Seine Kickerkarriere begann Diethelm Blecking als Rechtsaußen in Schüler- und Jugendmannschaften am Niederrhein. Die Begeisterung und die Schnelligkeit stimmten, aber technisch hatte er Mängel. So wandte sich Blecking, Jahrgang 1948, dem Phänomen Fußball lieber wissenschaftlich zu, als Historiker. 1975 absol-vierte er das Erste Staatsexamen, 1985 wurde er an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit zur natio-nalpolnischen Sokół-Bewegung promoviert. Im Jahr 2000 wurde Blecking schließlich mit einer Arbeit über Sport und soziale Bewegungen an der Bergischen Universität Wuppertal habilitiert. Seine Forschungs- und Lehrtätigkeiten führten ihn an Hochschulen in Deutschland, Frankreich, Polen und Rumänien. Im Inter-view mit Markus Nowak räumt er mit einigen Mythen des Fußballs auf.
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Foto © Inga Haar

Herr Blecking, Fußball fasziniert nicht nur die Massen, sondern offenbar auch Historiker wie Sie. Wieso eigentlich?

Für Historiker ist der Fußball ein Geschenk. Seine Entwicklung von einem mittelalterlichen agrarischen Raufball zu dem Spiel der Moderne reflektiert dieses als Modell der Einhegung von Gewalt, aber ganz be-stimmt als ein Modell für Konkurrenz. Das ist das, was diesen Sport, aber auch unser Leben stark definiert. Gleichzeitig übernimmt der Massensport viele gesellschaftliche Funktionen und ist damit ein dankbares Objekt für historische und soziologische Reflexionen. Der Fußball transportiert nämlich, das wäre meine These, industriegesellschaftliche Verhaltensweisen: eben Konkurrenz, aber auch Leistung, Spannung, Ge-schwindigkeit – das ist das, was uns fasziniert.

Wie ist Fußball zum »Nationalsport« in so vielen Ländern geworden?

Der Auftakt zum Durchbruch liegt noch vor dem Ersten Weltkrieg. Die ganze Welt wird industriell-kapitalistisch organisiert und modernisiert. In den einzelnen Nationen und Ländern, die von England durch dieses Gesellschaftsmodell »beglückt« werden, übernehmen die Eliten häufig auch den in England erfundenen Fußball. Das ist ein Trickle-Down, der Fußball sickert also von der Oberschicht in die Mittelschicht und schließlich in die Unterschicht durch und wird dann häufig nationalisiert, zum nationalen Sport gemacht.
Länder wie die USA spielen lieber andere Ballsportarten …

Ja, why is there no soccer in the USA, wieso gibt es keinen Fußball in den USA?

Eine Erklärung ist, dass der gesellschaftliche Raum bereits durch den American Football und Baseball besetzt war, als der Fußball in die USA kam. Jetzt gibt es über den Frauensport andere Tendenzen, das ist ein neues kulturelles Phänomen. Übrigens, gerade American Football ist eben auch ein Spiegel der amerikanischen kapitalistischen Kultur, die sehr aggressiv ist – und keine Verlierer haben will, sondern nur den Gewinner herausstellt.

Als der DFB 1900 in Leipzig gegründet wurde, gab es unter den 86 Gründungsvereinen zwei aus Prag, aber keine aus den ehemaligen Ostgebieten. Wurde da nicht gekickt?

Das unterstreicht meine These: Fußball hängt sehr stark mit der Modernisierung und Industrialisierung zusammen. Gerade in seiner frühen Entwicklung ist es ein Sport der Metropolen. Auch andere Sportarten wie Leichtathletik und Radfahren zählen dazu. Das hat ganz stark mit industrieller Entwicklung zu tun. Die deutschen Ostgebiete waren das »Hinterland des Deutschen Reiches«, stark agrarisch geprägt.

Welche Rolle spielte Fußball in seiner Anfangsphase im östlichen Europa?

Im oberschlesischen Industriegebiet natürlich eine riesige Rolle. Da gibt es beispielsweise Ernst Willimowski, einen Schlesier, der zunächst für Polen spielt und Tore schießt, nach 1939 aber für Deutschland antritt und ebenfalls Tore schießt. Und es gibt andere Schlesier, die später in Deutschland eine Rolle spielten und zum Kader der Weltmeistermannschaft von 1954 gehörten. Oberschlesien ist ein Industriegebiet, dort herrschten Kohle und Stahl, es war ein Hotspot des Fußballs. Aber für weite Teile der deutschen Ost-gebiete gilt das nicht. Das agrarische Hinterland generiert nicht eine solche Moderne, dass dort Fußballsport draufzusatteln gewesen wäre. Auch heute noch haben wir in der Bundesliga erstaunlich wenig Repräsentanz von Vereinen aus dem Osten.

In Oberschlesien mit seinen Zechen und anderen Industriegebieten, reden wir da von Arbeitervereinen?

Fußball war aus soziologischer Sicht nie ein Arbeitersport. Er war eher ein »Angestelltensport«. Wer sich im 19. Jahrhundert darin engagiert, sind die sogenannten White-Collar-Workers, die Angestellten, eine neue Schicht, die noch nicht weiß, wo sie hingehört. Gehört sie zur alten Gesellschaft, zu den Bildungsbürgern, zu den Kapitalisten oder zählt sie zu den Arbeitern? Diese Schicht vergesellschaftet sich im Fußball. Auch viele Juden sind darunter, die von der Moderne das Ende der Diskriminierung erhoffen. Bei der Gründung des DFC in Prag spielten Juden eine große Rolle. Erst in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts sind die Arbeiter im Fußball genauso repräsentiert wie in der Gesellschaft. Um die großen Zechen in Oberschlesien und auch im Ruhrgebiet herum entfaltete sich der Fußball aber auch damals als Arbeitersport. Die sozialistische deutsche Sportbewegung definierte sich jedoch vor allem über die Turnvereine, den Fußball entdeckte sie erst nach dem Ersten Weltkrieg.

