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Die Weichselüberquerung bei Dirschau. © Mariusz Niedzwiedzki/AdobeStock

von  Józef Golicki

Die Weichselbrücke bei Dirschau/Tczew gehört zu den herausragenden und wertvollsten Technikdenkmälern Polens. Ihre ältesten Bauteile sind wahre Unikate. Denn beim Bau dieser Brücke wurde zum ersten Mal weltweit die neue Art eines engmaschigen Rippenfachwerks aus Eisen angewendet. Dieses Konstruktionsmuster war später in ganz Europa verbreitet.

Die Geschichte der Brücke geht auf das Jahr 1843 zurück und ist verbunden mit dem Bau der Bahnstrecke Berlin–Königsberg. Die preußischen Könige entschieden, dass die Ostbahn über Dirschau gehen und dort die Weichsel, die größte Herausforderung auf der Strecke, überqueren solle. Um das Bauvorhaben umzusetzen, wurde die »Königliche Commission für den Bau der Brücken« ins Leben gerufen. Der Bau in Dirschau wurde parallel mit Regulierungsarbeiten an der unteren Weichsel realisiert. Das Flussbett wurde vertieft und verengt und das Überschwemmungsgebiet in Dirschau damit verkleinert. Das führte dazu, dass eine kürzere Brücke geplant werden konnte.

Einer der Projektautoren und Bauleiter der neu gebauten Brücke war der Ingenieur Carl Lentze. Die ersten Baukonzepte von Lentze setzten den Bau einer Kettenhängebrücke mit einer großen Spannweite voraus. Nachdem Lentze sich jedoch mit den modernsten Plänen der in Wales gebauten eisernen Balkenbrücken mit komplett geschlossenen Brückenwänden auseinandergesetzt hatte, traf er die Entscheidung, eine Brücke mit offenen, aber engmaschigen Gitterwänden zu entwerfen. Letztendlich wurde die Dirschauer Brücke als Konstruktion mit sechs Brückenfeldern, die auf fünf Brückenpfeilern lagen, entworfen. Auf jedem Brückenpfeiler wurde ein Pfeilerturm vorgesehen, an den Widerlagern wiederum prachtvolle Einfahrtsportale. Für die Gestaltung der architektonischen Brückenteile war Friedrich August Stüler, königlicher Architekt und angesehener Experte im Bereich öffentlicher Bauten und Königsresidenzen, verantwortlich.

Ein bahnbrechendes Projekt

Vor Beginn der eigentlichen Baumaßnahme wurden sorgfältige Vorbereitungen getroffen. Wegen der fehlenden Eisenbahnverbindung mussten alle notwendigen Materialien vor Ort angefertigt werden. Schon 1846 wurde in Kniebau/Knybawa bei Dirschau eine Ziegelei in Betrieb genommen, die besonders belastbare Ziegeln mit gelber Schattierung herstellte. Auf der Brücken-Baustelle entstand des Weiteren ein Zementwerk, das für alle für die Produktion verschiedener Mauer- und Betonmischungen notwendigen Anlagen ausgestattet war. An der Baustelle wurde auch eine Dampf- und Wassermühle errichtet. Ausschließlich für diesen Brückenbau war die »Königliche Maschinenbauanstalt zu Dirschau« tätig, die schon 1847 in Betrieb genommen wurde. Sie bestand aus einer Eisengießerei, einer Maschinenfabrik und verschiedenen Werkstätten. Hier wurden vor allem Flacheisen, Platten, Winkeleisen, Stäbe und andere Elemente hergestellt, aus denen später nach entsprechender Bearbeitung größere Teile der eisernen Brückenkonstruktion auf der Baustelle montiert wurden. Allein für diese Konstruktion wurden fast 7000 Tonnen Schmiedeeisen verwendet.

