Frau Vavrouchová, Sie haben fünf Jahre lang mit Landschaftsarchitekten, Historikern und Informatikern ehemalige Siedlungen in Mähren und im tschechischen Teil Schlesiens erfasst. Was war das Ziel dieses Projekts?
Die Hauptidee war die Kartierung aller Siedlungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg und später auf dem Gebiet von Mähren und Schlesien physisch verschwunden sind. Die überwiegende Mehrheit der Gebäude wurde entfernt, und die frühere Anwesenheit menschlicher Siedlungen ist nur noch in Form kleiner Relikte vorhanden. Oft konnten wir sie nur noch auf der Grundlage demografischer Statistiken und historischer Kartierungen feststellen. Es gibt unzählige solcher Siedlungen, darunter auch Einöden oder alleinstehende Mühlen. Unser Team musste sich auf diejenigen beschränken, die nach der Vorkriegsstatistik mindestens drei Hausnummern hatten. Letztendlich haben wir fast 120 dieser verschwundenen Ortschaften erfasst und eine interaktive Landkarte erstellt (www.zanikla-sidla.cz). Sie lehren uns, ein Stück unserer gemeinsamen Geschichte zu verstehen, die für beide Seiten nicht einfach war.
Wie kann man sich diese Orte vorstellen, wie haben die Menschen dort damals gelebt?
Zumeist handelt es sich um relativ abgelegene Siedlungen, die nicht an das Stromnetz angeschlossen wurden, was sie für die Zukunft als Wohngebiet ausschloss. Charakteristisch für diese Standorte sind hohe Lagen, abschüssiges Gelände und wenig fruchtbare Böden. Die Winter im Grenzgebiet waren lang und kalt. Das Leben hier muss sehr hart gewesen sein. Die steinernen Wälle inmitten des Waldes an den steilen Hängen wirken heute magisch, erinnern aber auch daran, dass das Gebiet früher als Ackerland bewirtschaftet wurde, was heute aus vielerlei Gründen nicht mehr möglich wäre. Auf jeden Fall haben die ursprünglichen Bewohnerinnen und Bewohner viel Entschlossenheit, Beharrlichkeit und vor allem ein Verständnis für das Gebiet gezeigt, was große Bewunderung und Anerkennung verdient.
Sie sind Landschaftsökologin. Was hat die Ökologie mit Vertreibung und verlassenen Orten zu tun?
Die Idee, an verschwundene Siedlungen zu erinnern, entstand auf einer landschaftsökologischen Grundlage. Nachdem die Menschen diese Orte verlassen hatten, begann sich die Landschaft zu verändern. Meist durch kontrollierte Eingriffe. Nach den Zerstörungen wurde das Terrain gezielt aufgeforstet oder das Ackerland in Weideland umgewandelt. Wenn Ackerland erhalten blieb, wurden kleine Felder zu größeren Einheiten zusammengefasst. Die Umgestaltung des Gebietes war enorm; der ursprüngliche Landschaftstyp ist verschwunden. Doch trotz der veränderten Nutzung und des mangelnden Schutzes blieben die ursprüngliche Struktur der Landschaft, Steinmauern oder ursprüngliche Obstbaumsorten erhalten. Dies ist aus landschaftsökologischer Sicht sehr interessant.
Nach und nach wuchs aber auch eine soziale Dimension in das Thema hinein. Das ist logisch. Landwirtschaftliche Veränderungen in der Landschaft sind Triebkräfte des Wandels und müssen im Kontext des gesellschaftlichen Geschehens betrachtet werden. Wir sind in der Lage, die Landschaftsstruktur und ihre Entwicklung in den letzten 200 Jahren zu rekonstruieren. Dabei geht jedoch oft der persönliche Kontext verloren – welche Orte waren für die Menschen in der Vergangenheit wichtig, welche Rolle spielte die Landschaft für frühere Generationen?
Und haben Sie da einen Unterschied zu heute feststellen können?
Ja, die Generation der Nachkriegszeit nahm die Landschaft ganz anders wahr und hatte eine engere Beziehung zu ihr. Die nachfolgenden Generationen begannen bereits, die Landschaft auf eine distanziertere Weise zu betrachten. So entstand die Idee, die Veränderungen in der Landschaft und der Gesellschaft durch die Geschichten einzelner Familien zu vermitteln.
Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Wir haben dafür nach Zeitzeugen gesucht. Das war teilweise recht kompliziert, denn die große Mehrheit der verschwundenen Siedlungen steht im Zusammenhang mit dem Abtransport der ursprünglichen deutschen Bevölkerung 1945. Das bedeutet, dass fast alle Zeitzeugen unmittelbar nach dem Krieg das Land verlassen mussten. Diese Menschen sind heute über achtzig Jahre alt. Unser Kampf »fünf Minuten vor zwölf« wurde durch die Corona-Pandemie noch verschärft. Dadurch hatten wir Schwierigkeiten, Kontakt zu den in Deutschland lebenden Zeitzeugen aufzunehmen.
