Sie sei froh, sich darauf konzentrieren zu können, »jahrelang einen ziemlich langen Text zu schreiben, statt jeden Tag mehrere kurze«, sagte Anke Hilbrenner, Jahrgang 1972, einst in einem Interview und spielte auf ihren früheren Berufswunsch an. Während ihres Studiums der Osteuropäischen Geschichte und Germanis-tik in Bonn und Bochum wollte sie Journalistin werden, blieb nach der Dissertation 2003 aber bei der histo-rischen Forschung und war bis 2014 Hochschulassistentin an der Universität Bonn. Im gleichen Jahr fand ihr Habilitationskolloquium statt. Von 2017 bis 2022 hatte sie eine Geschichtsprofessur an der Universität Göttingen inne, 2021 folgte sie dem Ruf auf den Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an die Universität Düsseldorf. Ihre Forschungsschwerpunkte sind breit: von der Alltagsgeschichte des Zweiten Weltkriegs bis hin zur Kulturgeschichte des Zoos. Auch gilt Hilbrenner als Expertin in Sachen jüdische Geschichte im östlichen Europa, wozu Markus Nowak sie befragt hat.

KK 1440 20 22 Interview Anke Hilbrenner 1200x900© Anna MatveevaKönigsberg, Breslau, aber auch Prag oder Czernowitz, das sind alles ehemals große jüdische Gemeinden, in denen Deutsch gesprochen wurde. Kann man da von deutschen Juden im östlichen Europa sprechen?

Das ist eine Frage, die sehr stark ins Herz der jüdischen Bevölkerung trifft. Die Frage nach der vermeintlichen Identität – ich ziehe es vor von Zugehörigkeit zu sprechen – ist eigentlich in der Moderne eine Frage eines jeden an sich selbst, also keine besonders »jüdische Frage«. Aber der jüdischen Bevölkerung wird sie häufig gestellt und deshalb ist die jüdische Geschichte so spannend, weil wir da genauer hineinschauen können. Was bedeutet es jüdisch zu sein oder wer ist ein Jude, wer ist ein Deutscher in einer im östlichen Europa häufig multilingual, multikulturell geprägten Umgebung, in der dann im 19. Jahrhundert die nationale Frage zu so einer Gretchenfrage wird – der Zugehörigkeit, wer gehört zu uns, wer ist gegen uns. Das ist einfach besonders interessant und wichtig.

Als das Museum in Aussig/Ústí bei der Ausstellung »Unsere Deutschen« den Schriftsteller Franz Kafka auf einem Plakat zeigte, gab es Kritik. Er sei Jude und kein Deutscher …

Kafka ist ein gutes Beispiel. Im 19. Jahrhundert in Prag zum Beispiel sind diese Fragen, wer Deutsch und wer Tschechisch spricht und was das für die Nationalbewegung bedeutet, sehr spannend. Smetana oder auch die Gründer des tschechischen Sokol kamen aus einem deutschsprachigen Milieu, sind aber trotzdem tschechisch. Für Kafka kann man sagen, dass er aus einer deutschsprachigen Familie stammt und eine jüdische Zugehörigkeit hat. Die Frage ist: Welche Sprache konnte er denn noch sprechen? Natürlich Jiddisch. Aber in Kafkas Prager Milieu ist das Jiddische tatsächlich eher eine Sprache der Straße, nicht unbedingt eine Literatursprache. Er selbst denkt nach, welche Sprache er nutzen soll. Er entscheidet sich für das Deutsche und wird von deutschsprachigen Autoren auch manchmal darauf verwiesen, dass sein Deutsch nicht ganz als »deutsch genug« wahrgenommen wird. Und das liegt sicherlich eher an den böhmischen bzw. tschechischen Einflüssen als an der Tatsache, dass er möglicherweise auch Jiddisch als sprachlichen Einfluss hat.

Apropos: Wie weit verbreitet war das Jiddische?

Das Jiddische war im östlichen Europa und auch in den preußischen Gebieten eine Lingua Franca, wobei es nicht überall gleich war. Es gab Westjiddisch und es gibt das Jiddische im Norden, das von den Litwaken gesprochen wurde und sich von dem Jiddischen in der Ukraine unterschied. Von der Aussprache und der Lexik gab es Unterschiede, sodass die Leute sich zwar verstanden haben, sich aber als fremd wahrgenommen haben. Im 19. Jahrhundert gab es zunehmend Juden, die sagten, sie würden »den Jargon« nicht sprechen. Das war ein Versuch, sich von dieser Sprache abzugrenzen, die ein schlechtes Image hatte, weil sie eben nicht als Literatursprache begriffen wurde, sondern als Sprache der Straße. Ich halte es für wahrscheinlich, dass die meisten Menschen das durchaus zu Hause gesprochen haben oder zumindest Jiddisch sprechende Onkel und Tanten in Galizien kannten. Die Behauptung »nein, ich spreche das nicht« war eher ein Bekenntnis dazu, zur Hochkultur zu gehören.

Es kam auch zu einem »Verdeutschen des Jiddischen« – war das ein Versuch der Assimilation?

