Der Kalte Krieg ist das Spezialgebiet des Historikers Matthias Uhl. Dabei interessiert ihn vor allem Technikgeschichte – er erforscht u.a. die Rüstungs- und Reparationspolitik der UdSSR. Seit Juli 2005 tut er dies am Deutschen Historischen Institut Moskau. Im Interview mit KK-Redakteur Markus Nowak spricht er darüber, wieso das Militär die Forschung voranbringt und über die berühmte Teflonpfanne.
Januar 2023 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1433
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Foto: © DHI Moskau

Herr Uhl, welche Erfindungen sind aus Ihrer Sicht die prägendsten für die Mensch­heit? 

Ich würde hier drei wichtige Bereiche sehen: Der erste ist die Mobilität – wie gelangen Menschen schneller von A nach B? Der zweite wichtige Bereich ist die Kommunikation – wie gelingt es, Menschen näher zueinander zu bringen, ohne dass sie am gleichen Ort sein müssen? Und der dritte ist die Datenverarbeitung – wie können große Datenmengen so verarbeitet werden, dass man daraus einen entsprechenden Nutzen ziehen kann? Das sind drei der wesentlichen Themen, die in der Technikgeschichte von zentraler Bedeutung sind. 

Ich dachte, Sie kommen jetzt mit der Erfindung des Rades …

Darum geht es eher weniger. Es geht mehr um das große Ganze. Die Frage ist oft nicht, wer etwas erfunden hat, sondern wie es umgesetzt wurde. Die Erfindung selbst ist zwar wichtig, aber wesentlich wichtiger ist, wie diese Technologie entwickelt wird, so dass sie von den Massen genutzt werden kann. Nur dann kann sie tatsächlich die Geschichte beeinflussen. 

Vom Geistesblitz zur Serienreife ist es also ein langer Weg … 

Es müssen immer bestimmte Dinge zusammentreffen. Zum einen muss erst einmal etwas erfunden werden. Dann aber muss auch der Gebrauchswert zu genau diesem Zeitpunkt nachgefragt werden. Und dann müssen gleichzeitig die entsprechenden Produktionsmittel vorhanden sein, um diese Erfindung in ausreichender Stückzahl produzieren zu können. Im Kalten Krieg ist es der Sowjetunion durchaus gelungen, in manchen Bereichen wegweisende Forschungen und Entdeckungen zu machen. Jedoch scheiterte die »Massen-Durchsetzung«, beispielsweise bei Fragen der Geheimhaltung oder an der industriellen Basis, um diese Erfindungen in großen Maßstäben produzieren zu können. Daran sieht man, dass der Geistesblitz selbst nur rund fünfzig Prozent ausmacht. 

Welche Rolle spielt das Militär in Sachen Erfindergeist? 

Eine entscheidende. Ein technologischer Fortschritt in bestimmten Bereichen der Waffen- oder Rüstungstechnik kann dazu führen, dass man eine militärische Macht zu einer entsprechenden politischen Macht ummünzen kann. Das ist sehr wichtig für Politiker. Gerade im 20. Jahrhundert hatte der Gedanke Vorrang, wie man militärische Entwicklungen nutzen kann und wie diese die Gesellschaft durchdringen können. Ich würde jetzt weniger auf die berühmte Teflonpfanne zurückgreifen, aber beispielsweise das Internet hervorheben, bestimmte Flugzeuge oder andere Technik, die dann schrittweise in die zivile Nutzung vor-dringt – obwohl sie primär für militärische Zwecke erfunden wurden. 

Ist die Teflonpfanne als Nebenprodukt der Raumfahrt eine Legende?

Bei der Raumfahrt selbst ist ja der militärische Ursprung ganz grundlegend. Es ist eine schöne Geschichte, jemanden ins All zu schicken. Aber da steckt weniger Romantik dahinter, sondern eher der Gedanke, jeden Punkt der Welt mit einem nuklearen Sprengkopf erreichen zu können. Dass man die Raumfahrt auch sekundär nutzen kann, ist ein schöner Nebeneffekt. Aber das war ursprünglich nicht das Ziel der Raumfahrttechnik. Offene Gesellschaftssysteme haben, glaube ich, bessere Chancen, diese Technik auch für die Massen zu nutzen, als geschlossene. In der Sowjet­union gab es einen streng abgeschotteten militärisch industriellen Komplex, aus dem relativ wenig für die zivile Nutzung nach außen gedrungen ist. Und das war, glaube ich, auch eines der Hauptprobleme, die dann letztendlich zum Zusammenbruch der Sowjetunion geführt haben. Weil die breite Industriebasis nicht mit der Entwicklung in bestimmten speziellen Rüstungsbereichen Schritt halten konnte.

Wie steht es da um das Gewissen der Erfinderinnen und Erfinder?

Bei vielen Erfindungen geht es um eine Verbesserung der Effektivität. Die ethische Einschätzung kommt erst später. So war es mit der Nuklearforschung. Mit der Erfindung der Atomwaffe konnten so viele Menschen auf einen Schlag umgebracht werden, dass eine neue moralische Kategorie entstand. Moralische Bedenken gibt es bei den Erfindern eher weniger. Die werden wohl oft im Nachhinein »dazugedichtet«, wenn man sieht, dass die Erfindung nicht so eingesetzt wird, wie man das ursprünglich wollte. Wernher von Braun ist so ein Fall. Er soll persönlich den Wunsch gehabt haben, unbedingt die Menschheit zum Mond zu bringen. Aber letztlich ging es bei der Raumfahrt zunächst doch eher darum, einen Sprengsatz von A nach B zu befördern, ohne dass der Gegner darauf einwirken kann. 

