Skiöekumt y Wymysoü – mit diesem Willkommensgruß werden die Autofahrenden am Ortseingang von Wilmesau, das die Einwohnerinnen und Einwohner Wymysoü nennen, begrüßt. Die rund dreitausend Menschen beherbergende Stadt liegt etwa auf halber Strecke zwischen Mährisch-Ostrau/Ostrava in Tschechien und Krakau/Kraków in Polen. Bis 1945 bildete sie eine Sprachinsel, in der weder Deutsch noch Polnisch gesprochen wurde, sondern Wilmesaurisch. Wer westdeutsche Mundarten spricht, kann es teilweise verstehen. Im 13. Jahrhundert waren Siedlerinnen und Siedler aus Flandern und vom Rhein aus wirtschaftlichen Gründen in die Region gezogen. Über Jahrhunderte hatte sich eine homogene Gemeinschaft entwickelt, die weitgehend unter sich blieb. So konnte die wilmesaurische Sprache eine eigene Entwicklung nehmen, die äußeren Einflüssen trotzte. Bis heute. Spaziert man durch die kleine Stadt, stößt man überall auf Hinweistafeln, die sowohl auf Polnisch als auch auf Wymysiöeryś, also Wilmesaurisch, verfasst sind.
Auf dem Marktplatz steht die Statue des Erzbischofs Józef Bilczewski mit der Inschrift Patrün yr Śtot Wymysoü (»Patron der Stadt Wilmesau«). Der katholische Kirchenfürst stammte aus dem Ort und trug im 19. Jahrhundert wesentlich zur Stadtentwicklung bei. Auch am Rathaus oder dem ehemaligen Kindergarten findet man Wissenswertes auf Wilmesaurisch und auf dem Weg zur Kirche lädt ein Błimłagyweł (»Blumenladen«) zum Kaufen ein.
In der Zeit der Volksrepublik Polen stand die Benutzung des Wilmesaurischen unter harten Strafen. Der Name Wilmesau, vom deutschen Vornamen Wilhelm abstammend, wurde durch das polnische Wilamowice ersetzt. Doch seit den 2000er Jahren bemühen sich die Einwohnerinnen und Einwohner verstärkt um die Wiederbelebung der Sprache ihrer Vorfahrinnen und Vorfahren. Einer von ihnen ist der junge Wissenschaftler Tymoteusz Król, der sich als Muttersprachler des Wilmesaurischen mit dessen Erforschung beschäftigt.
»Als Kind war ich viel bei meiner Oma, die mit mir nur auf Wilmesaurisch gesprochen hat«, erzählt Król. »Als ich merkte, dass unsere Sprache ausstirbt, beschloss ich, alles zu tun, damit die Kultur von Wilmesau nicht verloren geht.« So begann er, die älteren Bewohner und Bewohnerinnen der Stadt zu befragen und ihre Antworten aufzuzeichnen. Zu Beginn gab es große Vorbehalte. Denn die Angst vor Verfolgung und Gefängnis war auch nach dem Ende des Kommunismus noch immer groß. Dennoch trauten sie sich nach knapp sechzig Jahren endlich wieder, auf Wilmesaurisch zu sprechen und es durch die Aufnahmen an ihre Nachfahren weiterzugeben. Der Verein »Wilmesauer« (Stowarzyszenie Wilamowianie) gab erste Sprachkurse für Kinder. Ihr Lehrer Józef Gara veröffentlichte ein Wörterbuch mit Gedichten und Liedern. Mittlerweile sind besonders die älteren Menschen sehr stolz darauf, Król zu unterstützen, wenn er sie zu Recherchezwecken oder einfach zum Reden besucht. »Wann immer ich zu ihnen komme, öffnen sie mir die Tür und ich sehe die Freude in ihren Augen, endlich wieder die Sprache ihrer Kindheit benutzen zu dürfen.« Auf diese Weise sind bereits über zweitausend Stunden Tonmaterial mit etwa einhundert Muttersprachlern entstanden. Für die Erforschung der Sprache ist es unersetzlich.
