Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung: Katalog zur ständigen Ausstellung.
Sandstein Verlag
Dresden 2024, 336 S.
ISBN 978-3-95498-839-6
Wie auch das Berliner Dokumentationszentrum selbst widmet sich der gut drei Jahre nach der Eröffnung der Dauerausstellung vorgelegte Katalog Formen von Ungeheuerlichkeiten, die das 20. Jahrhundert zahlreich hervorgebracht hat: der zwangsweise durchgeführten Massenmigrationen aufgrund von Kriegen, Vertreibungen, ethnischen Säuberungen. Dabei wählen Ausstellung wie auch Katalog einen doppelten chronologischen Zugang. Erzählt wird einmal eine globale Geschichte der zwangsweisen Entwurzelung von Menschen des vergangenen Jahrhunderts, um sich im zweiten Teil vor allem auf die (nichtjüdischen) Deutschen und deren Erfahrungen mit Flucht, Gewalt, Heimatverlust und sozialer Randständigkeit in der neuen Heimat zu konzentrieren. Damit traf sie ein hartes Los, das zu kontextualisieren ist, das es aber keinesfalls zu bagatellisieren gilt. Dies verbietet schon die Größenordnung von 14 Millionen »deutschen Volkszugehörigen«, die im Kontext und der Folge des Zweiten Weltkriegs fliehen mussten, ausgewiesen, vertrieben oder deportiert wurden.
In sehr gut lesbaren, grafisch ansprechenden und übersichtlichen Kapiteln arbeitet sich der Band an Themen wie »Krieg und Gewalt«, »Recht und Verantwortung« oder »Wege und Lager« ab. Die Folgen von Flucht und Vertreibung werden unter »Verlust und Neuanfänge« aus kulturübergreifender Perspektive behandelt. Trotz großer zeitlicher Abstände und unterschiedlicher kultureller Kontexte der hier vorgestellten Schicksale gibt es dramatische Schnittmengen bei den Erzählungen der älteren deutschen Generation und Flüchtlingen der jüngeren Jahrzehnte über das Zerreißen von Familien und sozialen Bindungen, den materiellen Verlust und die Erlebnisse von Gewalt und Todesgefahr, aber auch über die Schwierigkeiten eines Neuanfangs als soziale Randgruppe, die nicht immer willkommen war.
Exemplarisch werden Menschen aus den deutschen Ostgebieten, dem ehemaligen Jugoslawien und aus Vietnam vorgestellt, die trotz aller Schwierigkeiten mit großem Integrationswillen versuchen, in der deutschen Gesellschaft etwas Wichtiges garantiert zu bekommen: Freiheit und Geborgenheit.
Etwa zur Hälfte ist das Buch der Geschichte der Vertreibungen im Kontext des Zweiten Weltkriegs gewidmet. Hierbei werden deutsche Kriegs- und Massenverbrechen angesprochen, aber auch einfühlsam die Schicksale deutscher Flüchtlinge und Vertriebener am Beispiel der verschiedenen europäischen Herkunftsregionen behandelt sowie die facettenreiche Rezeption dieser Thematik beleuchtet.
Etwas kurz kommt die Reflexion darüber, was es bedeutet, wenn Sprachen, Musik, Kunst, Küche und Lebensart in diesem Zusammenhang verschwinden und eine Homogenisierung passiert. Über den Katalog lässt sich Begleitmaterial umfangreich online erschließen. Bilder, in ihrer Einfachheit exzellent gemachte Einführungsfilme zu den einzelnen Kapiteln sowie sehr beeindruckende Zeitzeugeninterviews lassen sich auf diesem Weg anschauen und bereichern den auch ohne Ausstellungsbesuch sehr lesenswerten Katalog erheblich.
Karl-Konrad Tschäpe