Die mit dem Brückenbau verbundenen Arbeiten begannen Ende 1845. Aufgrund finanzieller Schwierigkeiten konnten eingangs nur Vorbereitungsmaßnahmen ergriffen werden, der eigentliche Bau startete im Frühjahr 1850. Bis Ende 1853 wurden die Brückenpfeiler und Widerlager fertiggestellt. In den Jahren 1854 bis 1857 wurden wiederum die eisernen Brückenfelder montiert. Alle architektonischen Elemente, die Brückentürme und Einfahrtstore wurden ab 1856 gebaut. Diese Arbeiten dauerten bis 1858 und wurden noch nach der Eröffnung der Brücke am 12. Oktober 1857 fortgesetzt.

Die Dirschauer Brücke war zum Zeitpunkt der Inbetriebnahme die erste große eiserne Balkenbrücke der Welt. Sie bestand aus zwei über dreißig Meter hohen Widerlagern und sechs Brückenfeldern mit einer Länge von beinahe 131 Metern. Die Brückenfelder ruhten auf fünf Brückenpfeilern. Auf den Widerlagern wurden prächtige, fast 25 Meter hohe Einfahrtstore, auf den Brückenpfeilern wiederum jeweils zwei Türme, die die eiserne Brückenkonstruktion stärken sollten, errichtet. Die Brücke diente als Straßen- und Bahnüberquerung. Im Inneren des Fachwerks befanden sich Bahnschienen und eine hölzerne Fahrbahn. Für Fußgänger wurden Bürgersteige an den äußeren Brückenwänden gebaut.

In der Nähe der alten Brücke wurde zwischen 1888 und 1891 eine neue Überführung ausschließlich für den Zugverkehr errichtet. Auch bei diesem Bau wurden die damals technisch modernsten Lösungen angewandt. Ihre Konstruktion ähnelte jedoch der alten. Sie bestand, wie ihre Vorgängerin, aus zwei Widerlagern, fünf Brückenpfeilern und sechs Brückenfeldern. Sie wurde an die höhere, aus dem verstärkten Bahnverkehr resultierende Belastung angepasst. Nach deren Eröffnung wurde die alte Brücke nur noch für den Straßenverkehr genutzt.

Von 1910 bis 1912 wurden beide Brücken um weitere drei Brückenfelder verlängert, da die Dämme der Weichsel auf den Überschwemmungsgebieten verlagert wurden. Die Konstruktion der neuen Brückenfelder war jedoch anders als die der bereits bestehenden. Die Länge der Brücken wuchs auf 244,8 Meter

Die Dirschauer Brücke auf einer Postkarte aus der Zeit vor 1945. © Archiv Józef Golicki

Vom Verkehrsknotenpunkt zum Museumsstück

Durch die Kriegshandlungen im Zweiten Weltkrieg wurde die alte Brücke stark beschädigt. Ihr Wiederaufbau dauerte nach 1945 sehr lange und zog sich bis in die 1960er Jahre hin, da in der Nähe von Kniebau eine neue Straßenbrücke errichtet wurde und die Flussüberquerung bei Dirschau dadurch an strategischer Bedeutung verloren hatte.

Beim Wiederaufbau wurden die fehlenden Brückenteile mit nun anderen, gebrauchten Elementen ersetzt. An Stelle der zerstörten Brückenfelder wurden verschiedene Konstruktionen aus dem Abbau anderer Brücken oder aus alten Heeresbeständen montiert. Diese Notlösung überstand bis in die Gegenwart und stellt eine Art historisches Freilichtmuseum unterschiedlicher Brückenkonstruktionen dar, die etwa von Mitte des 19. bis Mitte des 20.Jahrhunderts entstanden sind.

Nach der Wiedererrichtung der historischen Weichselüberquerung wurden nur wenige Baumaßnahmen durchgeführt, darunter die zerstörten Holzelemente ausgetauscht, die eisernen Elemente gewartet und die Straßenschäden instandgesetzt. Nach der Verwaltungsreform 1999 wurde die Brücke an die Verwaltung des neu entstandenen Landkreises Tczew übergeben. Diese nahm sich vor, den ursprünglichen Glanz der Brücke wiederherzustellen. Dem gewaltigen Ausmaß an dafür nötigen Arbeiten standen nur geringe finanzielle Mittel gegenüber, so dass zunächst nur Absicherungsarbeiten durchgeführt werden konnten, damit die Brücke passierbar war. 2011 wurde die Brücke aufgrund des sich verschlechternden technischen Zustands geschlossen. Anschließend begannen auch die intensiven Arbeiten zur komplexen Instandsetzung und zum Brückenumbau.

