Beata Giblak: Neisse 1914–1918. Kultur, Literatur und Alltag einer oberschlesischen Stadt im Ersten Weltkrieg. Eine Buchrezension von Dawid Smolorz

KK 1448 23 25 Rezi Smolorz Giblak 1000x1500Man könnte meinen, dass über die Geschichte von Neisse/Nysa schon alles geschrieben worden sei. Der einstige Residenzsitz der Breslauer Bischöfe, wegen der vielen Kirchen auch Schlesisches Rom genannt, zählte ja jahrhundertelang zu den wichtigsten urbanen Zentren der gesamten Region und wurde daher oft zum Gegenstand historischer Untersuchungen. Doch fand Beata Giblak, die in der Stadt an der Glatzer Neiße zu Hause ist, einen Bereich, der bisher nicht nur im lokalen, sondern auch im gesamtoberschlesischen Kontext kaum beachtet worden war. Einen weißen Fleck in der Geschichte stellte der Erste Weltkrieg wahrscheinlich auch deshalb dar, weil sowohl die Stadt als auch die Region – abgesehen von der frühen Phase des Konflikts – hunderte Kilometer von den Fronten entfernt waren und in den Jahren 1914 bis 1918 auf oberschlesischem Boden keine Kämpfe stattfanden.

Dabei eignet sich die Stadt sehr gut für eine Studie über den Alltag in der Zeit des Ersten Weltkrieges. Denn während des letzten großen Konflikts, in dem es noch keine systematischen Luftangriffe gab und keine Raketenwaffen eingesetzt wurden, waren zwar die zivilen Einwohnerinnen und Einwohner von Neisse keinen direkten Gefahren ausgesetzt, doch war ihr Leben – wie die Autorin hervorhebt – wegen des Status einer Garnisonsstadt eng mit dem Militär verbunden. Mehrere tausend der ursprünglich in Neisse stationierten Soldaten kämpften an den Fronten des Krieges. Gleichzeitig ließen sich die großen Gruppen Gefangener nicht übersehen, die in der Festung inhaftiert waren und im Grunde auch zum Straßenbild gehörten.

Beata Giblaks Buch besticht durch die Menge und die Vielfalt an Information. Die Verfasserin hat eine Riesenarbeit geleistet, indem sie unzählige, bisher unerschlossene Quellen und Materialien auswertete, von denen einige in der Veröffentlichung direkt zitiert werden. So entstand ein Werk, das sich in wissenschaftlicher Form mit teilweise alltäglichen Themen auseinandersetzt und einen breiten Einblick in die wichtigsten Lebensbereiche gewährt. Neben solchen profanen Fragen wie der Lebensmittelversorgung und der Ernährung widmet die Autorin ihre Aufmerksamkeit auch dem kulturellen Leben, dem Theater, dem Schulwesen sowie dem Vereins- und dem religiösen Leben. Zu erwähnen sei dabei, dass die Erkenntnisse der Verfasserin dem allgemein verbreiteten Bild einer Kriegszeit oft nicht entsprechen. Bemerkenswert ist zum Beispiel, mit welch enormem Engagement die Menschen in der Stadt, aber auch die Behörden, bestrebt waren, in einer von immer größer werdenden Entbehrungen gekennzeichneten Zeit so viel Normalität zu schaffen, wie es nur ging.

Das Buch von Beata Giblak stellt eine wertvolle und wichtige Ergänzung des historischen Bildes einer Stadt dar, die von dem ersten großen Konflikt des 20. Jahrhunderts zwar indirekt, aber dennoch betroffen war und während des nächsten großen Krieges, im Frühjahr 1945, de facto aufhörte, in ihrer bisherigen Gestalt zu existieren.

Beata Giblak: Neisse 1914–1918. Kultur, Literatur und Alltag einer oberschlesischen Stadt im Ersten Weltkrieg.
Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2024, 394 S., ISBN 978-3-96023-523-1