessen, da es keine Spur von ihnen gab und aufgrund der schwierigen polnisch-jüdischen Geschichte – und weil sie assimiliert waren, hat man sie als Deutsche angesehen«, erklärt Kurowska. Zu jener Gemeinde gehörte einst Erich Mendelsohn, der 1887 in Allenstein geboren worden war. Während des Architektur-Studiums entwarf Mendelsohn sein erstes Werk – das Taharahaus, also das Gebäude zur rituellen Leichenwaschung, auf dem jüdischen Friedhof in Allenstein.

Ein Glücksfall, dass ausgerechtet Mendelsohns Frühwerk den Zweiten Weltkrieg überdauerte. In der Nachkriegszeit wurde es vom polnischen Staat als Archiv genutzt, ehe es die Borussia entdeckte. Das war 2005. »Wir dachten damals, es ist das letzte Zeugnis der deutschen Juden von Allenstein und einen solch symbolischen Ort müssen wir restaurieren«, erinnert sich Kurowska an die Zeit. Zum 216. Geburtstag des wohl bekanntesten Allensteiner Juden und Architekten wurde es am 21. März 2013 als Mendelssohnhaus, Dom Mendelsohna, wiedereröffnet. Mit der rot-blau gefassten Kuppelhalle und einem Blattgold-Stern im Zentrum dient es als Zentrum für Begegnung, Erinnerung und Auseinandersetzung mit aktuellen regionalen Themen. Von überregionaler Bedeutung dabei ist, dass es seit kurzem Bestrebungen gibt, das Oeuvres von Erich Mendelsohn zum UNESCO-Weltkulturerbe zu erklären. Und damit auch das letzte Relikt jüdischen Lebens in Allenstein. »Das wäre eine wunderbare Auszeichnung für die Stadt und die Region«, schwärmt Kurowska.

Vom Weltkulturerbe-Titel ist das kleine Backsteinbauwerk in Rosenberg in Westpreußen/Susz, rund hundert Kilometer Luftlinie von Allenstein, wahrlich weit entfernt. 1868 wurde es von der jüdischen Gemeinde als Synagoge gebaut und beim Novemberpogrom 1938 »nur« innen geplündert und zerstört. Nach dem Krieg war hier zunächst ein Lager, dann ein Kulturhaus und erst ein Einbruch 2019 machte die Mitglieder des lokalen Geschichtsvereins »Galea« auf das leerstehende Gebäude aufmerksam. Die Hobby-Historiker pachteten die einstige Synagoge und eröffneten darin 2021 eine Ausstellung zur Lokalgeschichte Rosenbergs. »Unsere ältesten Exponate reichen bis ins Mittelalter«, rühmt sich Sylwia Zielińska, die Direktorin des Regionalmuseums. Häufig seien es Exponate, die beim »Sondeln«, also dem Absuchen von Gelände mit dem Metalldetektor, entdeckt wurden. »Wir wollen die Vielschichtigkeit der Geschichte der Region zeigen«, sagt Zielińska. Allein über die jüdische Geschichte Rosenbergs wird bisher noch nichts vermittelt. Aber eine Ausstellung dazu sei auch in Planung.

Dagegen nimmt ein weiteres Relikt ausschließlich der Geschichte der lokalen jüdischen Gemeinschaft in den Fokus: das Haus der Erinnerung an die Juden Oberschlesiens (Dom Pamięci Żydów Górnośląskich). »Oberschlesische Juden, das waren, anders als im Polen der damaligen Zeit, kleine Gemeinden, die aber recht wohlhabend und – ähnlich wie in Breslau, Hamburg oder Berlin – aufgeklärt waren«, referiert Leiterin Karolina Jakowenko. Ähnlich wie in Allenstein ist auch in Gleiwitz/Gliwice die Synagoge dem Novemberpogrom zum Opfer gefallen, allerdings hat die Begräbnishalle des Neuen jüdischen Friedhofs die Zeiten überstanden. Lange Zeit verfiel das Gebäude, ehe es ab 2012 saniert und 2016 zur Filiale des Museums Gleiwitz wurde. »Als Museum haben wir einen Ausstellungsteil, wir forschen, haben auch eigene Publikationen und erweitern stetig unsere Sammlung«, sagt Jakowenko. Die Bezeichnung Haus der Erinnerung an die Juden Oberschlesiens impliziere aber mehr: »Es hat auch die Anlehnung an das hebräische Wort Beit Tahara, also das Haus der Reinigung. Wir wollen das, was mit Gewalt ausgelöscht wurde, hervorholen und bewahren«, sagt die Museumsleiterin.

Ums Bewahren geht es auch in Böhmen. Die Prager jüdische Gemeinde gehört zu den lebendigsten und auch zu den bekanntesten in Mitteleuropa. Nur die wenigsten Touristen aber kennen das mannigfaltige jüdische Erbe außerhalb der Hauptstadt. 400 Synagogen gab es vor dem Zweiten Weltkrieg in Böhmen und Mähren, rund die Hälfte ist bis heute erhalten. In der sozialistischen Zeit wurden sie zweckentfremdet, dienten als Lagerhallen, als Autowerkstätten oder Ähnliches. Mit der Restitution wurden die meisten Synagogen an die jüdischen Gemeinden zurückgegeben, andere privatisiert und ganz unterschiedlich genutzt. Eine wurde zu einer Hussitenkirche, eine andere wurde von einer lokalen Vereinigung für kulturelle Events genutzt – bis dieser das Geld ausging und sie die Synagoge verkaufen mussten. Zum Glück fanden sie einen guten Abnehmer: Deset hvĕzd (Zehn Sterne).

