Marek Krajewski griff 1999 als erster polnischer Krimiautor die deutsche Vergangenheit Schlesiens in seinen historischen Romanen auf und wurde damit zum Wegbereiter des »Retrokrimi« in Polen. Im Mittelpunkt seiner Bücher steht die Polizeikarriere von Eberhard Mock, dem in Waldenburg/Wałbrzych geborenen Sohn eines Schusters. Mock, ein klassischer Hardboiled Detective, zog im Kindesalter mit seiner Familie nach Breslau/Wrocław. Die Reihe umspannt die Jahre 1905 bis 1945. Im Jahr 2022 schloss Krajewski sie mit dem 13. Band ab. 2004 erhielt der Autor den damals erstmalig vergebenen und inzwischen wichtigsten polnischen Krimipreis Wielki Kaliber, was zu seiner Popularisierung auch über die Landesgrenzen hinweg beitrug. Mehrere Bände wurden ins Deutsche übersetzt. 2016 wurde Krajewski vom Deutschen Kulturforum östliches Europa mit dem Georg Dehio-Preis ausgezeichnet.
Der Retrokrimi wurde zu einem wichtigen Faktor der polnischen Literaturlandschaft. Marcin Wroński porträtierte in seinem Buchzyklus rund um Kommissar Zygmunt Maciejewski erfolgreich das ostpolnische Lublin der Zwischenkriegszeit. Weitere Autoren folgten und griffen thematisch auf die deutsche Vergangenheit ihrer Städte zurück. Im Falle von Posen/Poznań und Schneidemühl/Piła etwa der Journalist und Soziologe Ryszard Ćwirlej mit seiner Reihe um Kommissar Anton Fischer sowie Piotr Bojarski mit Kommissar Zbigniew Kaczmarek.
Das Danzig der Zwischenkriegszeit ist das Terrain von Krzysztof Bochus‘ Kriminalrat Christian Abell, dessen Ermittlungen teilweise bis nach Marienwerder/Kwidzyn, Zoppot/Sopot und Elbing/Elbląg reichen. Historische Bezüge in die Zeit des Zweiten Weltkriegs thematisiert in Oppeln/Opole und Umland Maciej Siembieda in seiner Reihe um Jakub Kania, einen Staatsanwalt des Instituts für Nationales Gedenken, im Fall Stettins Marek Stelar. Leider fehlen zu den oben genannten Werken bislang Übersetzungen ins Deutsche. Es lohnt sich daher ein Blick auf Tomasz Duszyńskis Glatz-Reihe, von der bislang zwei Bände ins Deutsche übertragen wurden.
Tomasz Duszyński führt seine Leserschaft in das niederschlesische Städtchen Glatz/Kłodzko und die Umlandgemeinden im Glatzer Kessel. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg liegt dort die Wirtschaft darnieder. Nationalitätenkonflikte, unterschiedliche politische Ansichten und deren zunehmende Radikalisierung sind im ersten Band GLATZ (dt. 2024) Nährboden für eine Mordserie, die weit über die Grenzen Niederschlesiens reicht und selbst die Berliner Presse anlockt. »Natürlich. Der Fall ist ja bereits landesweit bekannt! Unsere Leser interessieren sich sehr dafür. Glatz und die geometrischen Mörder sind in aller Munde. Man spricht darüber bei Banketten, bei der Arbeit, zu Hause … Der oder die Mörder wecken Ängste und krankhafte Neugier gleichermaßen. Immer mehr Mythen und Gerüchte entstehen.«
Im zweiten Band, GLATZ. Herrgottsländchen (dt. 2025), pendelt die Geschichte zwischen den Städten Bad Reinerz/Duszniki-Zdrój und Glatz hin und her. Im düsteren Plot gibt es Reibereien zwischen den polizeilichen Behörden in Bezug auf einen alten Fall, der durch neue Anhaltspunkte wieder aufgenommen werden muss. Etliche Leichen, illegales Glücksspiel und Prostitution bringen Rezensent Jörg Kijanski zu dem Schluss: »[…] es geht wild her im Herrgottsländchen«. Band drei GLATZ. Rübezahl ist bereits für das Jahr 2026 angekündigt.
Tomasz Duszyński recherchierte in den Archiven von Glatz, Breslau und Kamenz/Kamieniec Ząbkowicki, um Details zur Polizei, deren Ermittlungsmethoden und der schleppenden wirtschaftlichen Entwicklung der Region einfließen zu lassen. Vermittelt wird ein umfassendes Bild der Grafschaft. Der Glatzer Schneeberg mit dem Kaiser-Wilhelm-Turm, das Schloss Grafenort/Gorzanów – ein Kleinod der Region mit Hoftheater und Mysterienspielen –, aber auch Berliner Ringvereine: All diese Orte bilden die Kulisse für einen bunten Plot. Die Ermittlerfiguren, ein Hauptmann der preußischen Armee und ein Wachtmeister der Glatzer Polizei, entspringen der Fantasie des Autors. Einige Nebenfiguren sind hingegen geschichtlich belegt. Etwa Gabriele von Magnis aus dem Adelsgeschlecht der Magnis – sie hatte sich der Wohlfahrt und in ihren späteren Lebensjahren der Vertriebenenfürsorge angenommen – oder Graf Maximilian von Herberstein. Mit der fiktiven Romanfigur des Bürgermeisters wird Franz Ludwig, der 1896 das Buch Die Grafschaft Glatz in Wort und Bild veröffentlichte, geehrt.