Die Wilmesauer waren stets stolz auf ihre Sprache
Es stellt sich die Frage, wie das Wilmesaurische eigentlich so lange überleben konnte. Die Siedlerinnen und Siedler brachten im 13. Jahrhundert ihren Dialekt mit und entwickelten ihn weiter. So kamen über die Jahrhunderte immer wieder neue Ausdrücke hinzu. Wilmesau liegt in einer Region zwischen Kleinpolen, Schlesien und Mähren, die früher durch Grenzen getrennt waren. Der Alltag war von Mehrsprachigkeit geprägt. Viele waren als Händler tätig und konnten schnell zwischen Deutsch, Polnisch oder Jiddisch wechseln. Im wenige Kilometer entfernten Bielitz-Biala/Bielsko-Biała etwa, wo Deutsch-Schlesisch gesprochen wurde, verstand man die Wilmesauer nicht. Sie galten als »fremd« und man spottete sogar über sie. Trotz des ständigen Kontakts zur deutschen Sprache bzw. zu deutschen Dialekten, entwickelte sich das Wilmesaurische eigenständig. »Ein Grund hierfür liegt sicherlich in der Reformation«, erklärt der Ethnologe Król. »Mit ihr wurde die Region evangelisch-reformiert. Doch nach und nach kehrten viele Gemeinden wieder zum katholischen Glauben zurück. Einzig das Versprechen, ihre Sprache und Kultur unter Schutz zu stellen, bewegte die Wilmesauer unter Druck, zum Katholizismus überzutreten. Das war im Jahr 1640.« Die Wilmesauer hatten zwar Kontakt zu den umliegenden Gemeinden und damit auch zu den unterschiedlichen Sprachen. Sie orientierten sich jedoch nicht am Schlesischen, sondern behielten ihren Dialekt, ihre jahrhundertelang tradierte Sprache, bei.
Die Bevölkerung der kleinen Stadt war stets stolz auf ihre Kultur. »Das ging sogar so weit, dass Fremde, die in die Stadt zuzogen, sich selbstverständlich anpassen mussten«, berichtet Król. Wilmesau erlangte Reichtum durch Landwirtschaft und Textilindustrie, die Produkte wurden weit über die Regionsgrenzen hinaus verkauft. Dies erzeugte in den Nachbargemeinden nicht nur Ansehen, sondern auch Neid. Während im ausgehenden 19. Jahrhundert um sie herum der Nationalismus hochkochte, bewahrten sich Wilmesauer ihre Eigenständigkeit, indem sie darauf bestanden, keine Polen und auch keine Deutschen zu sein.
Lange Zeit Angst vor Verfolgung
»Bis heute sehen die Bewohner von Wilmesau keine Verbindungen zu Deutschland, sondern betonen immer ihre Eigenständigkeit«, erklärt Król diese Besonderheit. Dieser Umstand hat sie gleich zweimal »gerettet«, da Wilmesau geografisch immer in einer Grenzregion lag. Bis Ende des Ersten Weltkrieges gehörte es zum galizischen Teil von Österreich-Ungarn. Danach fiel es, wie das benachbarte Ostoberschlesien, an Polen. Als 1939 die Wehrmacht im Ort einmarschierte, war die Angst innerhalb der Bevölkerung groß. Die polnische Öffentlichkeit hatte zuvor Schreckensmeldungen über die Deutschen verbreitet. Teile der Bevölkerung flohen sogar. »Ein deutscher Soldat schenkte meiner Oma ein Stück Schokolade. Doch ihre Angst, die Schokolade könnte vergiftet sein, war so groß, dass sie das Stück nicht aß«, erzählt Król. Die Deutschen aber hatten keine Berührungsängste mit den Wilmesauern. Im Gegenteil sahen sie in ihnen Brüder ihres Volkes und zwangen sie, die deutsche Volksliste zu unterschreiben, die sie in vier verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Rechten einteilte. Unterschrieb man die Liste nicht, drohte die Deportation in ein Konzentrationslager. Einige Wilmesauer kamen so im KZ Mauthausen ums Leben.
