Inna Hartwich: Friedas Enkel. Meine Familie und das Erbe der Gewalt in Russland. Eine Rezension von Ingeborg Szöllösi
Buchcover: Inna Hartwich: Friedas Enkel

»Fresst!, sagt die Großmutter.« Sie meint damit nicht Schafe oder Schweine, sondern ihre Enkel, die auf Besuch sind und ihre fetten Kartoffelpuffer essen werden müssen – ja, müssen, denn ein »Es schmeckt mir nicht« gibt es in ihrem Haus nicht. Dass die kleine Inna mit ihrem Bruder nicht gern bei der Großmutter ist, leuchtet bereits auf der ersten Buchseite ein.

Inna Hartwich, Journalistin und Autorin, beschreibt in ihrem Erstlingswerk Szenen aus dem allernächsten Familienkreis, die erschütternd sind, jedoch erklären, worum es der erwachsenen Inna geht: Sie will verstehen, wie sich Gewalt vererbt, wie erfahrene Ungerechtigkeit den Menschen verformt und ihn empathielos werden lässt. Prinzipien pflastern den Weg von Baba Frieda: »Es muss Ordnung herrschen im Leben« oder »Im Leben muss man stark sein«. Gefühle kann die Großmutter nicht zulassen. Zu groß ist die Angst, von Letzteren weggespült zu werden. Das emotionale Chaos, das Allzumenschliche, wird mehr gefürchtet als die Tyrannei – kein Wunder, dass Herrschsucht im Großen gebilligt und im Kleinen geduldet wird.

Der Sohn von Frieda, Vater der Autorin, eignet sich die karge Ausdrucksweise seiner Mutter an: Als es Anfang der 1990er Jahre heißt, die Familie werde nach Deutschland ausreisen, gibt es keine Erklärungen. Ein »Weil wir Deutsche sind« muss den Kindern alle Fragen beantworten. »Was aber heißt das?«, schließlich ist die Familie doch »in der Sowjetunion« zu Hause. Vor der Ausreise ins »ominöse Land« Deutschland stirbt Friedas Mann Richard »in der Steppe am Ural«. Gorbatschows »Perestroika« war ihm eine Freude, aber sein Schweigen wog schwer wie Blei. Das nationalsozialistische Deutschland und die Sowjetunion, »totalitäre Staaten«, hatten ihn dazu gezwungen: »Die Angst sitzt ihm auch kurz vor seinem Tod noch tief in den alten, geschundenen Knochen.«

Die Angst ist wie ein »Virus, dessen sich die russische Gesellschaft nie entledigt hat.« Bereits auf Seite drei von Hartwichs Buch steht fest, dass die Autorin ausgehend von ihrer Familiengeschichte ein gesellschaftspolitisches Panoptikum des heutigen Russland bietet. Die Angst grassiert überall, wohin es die Autorin als Korrespondentin deutschsprachiger Zeitungen in Moskau verschlägt. Auch auf ihren zahlreichen Recherchereisen zur Ergründung ihrer Herkunft muss sie feststellen, dass Mut und Zivilcourage in Russland heute rar sind. Angst »befällt« die Menschen, Angst »zerfrisst« sie und zersetzt das zwischenmenschliche Miteinander: Wem kann ich was anvertrauen, vor wem muss ich befürchten, dass er mich denunziert?

Inna Hartwich wirft Fragen auf, die ihr selbst »körperliche Schmerzen« bereiten, »weil ein Land, mit dem ich mich tief verbunden fühle, ein anderes angegriffen hat, das meine Familie geprägt hat – und sich dabei selbst zerstört«. Russland ist gerade im Begriff, sich selbst zu zerstören: »Politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich. Auch moralisch.« Der Schmerz ist »stechend«. Ironie des Schicksals: Ein Prinzip Friedas trägt Früchte: »Mach dich lieber nützlich, heulen kannst du woanders.« Ihre Enkelin hat sich nützlich gemacht – sie hat ein Buch geschrieben und widerlegt damit ein anderes Prinzip ihrer Großmutter: »Wenn du bestehen willst im Leben, musst du einfach die Klappe halten.«


Inna Hartwich: Friedas Enkel. Meine Familie und das Erbe der Gewalt in Russland
Frankfurter Allgemeine Buch, Frankfurt a. M. 2023
224 Seiten
ISBN: 978-3-96251-162-3