Das Projekt Deset hvĕzd hat sich die Revitalisierung der abgelegeneren jüdischen Monumente in der Tschechischen Republik zum Ziel gesetzt – in Preßnitz/Březnice, in Neu Cerekwe /Nová Cerekev oder in Jägerndorf/Krnov etwa. Das ist eine Mammutaufgabe, Koordinatorin Květa Svobodová reist ständig zwischen den Monumenten hin und her: „Irgendwo gibt es immer Probleme, irgendetwas ist immer kaputt“, sagt sie lachend. Ohne die lokalen Partner, mit denen sie eng zusammenarbeitet, wäre der Unterhalt der mittlerweile 15 Gebäude in zehn Gemeinden nicht möglich.

Svobodová ist Angestellte der jüdischen Gemeinde Tschechiens – ihre Partner gehören aber nicht zwingend dem jüdischen Glauben an. „Wir wollen, dass die Menschen, die vor Ort leben, die Synagogen, die wir ihnen zur Verfügung stellen, als ihren Raum begreifen“, sagt sie. So treten bei den Konzerten auch die örtlichen Chöre auf, werden in Ausstellungen auch Themen aufgegriffen, die nichts mit dem Judentum zu tun haben.

Eines aber verbindet alle »zehn Sterne« der von der EU mitfinanzierten Organisation: In jeder Räumlichkeit gibt es ein kleines Museum zu einem spezifischen Aspekt der jüdischen Geschichte. So lernt jemand, der sie alle anreist, schrittweise die ganze Geschichte der jüdischen Bewohner des heutigen Tschechien kennen. »Viele kommen einfach wegen der Architektur oder der schönen Umgebung – aber rund die Hälfte unserer Gäste bleibt tatsächlich, um die Ausstellung genau zu studieren«, schätzt Svobodová.

Denen, die vor Ort leben, helfe diese Art der Neubewertung, glaubt sie. Zu einer Wiederbelebung der jüdischen Gemeinschaften trage sie aber nicht bei. »Die Prager Interessierten aus unserer Gemeinde haben diese Orte besucht, aber damit sind keine sentimentalen Erinnerungen verknüpft«, glaubt sie. Zu lange sei die jüdische Geschichte in diesen Orten bereits »abgebrochen«. Offenbar fällt es leichter, sich in den größeren Städten wie Prag und Brünn anzusiedeln.

Das gilt auch für die jüdische Gemeinde Königsbergs, die einst nach Berlin und Breslau zu den größten des Deutschen Reiches zählte. Die 1896 erbaute Hauptsynagoge galt als die schönste ganz Europas. Das Berliner Architekturbüro Cremer & Wolffenstein hatte sie nach dem Vorbild des Aachener und des Wormser Doms entworfen. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde sie von marodierenden Nationalsozialisten in Brand gesetzt. Sie wurde vollständig zerstört und die Reste 1939 abgetragen

Jahrzehntelang geriet die Synagoge völlig in Vergessenheit – aus den Ruinen Königsbergs entstand eine Stadt ohne Geschichte in einem atheistischen Staat. Erst nach der Perestrojka konnte sich wieder eine jüdische Gemeinde gründen. Nach deren Angabe leben derzeit rund 2500 bekennende Juden in Königsberg, es gibt mehrere Organisationen und sogar eine Zeitung Simcha. Jahrelang traf sich die Gemeinde in einer ehemaligen Wäscherei, im Keller eines Wohngebäudes, dann stieß ein reicher Kaliningrader Kaufmann die Initiative an, die Synagoge wieder aufzubauen. Vom russischen Staat gab es keine Unterstützung. Von der Bevölkerung der Stadt wurde das neue Wahrzeichen jedoch begrüßt: Über 2000 Menschen kamen zur feierlichen Eröffnung am 8. November 2018 durch den Oberrabbiner der Russischen Föderation, Berel Lazar.

Ein Geltungsjude berichtet« schildert. Seine Kindheitserinnerungen werden auf der Webseite des »Museums Neue Synagoge Kaliningrad« als Teil der Ausstellung genannt. Das Museum wurde mit finanzieller Unterstützung des Auswärtigen Amtes in Deutschland konzipiert und trotz der Sanktionen 2022 eröffnet. Die westlichen Touristen, auf die man gehofft hatte, blieben allerdings aus. Und innerhalb der russischen Gesellschaft stieg der Druck auf die jüdische Gemeinde. Der Putin-kritische Oberrabbiner von Moskau, Pinchas Goldschmidt, sah sich bereits im Juni 2022 gezwungen, auszuwandern. In einem Interview mit "The Guardian" empfahl er auch seinen jüdischen Mitbürgern, zu emigrieren. Und allein nach Israel haben das laut der Jewish Agency im Jahr 2022 fast 38 000 getan.