Dazu kommt, dass sie damals noch Kinder waren. Oft erzählen sie, dass sie bei ihrer Rückkehr die ehemalige Heimat nicht mehr wiedererkannt haben. Trotzdem blieb sie ein Sehnsuchtsort. Viele erzählen, dass sie von Orten, die sie unter Zeitdruck verlassen mussten, wenigstens einen Stein aus dem eigenen Garten, ein Häufchen Erde oder einen Trieb vom Obstbaum in die neue Heimat mitgenommen haben.
Sie haben aber nicht nur mit Vertriebenen aus den Grenzgebieten gesprochen …
Ja, auch andere Gebiete waren vom Verschwinden betroffen, wie die Region Dukowan/Dukovany, wo drei Siedlungen wegen des Kernkraftwerkes verschwanden, oder einige Dörfer in der Region Ostrau/Ostrava. Dort waren die Realitäten anders; diese Orte verschwanden erst in den 1970er und 1980er Jahren und die Menschen zogen meist in die nähere Umgebung. Daher war es viel einfacher, sie ausfindig zu machen und mit ihnen zu sprechen.
Auch diese Orte waren ehemals deutschmährische Siedlungen …
Ja. Und sie wurden nach der Vertreibung sogar zunächst wiederbesiedelt. Erst Jahrzehnte später wurde beschlossen, dass die Menschen für immer gehen mussten. Das waren eher pragmatische, strategische Entscheidungen, aber sicherlich war es auch einfacher, Dörfer zu entsiedeln, zu denen die Zugezogenen kaum eine Verbindung hatten. Ursprünglich wurde beispielsweise das Gebiet unter dem Altvatergebirge/Hrubý Jeseník für die Einrichtung eines Truppenübungsplatzes in Erwägung gezogen. Die endgültige Entscheidung fiel aber für das zuvor von der Vertreibung betroffene Gebiet von Liebau/Libava. Aus heutiger Sicht können wir darüber nur froh sein, denn es handelt sich um sehr wertvolle Ökosysteme.
Wie haben die Zeitzeugen auf Ihre Anfrage reagiert?
Die Arbeit mit den Zeitzeugen war ein besonders ermutigender Teil meiner Tätigkeiten. Ich spürte, dass sie froh waren, ihre Geschichte mit jemandem außerhalb ihrer Gemeinschaft teilen zu können. Besonders deutlich wurde das beispielsweise bei den ehemaligen Bewohnern von Mußlau/Muzlov, das in den 1970er Jahren einem Trinkwasserreservat weichen musste. Noch heute wird Brünn mit diesem Wasser versorgt, aber kaum jemand weiß, dass das Dorf deswegen verschwunden ist. Als Brünnerin hatte ich das Gefühl, dass ich den vertriebenen Einheimischen diese Gespräche schuldig war. Die Zeitzeugen machten sich über uns Brünner lustig, sie witzelten: »Ihr trinkt unser Wasser.«
Wie gehen die heutigen Bewohner der Region mit dem Thema um, wie präsent ist die Erinnerung an die Deutschmährer heutzutage?
Ich denke, es ist ein eher vernachlässigtes Thema, für die ältere Generation ist es wahrscheinlich immer noch sensibel oder sogar kontrovers. Das Beispiel von Mußlau veranschaulicht jedoch die natürliche Koexistenz des deutschen Erbes und der tschechischen Realitäten. Das Dorf war von drei Vertreibungswellen betroffen, von denen die ersten beiden durch die Nationalität motiviert waren. Zunächst musste die tschechische Bevölkerung nach der Besetzung des Sudetenlandes vorübergehend das Dorf verlassen. Dann wurden die Deutschen vertrieben, und schließlich wurde das Dorf im Zusammenhang mit der Wasserschutzzone dauerhaft umgesiedelt.
Wer lebte zu dieser Zeit noch dort?
Was die Nachkriegsentwicklung betrifft, so durften Familien aus Mischehen im Dorf bleiben – unsere Zeitzeugen stammten meist aus diesen Reihen. Sie erinnern sich an die schwierige Nachkriegszeit, verbunden mit ihren Benachteiligungen, etwa in der Schule oder beim Lebensmitteleinkauf durch Lebensmittelmarken. Das verblasste später und wurde möglicherweise von beiden Seiten verdrängt und vergessen.
Und wie wird das heute wahrgenommen?
Heute sind diese alten Geschichten fester Bestandteil der lokalen Landschaft. Meine Generation und auch die nachfolgenden können sie leidenschaftslos betrachten und einfach akzeptieren, mit allem, was die Zeiten für beide Seiten schwierig gemacht hat. Der historische Kontext ist wichtig, um das Denken und Handeln der Menschen zu verstehen. Manche Muster wiederholen sich in Europa, und es ist gut, sie aus dieser Erfahrung heraus zu betrachten.