Der Krieg ändert alles. Innerhalb und außerhalb der Ukraine ändert er das Verhalten der Menschen, von Initiativen, von Institutionen. Dies gilt auch für Einrichtungen, die bislang nicht mit humanitären Fragen zu tun hatten, sondern mit der weitgefassten Kultur. Und selbst für Institutionen, für die die Ukraine bislang nur am Rande Teil ihrer Arbeit war. Aus Kultur- werden Hilfsorganisationen. Von Jan Opielka
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Die wichtigste Aktivität der Stiftung Kreisau/Krzyżowa für Europäische Verständigung in Polen war und ist die Internationale Jugendbegegnungsstätte (IJBS), die sie auf dem weitläufigen Gelände des ehemaligen Gutshofs Kreisau, rund 50 km südwestlich von Breslau/Wrocław gelegen, organisiert. Der Stammsitz der Stiftung fungiert als Bildungszentrum, und die vielen Hostel- und Übernachtungsplätze werden normalerweise für mehrtägige Unterbringungen der Teilnehmenden an internationalen Austauschprogrammen genutzt.

Die Jugendbegegnungsarbeit gehe zwar weiter, doch die Hälfte der Schlafplätze sei für Flüchtende bereitgestellt worden, sagt Anna Kudarewska, Leiterin der IJBS. »Wir haben gleich in der ersten Woche, als der Krieg begann, entschieden, Flüchtlinge aus der Ukraine bei uns aufzunehmen«, erzählt sie. »Die Menschen aus der Ukraine, fast alle Frauen, Kinder und Jugendliche, kamen auf unterschiedlichsten Wegen zu uns: über die Vermittlung durch unsere Mitarbeiter oder auch durch eine Initiative aus der nahe gelegenen Stadt Schweidnitz/Świdnica.« Drei Familien seien nach kurzem Aufenthalt nach Deutschland weitergefahren, der größere Teil indes sei geblieben.

Die Unterstützung des Teams aus Kreisau erschöpft sich aber nicht in der Übergabe der Hostel-Schlüssel und der Essensversorgung. »Die Mitarbeiter des pädagogischen Teams betreuen jeweils zwei bis drei Familien. Wir versorgen sie mit Kleidung, organisieren die Schulbesuche für 18 Kinder und Jugendliche, haben aber auch selbst ein kleines Sport- und Freizeitangebot für Kinder im Kindergartenalter, um die Mütter zu entlasten.« In dem Kindergarten, den die Stiftung selbst betreibt, hat die Gemeinde zwei pädagogische Stellen genehmigt, die von Ukrainerinnen besetzt werden. Die zehn jüngsten Flüchtlingskinder sollen demnächst diesen Kindergarten besuchen. Und auch bei der Vermittlung von Arbeit für einige der Eltern in Schweidnitz und Breslau sei man behilflich gewesen. »Wir haben festgestellt: Es ist einfacher, in kleineren Orten, wie bei uns, und in ländlicher Umgebung etwa Arztbesuche zu organisieren.«

Doch wie soll es weitergehen? Wirklich planen, sagt Kudarewska, könne niemand – weder die Stiftung noch die Geflüchteten. »Sie hoffen natürlich darauf, dass der Krieg schnell zu Ende gehen wird. Und bleiben auch deshalb bei uns, um dann nicht allzu weit von ihrer Heimat entfernt zu sein.«

Kulturzug und Flüchtlingszug

Noch weiter weg von der Heimat als bis nach Kreisau bringt die Flüchtenden der Kulturzug. Das seit dem Jahr 2016 bestehende Bahn-Angebot, getragen von der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Berlin (DPG) in Kooperation mit DB Regio, Nordost sowie den polnischen Koleje Dolnośląskie, verband bislang an jedem Wochenende Berlin und Breslau durch ein besonderes deutsch-polnisches Unterhaltungsangebot: Konzerte, Lesungen, Theateraufführungen und eine Bibliothek auf rollenden Rädern. Kurz nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine hat sich der Kulturzug nun ebenfalls gewandelt – und bringt seit Anfang März Flüchtende aus Breslau nach Cottbus.

Ganz anders als üblich fährt der Zug in Richtung Polen ohne Künstler und Publikum, dafür aber mit Hygieneartikeln, Windeln, Wasservorräten und sonstiger Verpflegung für die ukrainischen Flüchtenden. »Der Kulturzug fährt in der Regel einmal am Tag und ist abends wieder in Cottbus. Inzwischen gibt es zweimal täglich eine Verbindung«, sagt Wolfram Meyer zu Uptrup. Der stellvertretende Vorsitzende der DPG Berlin ist einer von vielen, die sich in dem Projekt engagieren. »Wir begrüßen in unserem Kulturzug flüchtende Menschen, die dauerhaft aus der Ukraine wegwollen, und andere, die so schnell wie möglich wieder zurückmöchten. Die meisten sind Frauen und Großeltern mit Kindern. Das sind Familien, die durch den Krieg und die Flucht zerrissen sind. Und die wollen natürlich so schnell wie möglich wieder mit ihren Angehörigen zusammenkommen«, sagt Meyer zu Uptrup.