Erfindungen können also zwei Seiten haben, siehe Alfred Nobel und das Dynamit … 

Ja, viele großen Infrastrukturprojekte wären ohne das Dynamit nicht denkbar. Wenn wir jetzt beispielsweise an den amerikanischen Eisenbahnbau oder Straßenbau denken oder auch selbst in anderen Teilen der Welt – wenn Straßen oder Schienen geschaffen werden, müssen Berge aus dem Weg geräumt werden.

Sind Erfindungen erzwingbar? 

Sie sind nur dann erzwingbar, wenn sichergestellt ist, dass das notwendige Know-how da ist. Das heißt, dass man sich etwa durch Spionage das entsprechende Wissen aneignet – was beispielsweise für das Atomprogramm im Kalten Krieg ganz entscheidend war. Die Sowjetunion hatte umfangreiche Kenntnisse darüber, wie die Amerikaner diese Technologie nutzen. Oder man hat die entsprechenden Leute, deren Wissen man ausnutzen kann, um die eigene Entwicklung voranzutreiben. Das sowjetische Raketenprogramm wäre beispielsweise nicht so erfolgreich gewesen, wenn nicht gleichzeitig die gesamte Produktionsbasis aus Deutschland in die Sowjetunion verlagert worden wäre. Es geht nicht nur um Technologien, es geht auch um bestimmte Werkstoffe, die vorhanden sein müssen, und um bestimmte Verfahren, die man beherrschen muss. Ein gegenteiliges Beispiel ist Carl Zeiss. Die Sowjetunion sah dieses erfolgreiche Unternehmen in Jena und dachte, wenn wir das nach Russland bringen, schaffen wir es, den Optikmarkt ganz neu aufzurollen. Dabei hatte man aber unterschätzt, dass man die ganze Produktionsbasis und die ganzen Zulieferer hätte mitnehmen müssen. Und genau deshalb ist das Programm gescheitert. 

Moment: Sie sprachen gerade von Spionage. Das ist doch eher die Kopie von Erfindungen …

Die Spionage war und ist immer wichtig, um bestimmte Dinge erst mal anzustoßen. Man erlangt Wissen über bestimmte technische Entwicklungen der Gegenseite und erkennt, das könnte interessant sein. Dann geht die Forschung überhaupt erst richtig los. Dabei tauchen Fragen auf: Reicht die Spionage, um das Wissen aus einem anderen Land in das eigene zu bringen? Oder brauche ich bestimmte Geräte? Kann ich auf entsprechendes Personal zurückgreifen oder braucht es Maschinen, um diese durch Spionage beschafften Ergebnisse umzusetzen? In der Sowjetunion spielte Spionage eine große Rolle, etwa beim Triebwerksbau. Es gab dieses tolle US-Triebwerk General Electric J-79. Das wurde in den 1950er und 1960er Jahren in einer ganzen Reihe von militärischen Flugzeugen verbaut. In der Sowjetunion sah man, wie gut dieses Triebwerk war und der KGB musste eines davon beschaffen, damit die sowjetischen Ingenieure es auseinandernehmen konnten. Dann gab es Sitzungen im Zentralinstitut für Flugzeugmotoren, in denen festgelegt wurde, welche Teile des Triebwerks für die sowjetische Eigenentwicklung genutzt werden sollten. Die Erkenntnisse aus der Spionage wurden planmäßig in den Produktionsprozess umgesetzt.

Wie tief steigt man bei der historischen Forschung in solcherlei technische Details ein?

Es kann nicht schaden, wenn man zumindest ein paar technische Grundkenntnisse hat. Bei bestimmten Fragen muss man einfach nachvollziehen können, warum eine technische Entscheidung gerade so stattfand. Etwa in Sachen Aufrüstung der Sowjetunion. Es hat mir durchaus geholfen, dass ich zwei Jahre in der NVA als Flugzeugtechniker für die MiG-21 gedient habe. Dadurch hatte ich zumindest eine grobe Vorstellung von bestimmten Geräten oder Komponenten bei alten Systemen.

Wie sieht die Zukunft der Technikgeschichte aus? Schließlich finden heute viele Erfindungen im Digitalen statt …

… aber es wird weiterhin praktische Dinge außerhalb des Netzes geben. Schauen Sie sich etwa die Biotechnologie an, die Entwicklung von Impfstoffen oder ähnlichem. Da bieten sich in der Zukunft große Chancen. Gerade in der Medizin, in der Bekämpfung von Krebs beispielsweise, stehen wir erst am Anfang und wissen nicht, ob die entscheidende Entdeckung schon gemacht worden ist. Man muss aber sagen, dass sich die Zeitabstände bis zur Praxistauglichkeit verkürzen. Ich bin optimistisch, dass die Technikgeschichte auch im 21. Jahrhundert nicht aussterben wird.

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KK 1433 Titel 741x1040Der Artikel erschien im Magazin

KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa
Ausgabe № 1433 | Januar 202
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mit dem Schwerpunktthema: 
Erfindungen: Von Geistesblitzen und kühnen Ideen