Von 2012 bis 2015 wurden für über 4 Mio. Zloty (rund 1 Mio. Euro) die vier erhaltenen Brückentürme, die zwei Brückenpfeiler und die sie verbindende Brücke restauriert. 2015 wurden eine Dokumentation und ein Plan zum Brückenumbau angefertigt. Ausgewählt wurde ein Konzept, das vorsah, die verlorenen Brückenteile wiederherzustellen, jedoch unter Anwendung moderner Ingenieurs- und Technologielösungen. Im Rahmen der ersten Umbauetappe, die im Dezember 2016 abgeschlossen wurde und beinahe 30 Mio. Zloty kostete, wurde der älteste Teil der Brücke renoviert.

Die Dirschauer Brücke als Symbol?

Die nächste Sanierungsmaßnahme wurde mangels ausreichender finanzieller Mittel in zwei Etappen aufgeteilt: Im Rahmen der ersten, deren Umsetzung Ende 2019 abgeschlossen werden sollte, wurden u.a. die Widerlager mit Kasematten von der Seite Richtung Dirschau gebaut und ein Pfeiler in der Weichsel gesetzt. Die Kosten für dieses Vorhaben betragen rund 33,5 Mio. Zloty, seit 2012 wurden für die Renovierungs- und Umbauarbeiten an der Brücke bei Dirschau über 70 Mio. Zloty ausgegeben.

Im Rahmen der nächsten Bauetappe ist die Anfertigung und Montage zweier neuer, sich über den Fluss erstreckenden Visualisierung der Weichselüberquerung nach ihrer Sanierung durch die Firma Europrojekt Gdańsk S.A. © Starostwo powiatowe w TczewieBrückenfelder geplant. In der dritten Umbauetappe ist die Wiederherstellung der Brückenfelder auf der östlichen Seite der Brücke Richtung Ließau/Lisewo geplant. Doch die Restaurierungs- und Umbauarbeiten ziehen sich in die Länge. Der Abschluss aller Arbeiten wird für das Jahr 2028 anvisiert. Die Kosten der noch zu erledigenden Aufgaben betragen weitere mindestens 100 Mio. Zloty. Um den Wiederaufbau der Brücke zu beschleunigen, beantragten die jeweils zuständigen Landräte bereits mehrfach eine Übernahme der Brücke durch den polnischen Staat.

Im Juli 2019 verabschiedete das polnische Parlament ein Sondergesetz zur Übernahme der Halbinsel Westerplatte von der Stadt Danzig/Gdańsk. An dem historischen Ort soll eine Abteilung des Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig entstehen. In Anlehnung an diesen Präzedenzfall verfassten Dirschauer Journalisten und Mitglieder des Bürgerschaftlichen Komitees zum Wiederaufbau der Weichselbrücke eine Petition bezüglich der Übernahme der Brücke unter dem Titel »Die Brücke bei Tczew und die Westerplatte«. Die Antragsteller weisen darauf hin, dass der Zweite Weltkrieg in Dirschau begonnen habe und die ersten Bomben in der Nähe der Brücke bereits um 4:34 Uhr gefallen seien. Sie appellieren an die polnische Regierung, auch die Weichselbrücke zu übernehmen, die Renovierungsarbeiten fertigzustellen und auch hier eine Abteilung des Weltkriegs-Museums zu errichten. Die Petition wurde an den Präsidenten der Republik Polen, den polnischen Ministerpräsidenten, die Sejm-Kanzlei, das polnische Kulturministerium und den polnischen Infrastrukturminister gerichtet. Bisher haben fast 4000 Einwohner der heutigen Stadt Tczew sie unterzeichnet.

Aus dem Polnischen von  Magdalena Stojer-Brudnicka.