Dem Fußball haftet ein Aufstiegsversprechen an.  Jungen und Mädchen fangen früh an und wollen irgendwann in die Bundesliga …

Ja, Fußball bedeutet heute eine ungeheure Chance. Aber dieser Professionalismus war wichtig, damit die Arbeiter überhaupt mitmachen können. Der Amateur hat ja kaum Zeit, Fußball zu spielen. Der Amateur ist ein klassisches Ideal des englischen Gentlemans, der nicht arbeiten muss. Deswegen wurde in England ganz früh der Profisport gegründet, damit die Arbeiter mitspielen konnten. Ende 1932 stand auch der deutsche Fußball kurz davor, sich zu professionalisieren – doch die Nationalsozialisten machten dem ein Ende. Das hat dazu geführt hat, dass der deutsche Fußball sich lange Zeit nicht weiterentwickelt hat, weil ihm einfach die Ausländer fehlten.

Sie sprechen die Zeit vor der Bundesliga-Grün­dung 1963 an. Dann dauerte es noch acht Jahre, bis 1970 Frauenfußball »erlaubt« wurde.

Ich habe im Ruhrgebiet in dem Zusammenhang etwas Feines gefunden. Dort wurde die Entwicklung des Frauenfußballs durch den DFB stark behindert. Und doch existierten trotz dieser Diskriminierung schon in den 1950er Jahren Frauenfußballmannschaften im Revier. Protagonistinnen waren etwa Brunhilde Zawatzky von Fortuna Dortmund und Lore Karlowski von Kickers Essen, die beide aus Zuwandererfamilien stammten und masurische Migrationsbiografien hatten. Die Frauen haben sozusagen im Untergrund Fußball gespielt.

Kein Ruhmesblatt für den deutschen Fußball.

Im Grunde wiederholten sich die völkischen Thesen beim Fußball: Dass es Nationen gebe, die theatralisch spielten, die immer verletzt würden und weinten, und dann gebe es die anderen, die Harten. Dass es verschiedene Spielsysteme gebe, die zu einer Nation passen würden. Dabei sind diese Thesen überhaupt nicht zu belegen. Aber diese Vorurteile existieren und betrafen auch die Frauen. Erst Ende der 1960er Jahre kommt alles in Bewegung. Im Fußball kam die gesellschaftliche Modernisierung erst in den 1970ern an, in der Politik ja eigentlich auch.

Wenn Deutschland in diesem Jahr die EM austrägt, wird auch der Aspekt der Völkerverständigung durch Fußball unterstrichen.

Fußball ist da ambivalent. Ja, der Fußball wird zur Binnenintegration eingesetzt. Es gibt einen Effekt, den man Bonding nennen könnte, also das Verbinden. Ein zweiter ist das Bridging, also das Brückenbauen. Der Bonding-Effekt verbindet ethnisch-nationale Gruppen und führt zu Ideologien, die diese Verbindung unterstützen. In der Sowjetunion etwa hat der Fußball eine große Rolle für die Integration des riesigen Imperiums gespielt, teilweise kamen 90 000 Leute zu den Spielen. Aber ich bin skeptisch gegenüber der von vielen Kollegen beschworenen völkerverbindenden Funktion des Sports. Denn oft wird hier die pädagogische Vorstellung mit der Analyse vermengt. Ich wünschte mir natürlich auch, dass der Sport eine Brücke bietet oder sich für den Frieden einsetzt. Aber ich bin leider Historiker. Schauen Sie beispielsweise auf unser aller Vorbild Griechenland, wo die Olympischen Spiele herstammen. Dort war die Aufgabe des Sports, den Mann für den Kampf zu trainieren. Die Sportarten der Olympischen Spiele hatten immer klare militärische Funktionen.

Bei aller Skepsis, eine Kulturleistung können Sie dem Fußball doch nicht absprechen?

Keinesfalls. Das zeigt meine These von der zivilisierenden Kraft des Sports. 2006 führte die Weltmeisterschaft in Deutschland zu einer allgemeinen Zivilisierung, was das Nachdenken über Fußball betraf. Zum ersten Mal wurde offen die Rolle des Fußballs im Nationalsozia­lismus diskutiert. Fußball wurde als globales Spiel gewürdigt und es wurde versucht, Natio­nalismus herauszuhalten. Man wollte bei der Heim-WM 2006 Deutschland als ein Land darstellen, das weltoffen ist. Die zivilisatorische Kraft des Fußballs war zu diesem Zeitpunkt in Deutschland tatsächlich gefragt, weil Fußball mittlerweile ein globaler Sport ist. Und wenn man auf internationaler Ebene die Rolle eines Players spielen will, muss man sich kultivieren und zivilisieren.
Zum Schluss bleibt die Frage nach der EM 2024. Tippt ein Historiker den Europameister?
Ich wünsche der Mannschaft, die das spielt, was meine Studenten einen »geilen« Offensivfußball nennen würden, dass sie das Turnier gewinnt. Wer das sein wird, da bin ich schlicht gespannt!