Aus Rosner wurde Rozner
Nach Kriegsende änderte sich mit den neuen Machthabern die Lage grundlegend: Weil für die neue polnische Regierung die wilmesaurische Sprache deutsch klang, wurde sie und damit die gesamte wilmesaurische Kultur verboten. Einige Bewohner wurden in sibirische Lager deportiert, andere in Arbeitslager in der Umgebung. Viele Familien wurden aus ihren Häusern vertrieben. Doch die Wilmesauer flohen nicht, wie viele der benachbarten Schlesierinnen und Schlesier, nach Deutschland, sondern kamen bei ihren polnischen Nachbarn unter. Dort arbeiteten sie für diese, bis sie 1956 im Zuge der Entstalinisierung und einer leichten Entspannung zurück in ihre Häuser ziehen durften.
Der neue polnische Staat schrieb die Polonisierung in sämtlichen Bereichen vor, auch die Namen mussten verändert werden. »Aus dem Familiennamen Rosner wurde Rozner«, erklärt Król anhand eines Grabes auf dem örtlichen Friedhof. »Oder hier wurde aus Schneider der neue polnische Name Sznajder.« Immer wieder bleibt er an Gräbern stehen und erzählt Geschichten über die Menschen aus Wilmesau. An einigen Grabmalen findet man nicht nur polnische Inschriften, sondern auch wilmesaurische. Denn es gelang den Wilmesauern auch nach 1945, ihre Traditionen zu bewahren. Einerseits passte sich die Bevölkerung den polnischen Nachbargemeinden in der Umgebung an, andererseits gründete sich bereits 1949 die Wilmesaurische Tanzgruppe. Da die Polen mittlerweile verstanden hatten, dass die Bewohner von Wilmesau keine Deutschen waren, durften sie ihre Trachten wieder tragen. So konnte die Tanzgruppe zumindest einen Teil ihrer Kultur leben und bewahren. Die Sprache aber blieb verboten.
Erst nach der politischen Wende Anfang der 1990er Jahre änderte sich das. Heute gibt es neben der Tanz- auch eine Theatergruppe, die einmal im Jahr ein Stück auf Wilmesaurisch aufführt. Selbst so populäre Stücke wie Der kleine Prinz, Der kleine Hobbit oder Eine Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens sind dabei, natürlich übersetzt, schwärmt Król. »Dank der Sprachkurse vor Ort verstehen immer mehr Einwohner die alte Sprache und können den Stücken folgen.«
Aktuell gibt es rund zwanzig aktive Sprecherinnen und Sprecher, aber etwa fünfhundert Menschen, die Wilmesaurisch verstehen. Es gibt Sprachkurse für Erwachsene, für Kinder und einen Online-Kurs. Mittlerweile bietet sogar die Universität Warschau, an der der Ethnologe Król lehrt, Kurse an. »Prima wäre es, wenn es an den Schulen unterrichtet würde«, erklärt er. »Leider erkennt der polnische Staat bisher die wilmesaurische Sprache nicht als Regionalsprache an. Sonst hätten wir Mittel für Bücher und Lehrmaterialien. Wir arbeiten schon seit langem an einer Anerkennung, doch erst seit dem Regierungswechsel 2023 in Polen haben wir mehrere Fortschritte gemacht, sodass es hoffentlich bald mit der Anerkennung klappt.« Weltweit ist das Wilmesaurische bereits seit 2007 als offizielle Sprache von der Library of Congress in Washington D.C. anerkannt. Für die Theateraufführungen stellt eine Gruppe die Kostüme und Requisiten selbst her und erfährt so bei jeder Probe etwas mehr über die wilmesaurische Kultur. Immer wieder finden Aktivitäten auf Wilmesaurisch für Kinder statt und interessierte Besucherinnen und Besucher können an einer Stadtführung auf Wilmesaurisch teilnehmen oder sich im neu errichteten Museum über die besondere Kultur von Wilmesau informieren.
»Ich träume von einer Stadt, in der Mehrsprachigkeit gelebt wird«, verrät Król. Seine Hoffnung sei, dass in naher Zukunft wieder möglichst viele Einwohnerinnen und Einwohner die Sprache zumindest verstehen und ins Polnische übersetzen können. »Ganz ähnlich, wie es vor Jahrhunderten in dieser Grenzregion gewesen sein muss. Man bestellt seine Brötchen beim Bäcker auf Wilmesaurisch, die Antwort aber erhält man ganz selbstverständlich entweder auf Wilmesaurisch oder eben auf Polnisch.«
Julia Tielmann