Assimilation war ein Schimpfwort. Die »Assimilanten« waren aus der Perspektive der Jüdinnen und Juden, die ihre Zugehörigkeit nicht verleugnet haben, diejenigen, die sie verleugnet haben. Deshalb ist Assimilation ein Quellenbegriff. Die Forschung spricht, wenn überhaupt, dann eher von Akkulturation, weil der Begriff auf den Prozess schaut. Beide Begriffe aber haben den normativen Anspruch, dass die Minderheit sich auf die Mehrheit zubewegen müsse.
Zur deutschen Sprache: In Preußen oder den Gebieten, die durch die Teilung Polens an Preußen gefallen sind, war der prozentuale Anteil der jüdischen Bevölkerung viel geringer als zum Beispiel in der Ukraine oder Polen. Und dann fand da auch ein starker Zuzug in die Städte statt. Nach Berlin, Breslau oder auch Königsberg zogen diejenigen, die Bildungsangebote wahrnehmen, berufstätig werden und den sozialen Aufstieg erleben wollten. Und diese nutzten die dort verbreitete deutsche Sprache.

Welchen Stellenwert hatte der Zionismus in den jüdischen Gemeinden wie Breslau oder Königsberg?

Kulturell und ideologisch stammt er aus dem deutschsprachigen Raum – Theodor Herzl oder Max Nordau etwa. Viele der deutschen Zionisten haben es als Aufgabe gesehen, die Brüder und Schwestern im östlichen Europa »zu retten«. Denn die lebten vor dem Ersten Weltkrieg unter dem antisemitisch agierenden Russischen Reich oder im Habsburgerreich unter den wirtschaftlich schlechten Bedingungen in Galizien. Dementsprechend haben viele der deutschsprachigen Zionisten eine Heimat für die jüdische Nation gefordert.

Wie stellten sie sich die neue Heimat vor?

Sie sollte nicht unbedingt im Mandatsgebiet Palästina, dem heutigen Israel, liegen, sondern es kamen mehrere Gebiete infrage. Diese Übersiedlung haben die meisten deutschsprachigen Zionisten zunächst nicht für sich selbst in Erwägung gezogen, sondern eben für die Jüdinnen und Juden im Russischen Reich, in Rumänien oder in der Zwischenkriegszeit in Polen. Interessant ist, dass der Zionismus eigentlich als bürgerliche Ideologie gilt. Es gab aber im östlichen Europa unheimlich viele zionistische Vorfeldorganisationen, die man beim besten Willen nicht als bürgerlich bezeichnen kann. Auch die jüdische Arbeiterbewegung, die für eine Übersiedlung nach Palästina eingetreten ist, war sehr stark. Die zionistischen Kultur- oder Sportorganisationen, die als Vorfeldorganisationen der Zionisten gelten können, wurden aber jenseits der Begriffe »sozialistisch« oder »bürgerlich« wahrgenommen – und deshalb wurden viele Jüdinnen und Juden im östlichen Europa vom zionistischen Konzept angesprochen.

Wie steht es um den Einfluss der jüdischen auf die deutsche Kultur?

Bei der Literatur ist es scheinbar naheliegend – dann sagt man, die Literatur ist in deutscher Sprache, also ist sie deutsch. Andere Kunstformen ermöglichen es, darüber ein bisschen offener nachzudenken. Bei Musik etwa oder bildender Kunst. Es stellt sich die Frage, was ist national an Kunst? Dem Versuch, Kultur und Kunst zu nationalisieren, würde ich mich entgegenstellen. Es gibt jüdische Künstler, die Literatur und Kunst geschaffen haben, die aber gar nicht das Ziel hatten, dass diese jüdisch ist – wie vielleicht Kafka. Auf der anderen Seite gibt es Künstlerinnen und Künstler, die gesagt haben, sie wollen jüdische Kunst und Literatur machen oder jüdische Geschichte schreiben. Und es gibt diejenigen, die dazu diese Sprachen auch benutzt haben – jiddischsprachige Autoren. Ich würde sagen, dass die Literaten und die Künstler ihrer Zeit immer jeweils zusammengearbeitet haben, miteinander verflochten waren.

Verflochten waren sie in »Hotspots» deutsch-jüdischer Kultur, wie etwa Czernowitz …

Czernowitz lag nicht im Herzen, sondern am Rand des Habsburgerreiches und dementsprechend hatte es eine starke Anziehungskraft als urbanes Zentrum in einer ländlichen Region. Da es innerhalb des Habsburgerreiches lag und es eine starke Präsenz Deutschsprachiger gab, war es deutschsprachig. Aber es gab wohl auch Optionen: Armenier waren stark in der Region, ebenso Rumänen und natürlich auch Ukrainer. Aber Deutsch war die Sprache der städtischen Oberschicht. Das hat die säkularen und an weltlicher Kultur interessierten Juden dazu gebracht, Deutsch zu sprechen und Deutsch auch als ihre Literatursprache zu benutzen.

Wie steht es um die Erinnerungen an das jüdische Leben des östlichen Europa heute?

Ich würde sagen, von Anfang an sind die jüdischen Welten des östlichen Europa in Deutschland unterrepräsentiert. Es gibt zwar Filme oder eine kulturelle Präsenz etwa durch Klezmermusik. Aber die ist doch sehr stereotypisch. Bei der Erinnerung an die durch die Deutschen ermordeten Juden müssen wir sagen, die allergrößte Zahl der Ermordeten hat im östlichen Europa gelebt. Und dennoch erinnern sich die Deutschen vor allen Dingen an jüdische Menschen, die aus Deutschland stammten und deportiert wurden, etwa Anne Frank. Ich begrüße es aber auch, dass wir über die Geschichte vor der Shoa sprechen und die jüdische Geschichte Osteuropas nicht nur durch das Prisma der Vernichtung wahrnehmen. Denn der kulturelle Reichtum des jüdischen Lebens im östlichen Europa ist tatsächlich noch viel zu wenig bekannt, vor allem jenseits von romantisierenden Vorstellungen des Schtetls oder von Klezmer.