Mittlerweile ist die GLATZ-Reihe ein bedeutender Aspekt der regionalen Fremdenverkehrswerbung der niederschlesischen Stadt. Wie in Breslau, wo man auf den Spuren von Krajewskis Mock wandern kann, gibt es auch in Glatz teils vom Autor selbst gestaltete Themenführungen. Und auch der südliche Nachbar Tschechien entdeckt vermehrt die touristischen Vorzüge des ehemals deutschen »Herrgottswinkels«. Vor allem seit drei Bände der Reihe ins Tschechische übersetzt wurden.
Schauplätze für deutsch-polnische Krimifans
Rätselhaft geht es auch im Roman Empusion der polnischen Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk zu. Er wird vom Kampa Verlag, der ihn 2023 auf Deutsch herausbrachte, als »feministisch-ökologischer Schauerroman« beworben. Darin treffen im Jahr 1913 im niederschlesischen Lungenheilort Görbersdorf/Sokołowsko Patientinnen und Patienten unterschiedlicher Regionen Mitteleuropas aufeinander. Während über gesellschaftspolitische Entwicklungen philosophiert wird, kommt es zu mysteriösen Todesfällen. Tokarczuk schreibt über den Ort: »Im preußischen Schlesien ist es gelegen, eine Viertelmeile von der tschechischen Grenze entfernt und elf Meilen südwestlich von Breslau, in einem langen Tale, das sich von Westen nach Osten hinzieht, zwischen dem Riesengebirge und dem Adlergebirge, im Kreise Waldenburg, erstreckt es sich malerisch an der Steine: das schmucke Dörfchen Görbersdorf, das seit Jahrzehnten schon berühmt ist als Luftkurort für Brustkranke.« Das Buch machte den in Vergessenheit geratenen Schauplatz wieder bekannt.
Schon zuvor hatte Tokarczuk mit Der Gesang der Fledermäuse (dt. 2011) einen Genre-Mix aus Ökothriller, Fabel und philosophischem Essay geschrieben. Ebenfalls im Glatzer Kessel angesiedelt, spielt der Roman jedoch in der Gegenwart. Die Hauptfigur Janina Duszejko, eine schrullige Rentnerin und Vegetarierin, rätselt darin ob des plötzlichen Todes mehrerer Männer im Dorf. Agnieszka Holland adaptierte das Buch im Film Die Spur, der 2017 bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin gezeigt und prämiert wurde.
Die nicht minder mit Preisen ausgezeichnete Autorin Joanna Bator begeisterte wiederum mit ihren Romanen zu Waldenburg/Wałbrzych. In Dunkel, fast Nacht (dt. 2016) sind Schloss Fürstenstein/Książ, vergessen geglaubte Kriegsgräuel, der traditionelle Kohleabbau und angespannte wirtschaftliche Bedingungen Zutaten einer Sozialstudie in Thriller-Format rund um vermisste Kinder. Auch hier gibt es eine Filmadaption. 2023 erschien Bators vielbeachteter Roman Bitternis, der ebenfalls eine Krimiebene hat.
Bei einer Betrachtung der aktuellen polnisch-deutschen Beziehungen aus literarischer Sicht kommt man am Autor Szczepan Twardoch nicht vorbei. Der mit dem mitteleuropäischen Literaturpreis Angelus ausgezeichnete Autor schickte im Roman Demut (2020) den Oberschlesier Alois Pokora auf eine abenteuerliche Heimreise von Berlin, wo er in den letzten Kriegstagen 1918 eben noch als Soldat der deutschen Armee im Spital lag und dann in die Halbwelt der Stadt gerät. Plötzlich ist alles anders, auch in der Heimat.
Bernadetta Darska, Literaturwissenschaftlerin an der Universität Ermland-Masuren in Allenstein/Olsztyn, erkennt bei vielen Krimiautorinnen und -autoren den Wunsch, sich der schwierigen polnisch-deutschen Geschichte zu stellen. Manche nutzen das deutsche Erbe, um spielerisch die Atmosphäre der alten Zeiten, die Multikulturalität und die Beziehungen zwischen verschiedenen Nationen zu vermitteln und damit die Vergangenheit des heutigen Polen aufzuzeigen. Eine andere Rolle spielt das Unbewusste in den Romanen, etwas, was mit dem Bedürfnis nach Wiedergutmachung, Enthüllung, Reinigung zu tun hat. Dabei ist die Handlung häufig so angelegt, dass sich Spannungsmomente mit Abenteuern und der Suche nach alten Dokumenten oder Schätzen vermischen.
Bekamen in sozialistischer Zeit Deutsche in Polens Kriminalliteratur bevorzugt die Rollen von Tätern und Gegenspielern zugewiesen, so lässt sich heute eine Verschiebung feststellen. Der aus Niederschlesien stammende Duszyński attestiert seinen Landsleuten, insbesondere der jungen Generation, wachsendes Interesse an der Region und der Auseinandersetzung mit dem deutschen Erbe. Ressentiments, bis vor wenigen Jahrzehnten besonders in der Nachkriegsgeneration verankert, sieht er bei den Jungen nicht. Erhöhte Mobilität und soziale Durchmischung Mitteleuropas machen die deutsche Vergangenheit in Polen zu einem spannenden Aspekt für kommende Generationen. Viel Deutsches aus früheren Tagen ist verschwunden, aber noch gibt es Spuren. Eine Reise, vielleicht vorerst nur eine literarische, lohnt sich allemal.