In Oberschlesien in der Nähe von Oppeln/Opole versucht die deutsche Minderheit, ihre Sprache und Kultur an die nächsten Generationen weiterzugeben – seit einiger Zeit auch mithilfe des Fußballs. Und dem Namen eines Spätaussiedlers, der es zu Weltruhm brachte. Von Jan Opielka
Mai/Juni 2021 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1423
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Bei seinem Besuch in Oberschlesien vor drei Jahren erhielt Miroslav Klose die Ehrenbürgerschaft von Oppeln und besuchte auch die Miro-Deutsche-Fußball-Schule. © SKGD

Es ist kurz vor 17 Uhr, Trainingsbeginn im oberschlesischen Dorf Chronstau/Chrząstowice. Die etwa zwanzig Jungen, alle um die zehn Jahre alt, sind zum »Kicken« hergekommen. Sie freuen sich sichtlich darauf. Doch erst einmal ruft Trainer Piotr Michoń sie in die Mitte des Spielfeldes. »Wo ist der Flughafen?«, fragt er auf Deutsch die Jungs, die sich um ihn scharen und versuchen, einen Blick auf die Memo-Karten zu erhaschen, die er auf den Kunstrasen ausgelegt hat. »Da ist der Flughafen«, ruft einer der Jungs. »Gut, und jetzt zeigt mir ein Bild, auf dem etwas ist, das den Artikel ›der‹ hat. Also?« »Der Wald«, sagt einer der Jungs. »Und hier, der Ship!«, zeigt ein anderer. »Jaki ship – was für ein ship? Wie heißt es?« »Das Schiff«, sagt ein anderer. »Genau, also nicht ›der‹, sondern ›das‹, und: Schiff, so heißt es auf Deutsch.« So geht es noch 15 Minuten weiter – mit Bahnhöfen, Wäldern und Tankstellen. Doch dann stürmen die Jungen in den Frühling los: Slalomläufe, Dribbling-Übungen, Schüsse aufs Tor.

Am Spielfeldrand stehen die Macher dieser etwas anderen Fußballschule, darunter Marcin Buhl, der sie hier vor Ort in Chronstau organisiert. »Die lokale deutsche Gemeinschaft stellte nach der durch die deutsche Mannschaft gewonnenen Fußball-WM 2014 fest, dass wir zu wenig Sportangebote für unsere Kinder haben«, sagt er. Chronstau hat rund 1000 Einwohner, 6000 Menschen zählt die gleichnamige Gemeinde mit zehn weiteren Dörfern. An den Ortseinfahrten begrüßen zweisprachige Ortschilder auf Deutsch und Polnisch die Vorbeifahrenden. Denn mindestens zwanzig Prozent der Einheimischen gehören zur deutschen Minderheit. »Weil wir uns mit der deutschen Sprache identifizieren, gründeten wir diese Schule, die neben Fußball auch deutsche Sprache lehrt«, sagt Buhl. Das war im Februar 2015. Doch zuvor gab es jenen besonderen Sommer 2014 und den WM-Erfolg der deutschen Mannschaft. Aus Sicht der deutschen Minderheit in Oberschlesien doppelt ungewöhnlich: Am WM-Triumph war einer beteiligt, der unweit von Chronstau geboren wurde, Miroslav Klose aus Oppeln.

Der heute 42-jährige Ex-Fußballprofi gilt in der Region nicht nur fußballerisch als Idol, sondern auch als Vorbild eines Spätaussiedlers, der seine »Erst-Heimat« nicht vergessen hat. »Wir haben einen Patron gesucht, der von hier ist, der sich mit dem Fußball identifiziert und dadurch die Menschen aus der Sozial-Kulturellen Gesellschaft der Deutschen (SKGD), die sich für Sport interessieren, zusammenbringen könnte«, sagt Mateusz Bachem, Koordinator der Fußballschule. Klose selbst zog in seinem siebten Lebensjahr mit der Familie nach Deutschland, zuvor hatte er fünf Jahre lang in Frankreich gelebt, wo schon sein Vater Profi-Fußballer war. Dafür, dass Klose nur zwei Jahre seines Lebens in Polen gelebt hat, spricht er aber sehr gut Polnisch. Und ob auf Deutsch oder Polnisch: Der Weltmeister sagte der Fußballschule zu, als »Patron« seinen prominenten Namen zur Verfügung zu stellen. Bei der Einweihung der »Miro Deutschen Fußballschule« war er zwar nicht dabei, dafür besuchte er am Rande der Verleihung der Ehrenbürgerschaft von Oppeln 2018 auch Chronstau – ein Großereignis für die Gemeinde. 

Die SKGD ist die größte Organisation der deutschen Minderheit in der Woiwodschaft Oppeln wie in ganz Polen und ist Trägerin der »Miro Deutschen Fußballschule«. Organisatorisch gut aufgestellt, konnte diese sogar einen hauptamtlichen Mitarbeiter anstellen. »Als wir die Schule gründeten, wirkte der Name Miro Klose wie ein Magnet«, erinnert sich Bachem. Inzwischen gibt es weitere »Filialen« der Kickerschule. Die zehn Standorte liegen in ländlichen Gemeinden, in denen das Kultur- und Sportangebot gering sowie der Anteil der deutschen Minderheit an der lokalen Bevölkerung groß ist und zugleich die Ortsgruppen der Deutschen Freundschaftskreise besonders aktiv sind. 300 solcher DFK-Ortsgruppen gibt es in der Region. Mitspielen und eine »Filiale« gründen kann jeder, angesprochen sind nicht nur Mitglieder der deutschen Minderheit. Die Voraussetzungen sind, dass alle Trainer deutsch sprechen sollten, denn mit im Boot sitzt neben der SKGD auch das Goethe-Institut.

