Andreas Kossert: »Flucht. Eine Menschheitsgeschichte«. Eine Rezension von Ingeborg Szöllösi
Januar/Februar 2021 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1421

Buchcover: Andreas Kossert: Flucht. Eine Menschheitsgeschichte

Andreas Kossert, Historiker und Autor des Bestsellers Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, hat im Gedenkjahr »75 Jahre seit Kriegsende« ein Buch vorgelegt, das niemanden kaltlässt. Allein ein Blick auf die Titel der wenigen Kapitel dieses Buches (»Jeder kann morgen ein Flüchtling sein«, »Heimat«, »Was war, endet nicht«) zeigen: Kosserts Themen sind existenziell. Gibt es jemanden, der »Weggehen«, »Ankommen«, »Weiterleben«, »Erinnern« nicht erfahren hat? Und wer kennt nicht diese Frage: »Wann ist man angekommen?«

Leben bedeutet unterwegs zu sein. Trotzdem fehlt es oft an Mitgefühl, wenn es um Menschen auf der Flucht geht. Sie scheinen das bedrohlich Andere zu verkörpern, wogegen das eigene Zuhause verteidigt werden muss. Dabei ist im Angesicht des Todes jeder Besitzstand und auch ein Alleinanspruch auf Heimat obsolet. In Zeiten, in denen so manch ein Politiker Flüchtlinge als eine »Ladung Menschenfleisch« bezeichnet, ist eine distanziert-philosophische Betrachtungsweise fehl am Platz, da sie jene Menschen verhöhnt, die vor Krieg, Terror und Gewalt fliehen müssen. Sich ausschließlich diesen Menschen gewidmet, sich ihnen leibhaftig und empathisch genähert zu haben, ist Kosserts großes Verdienst. In seinem Buch kommen ihre Erfahrungen, ihre Perspektiven zum Tragen.

Aus all dem, was Zeitzeugen dem Autor erzählt haben, kristallisiert sich ein universales Erklärungsmuster heraus: Flüchtlinge halten »am kulturellen Erbe der alten Heimat« fest; sie brauchen diese Zugehörigkeit, wenn sie von Fremden und Fremdem umgeben sind. Zahlreiche Abbildungen mit ausführlichen Bildunterschriften visualisieren ihre Not. Der Satz, der unter einem abgebildeten Schlüsselbund einer aus Spanien vertriebenen sephardischen Familie steht, trifft auf alle Menschen zu, die ihre Heimat zwangsweise verlassen müssen – sie »schließen ihre Häuser ab und verwahren die Schlüssel gut, in der Hoffnung, dass sie doch einmal zurückkehren können«.

Jeder Mensch sehnt sich nach einem Leben in Freiheit. Paul Celan, an dessen 100. Geburtstag und 50. Todestag im Erscheinungsjahr von Kosserts Buch ebenfalls erinnert wurde, bannt diese Sehnsucht in eine Verszeile: »Erst jenseits der Kastanien ist die Welt.« Nicht wenige Flüchtlinge enttäuscht »die Welt«, in die sie geraten und die der aus Schlesien stammende Dichter Max Herrmann-Neiße als eine »Welt, die unser Leid nicht faßt« umschreibt. Die innere Zerrissenheit, die ein Leben fern der Heimat mit sich bringt, klingt auch in den »Zionsliedern« des jüdischen Gelehrten Jehuda Halevi an: »Mein Herz im Osten, und ich selber am westlichen Rand.« Nebst Zeitzeugenberichten zieht Kossert zahlreiche literarische Quellen heran.

Sein Buch erweist sich als eine wahre Fundgrube für Historiker wie Literaten. Zu hoffen bleibt, dass es von vielen Lehrern herangezogen wird, um Jugendlichen die »Menschheitsgeschichte« so nahezubringen, wie sie uns Kossert erschließt – als eine Begegnung zwischen Ich und Du, ohne die das Abstraktum »Menschheit« seinen Sinn verliert.

Kossert, Andreas: Flucht. Eine Menschheitsgeschichte, Siedler Verlag, München 2020, 432 Seiten
25,– €, ISBN978-3-8275-0091-5