Ein N auf weißem Kreis macht gleich ganzseitig am Anfang klar, worum es geht. Diese Abkürzung auf einer nach 1945 verpflichtenden Armbinde für Němci (»Deutsche«) begegnet uns in den Geschichten immer wieder. Sie handeln von Internierung, Morden, Hunger, Flucht und Vertreibung aus der Perspektive von Kindern. Als Erwachsene haben sie ihre Erlebnisse Jan Blažek erzählt – für Europas größte öffentliche Online-Erinnerungssammlung Pamět národa (»Nationales Gedächtnis«).
Marek Toman verwandelte die Berichte in Comic-Szenarien. Wir sehen Bilder von Vorkriegskindheiten und dann von äußerster Brutalität, die die jungen Menschen während und nach der NS-Zeit mit ansehen mussten. Tschechische Künstlerinnen und Künstler haben jede einzelne Geschichte in einer zu ihr passenden Weise gestaltet. So sind die im Böhmerwald spielenden Szenen in expressionistisch-flächigen Ausdrucksfarben dunkelgrün und braunrot gehalten und die schockierenden Erlebnisse des ältesten Befragten, der alles genau wahrnahm, in zackenreichem grobem Holzschnittstil.
Im Anschluss an die Comics erläutern Texte die historischen und biografischen Kontexte. Auch der oder die jeweilige Interviewte und die Gesprächssituation werden beschrieben. So kommen einem die Personen nahe, die Themen werden emotional nachhaltiger vermittelt als über bloße Daten und Fakten.
Erreicht wird dies aber vor allem durch die filmartigen Comic-Kompositionen. Die Szene, in der die Mutter eines Protagonisten einem Juden eine Lebensmittelmarke ausgibt, obwohl dieser nach den menschenverachtenden NS-Gesetzen eigentlich kein Recht darauf hätte, wird aus den Perspektiven der beiden Figuren in abwechselnder Fern- und Nahaufnahme erzählt. Solche gedehnten Momente stehen Bildern gegenüber, die mehrere Jahre zusammenfassen. Das gestrichelte und damit verschwindend wirkende Porträt des gefallenen Bruders sagt alles über dessen Schicksal aus.
Sogar Geräusche stellen die Comics dar, etwa wenn kleine Menschenfiguren auf einem Bürgersteig laufen und nicht nur über, sondern auch unter ihnen Kampfflugzeuge donnern. Die Jungvolk-Lieder, in denen von Messerangriffen auf jüdische Menschen gesungen wird, materialisieren sich in Bildern von rollenden Köpfen in einer spitzzackigen Blase über den Häuptern der marschierenden Kinder.
Nicht nur die Geburtsjahre und damit die Wahrnehmungen der Erzählenden sind divers, sondern auch die Arten des Umgangs mit dem Erlebten: Für die eine ist das Engagement für tschechische Dissidenten hilfreich, für den anderen der Wiederaufbau seiner Heimatkirche im Böhmerwald.
Die preisgekrönte Graphic Novel hat eine explizit aufklärerische Dimension. Zur Erzählung einer als Kind vertriebenen Nachfahrin von Antonín Dvořák heißt es: »Die Geschichte ihrer Familie wirft die Frage auf, ob die Tschechen gemeinsam mit der deutschen Bevölkerung nicht auch ein Stück ihrer selbst abgeschoben haben.«
Marek Toman/Jan Blažek: Die vertriebenen Kinder
Aus dem Tschechischen von Raija Hauck
Balaena Verlag, Landsberg am Lech 2022, 136 S.
ISBN 978-3-9819984-8-1