Oliver Kasperczyk ist einer, der mit ins Miro-Fußball-Boot gestiegen ist. Der Germanistik-Student aus Oppeln arbeitet bei »Miro« als Sprachassistent, also eine Art Sprachhelfer am Rande des Spielfeldes. »Man durfte in Oberschlesien bis 1989 nicht Deutsch sprechen«, sagt er. »Daher haben die älteren Generationen noch Bezug zum Deutschen, doch die Jüngeren kaum mehr.« Kasperczyk arbeitet fachlich mit dem Goethe-Institut in Krakau zusammen, nimmt an Schulungen zum Thema Sprachlernen im Sporttraining teil. Während der Corona-Pandemie sei es schwieriger zu trainieren, aber Kasperczyk entwickelt eigene Ideen der spielerischen Sprachaneignung. Etwa: »Jede Woche will ich mit den Jungs ein konkretes Thema neu beginnen und das jeweils mit einer Bewegung verbinden, eine Art Memory samt körperlicher Aktion und Spiel also.« Bislang pendelt er allein zwischen den zehn »Dorf-Filialen« der Schule. Wegen der sich überlappenden Trainingszeiten kann Kasperczyk nicht überall dabei sein. Ab Frühjahr werde das deutsche Bundesministerium des Innern drei weitere Sprachassistenten fördern, erklärt Koordinator Mateusz Bachem. »Denn eines ist klar: Nicht jeder, der ein guter Fußballtrainer ist, kann auch die Sprache gut unterrichten. Durch die Sprachassistenten heben wir den spielerischen Deutschunterricht also auf ein höheres Niveau.«

Die »Miro Deutsche Fußballschule« ist ein weiterer Baustein der deutschen Minderheit, um sichtbar zu bleiben. Zur Zeit wirbt der Verband der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen (VdG) für die im Land stattfindende Volkszählung. Die Kampagne der Minderheit dazu heißt »Liczysz się – du zählst«. Sie appelliert an Mitglieder »sowie Menschen, die keinem Verein angehören, keine Angst vor der deutschen Nationalität zu haben«. Im Jahr 2011 hatten polenweit gut 147000 Menschen diese Angst nicht und bezeichneten sich als Deutsche, die Hälfte von ihnen deklarierte diese Zugehörigkeit gemeinsam mit der polnischen. Schätzungsweise die Hälfte der deutschen Minderheit lebt in der heutigen Woiwodschaft Oppeln – Tür an Tür mit der polnischen Mehrheitsbevölkerung. Da scheint der Sport, insbesondere der Fußball, sich als verbindendes Instrument zu eignen. Zumal er Teamgeist und Fairplay fördert. Die überwiegende Zahl der kleinen Kicker spricht noch wenig Deutsch, auch wenn die Sprache an den Grundschulen der Region ab der ersten Klasse unterrichtet wird. Ein Teil der »Miro-Fußballer« hat keine deutschen Wurzeln. »Wir verschließen uns nicht gegenüber Nicht-Mitgliedern der Minderheit, und auch die Eltern sind nicht verschlossen«, sagt Bachem lachend.

Wojciech Obrębski steht derweil am Spielfeldrand und beobachtet, wie sein Sohn Janek und die anderen gerade scharfe Pässe üben. Wie sich die deutsche Minderheit entwickeln werde, darüber kann der 38-Jährige wenig sagen, auch wenn er sein ganzes Leben in der Gegend hier lebt. »Ich denke, dass es immer eine Gruppe geben wird, die das Deutsche pflegt, und das ist auch gut so«, glaubt er. Ein Teil der Eltern bringe ihre Kinder auch aus entfernteren Dörfern der Gemeinde in die Fußball-Schule, auch wegen des Sprachunterrichts, sagt er. Auch unter den Eltern hat er keine Differenzen feststellen können, ob sie nun Deutsche oder Polen seien. »Das wundert mich auch nicht: Es ist gut organisiert, die Trainer machen das prima, sie haben einen guten Draht zu den Kindern.« Und sein Sohn? »Es freut mich, dass er Deutsch lernt.« Eine Mutter, die ihren Sohn abholt und einen deutschstämmigen Mann hat, sagt, sie sei froh über das Fußball-Angebot, denn so kommen die Kinder überhaupt zusammen. Das Lernen der Sprache sei das I-Tüpfelchen. »Die ältere Generation der Deutschen war verschlossener, die Jüngeren sind da ganz anders.« Vor der Pandemie reisten die »Miro-Teams« nach Deutschland, zu Spielen nach Berlin oder zu Turnieren, um sich mit anderen Nachwuchsfußballern zu messen. »Wir wollen das natürlich wieder machen und, wenn es möglich sein wird, zu Trainingslagern fahren, deutsche Vereine besuchen – damit die Kinder möglichst viel kennenlernen«, sagt Bachem. »Die Jungs, die von einer Fußballkarriere träumen, wissen, dass sie die deutsche Sprache auch in den deutschen Klubs brauchen. Wie Klose oder aktuell Lewandowski.« Und wenn sie schon nicht Profifußballer werden, zusätzliche Sprachkenntnisse nützen immer, ob nun im Ausland oder auch in Polen selbst. 

Als sich die Jungs nach dem Training und mit roten Köpfen auf den Heimweg machen, reden sie untereinander aufgeregt. »Wie war das Training?«, fragt Wojciech Obrębski seinen Sohn Janek. Der strahlt und sagt: »Po prostu super!« Einfach super!