Der Kulturzug verkehrt zwischen Breslau/Wrocław und Berlin und nimmt nun auch Flüchtende aus der Ukraine mit. Foto: © Wolfram Meyer zu UptrupDer Kulturzug verkehrt zwischen Breslau/Wrocław und Berlin und nimmt nun auch Flüchtende aus der Ukraine mit. Foto: © Wolfram Meyer zu Uptrup

Während der Fahrt werden die Menschen in der Regel von Mitgliedern und Freunden des Kulturzug-Projektes begleitet. »Über unser Netzwerk haben wir viele Menschen gewinnen können, die Ukrainisch und Russisch sprechen. Die fahren nun zwischen Breslau und Cottbus mit und betreuen und beraten die Menschen.« In Cottbus angekommen, helfen vor allem Angestellte der Stadtverwaltung sowie Freiwillige, die nichts mit der DPG zu tun haben. Sie versuchen, den angekommenen Flüchtlingen zu zeigen, dass sie nicht unbedingt nach Berlin fahren müssen, um Schutz in Deutschland zu finden.

In Cottbus gibt es eine Erstversorgung, Übernachtungsmöglichkeiten, aber auch Anschlussverbindungen in andere Städte des Landes. Seit Kurzem steigen viele der Kinder mit Kissen in den Händen aus den Zügen – eine Idee des Kulturzugteams, das durch Spenden finanziert Kissen für die Kleinen nähen ließ. »Angesichts der Dramatik des Krieges«, sagt Meyer zu Uptrup, »können wir nur wenig tun. Aber das Wenige wollen wir dann auch tun.«

Gedankendach und Spendendach

Alles, was irgendwie möglich ist, leistet auch das Zentrum Gedankendach im ukrainischen Czernowitz/Tscherniwzi. Die Kulturinstitution, die unter ihrem Dach die Ukrainisch-Deutsche Kulturgesellschaft, das Zentrum für deutschsprachige Studien sowie das Lektorat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) verbindet, arbeitet auch im Krieg weiter. Doch Serhij Lukanjuk, der an der Jurij-Fedkowytsch-Universität Czernowitz die Abteilung für internationale Beziehungen, das Zentrum für deutschsprachige Studien und auch das sechsköpfige Team des Zentrums Gedankendach leitet, hat nun ganz andere Dinge im Kopf – vor allem die Flüchtenden, die täglich hier im Westen das Landes ankommen.

»Es gibt bei uns zwar Luftalarme, aber unsere Stadt wurde noch nicht bombardiert. Auch deshalb gibt es bei uns sehr viele Flüchtlinge, bislang rund 60 000«, sagt er. Denn die Lage in der südwestukrainischen, rund 260 000 Einwohner zählenden Stadt unweit der rumänischen Grenze ist Ende März ruhiger und sicherer als in anderen Regionen des Landes. Das Gros der Flüchtenden komme aus dem Osten des Landes, beispielsweise aus den kriegsgebeutelten Städten Mariupol oder Charkiw. »Teilweise bleiben die Menschen in der Stadt, sie kommen in Privatwohnungen, in Sporthallen, Kindergärten oder im Studentenwohnheim unserer Universität unter. Andere fliehen nach kurzer Zeit über die rumänische Grenze weiter.«

Oxana Matyjchuk (rechts) vom Zentrum Gedankendach und die Prorektorin der Universität Prof. Dr. Tamara Marusyk (2.v.r.) übergeben Medikamente an Olexandr Tkatschuk und Anna Ihnat von von der Klinik für Notaufnahme und Katastrophenhilfe © Laryssa KuschnirOxana Matyjchuk (rechts) vom Zentrum Gedankendach und die Prorektorin der Universität Prof. Dr. Tamara Marusyk (2.v.r.) übergeben Medikamente an Olexandr Tkatschuk und Anna Ihnat von von der Klinik für Notaufnahme und Katastrophenhilfe © Laryssa Kuschnir

Das Gedankendach, berichtet Lukanjuk, arbeitet schon seit vielen Jahren mit dem Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) an der Ludwig-Maximilians-Universität München zusammen. Dieses hat ein Spendenkonto eingerichtet. »Das Spendenaufkommen, vor allem aus Deutschland, ist groß, inzwischen sind rund 150 000 Euro zusammengekommen«, sagt Lukanjuk. »Das IKGS, aber auch unser Partner von der rumänischen Universität Suceava und ihr Prorektor Stefan Purici, kaufen davon die benötigten Dinge und bringen sie mit dem Lkw an die Grenze. Die Universität in Suceava ist sozusagen unser Logistikzentrum.«

Dort werden Hilfsgüter – Lebensmittel, Kleidung, Medikamente – gesammelt, in großen Bussen an die Grenze gebracht und an dieser in der neutralen Zone umgeladen. »Sieben oder acht solcher Transporte haben wir bereits bekommen.« Von der Universität Halle-Wittenberg etwa kam ein Lkw mit 17 Tonnen an Medikamenten. Die Spenden werden von dem Team des Gedankendachs sowie von Studierenden der Universität sortiert, umgeladen und dann von Freiwilligen in andere Städte gebracht – nach Kiew/Kyjiw, nach Schytomyr, nach Mykolajiw oder Dnipro.

»Wir organisieren jetzt humanitäre Hilfe, aber auf eine kulturelle Art und Weise«, sagt Lukanjuk und lacht. Denn der Wissenschaftler hat seinen Optimismus, seine Hoffnung auf die Zukunft trotz der Verheerungen des Krieges keinesfalls verloren. »Die ukrainische Zivilgesellschaft funktioniert im Moment hundertprozentig. Putin hat uns zum zweiten Mal zusammengebracht: zum einen 2014, und dann jetzt. Die Ukraine«, sagt er voller Überzeugung, »existiert und wird weiter existieren. Weil wir es wollen.«