Die Germanistin und Polonistin Karolina Kuszyk spricht im Interview mit Markus Nowak über die Beliebtheit von »poniemieckie« – deutschen Antiquitäten und anderen Hinterlassenschaften in Polen.
März/April 2022 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1428
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©Katarzyna_Mazur

Karolina Kuszyk, 1977 in Niederschlesien geboren, fühlt eine besondere Faszination für Gegenstände, die die Deutschen nach ihrer Flucht und Vertreibung zurückgelassen haben. Die studierte Germanistin und Polonistin ist Autorin des Buches Poniemieckie, deutscher Arbeitstitel: »In den Häusern der anderen. Spuren deutscher Vergangenheit in Westpolen«. Es erschien 2019 auf Polnisch, eine deutsche Übersetzung ist für 2022 in Planung. In dem Buch geht es um die Hinterlassenschaften der einstigen deutschen Bewohnerinnen und Bewohner und darum, wie ihre polnischen Besitzer damit in ihrem Alltag umgegangen sind. Kuszyk lebt und arbeitet in Berlin als freie Autorin und Übersetzerin deutscher Literatur ins Polnische. 

 

Frau Kuszyk, das Wort poniemieckie ist in Polen ein stehender Begriff. Wie kann man ihn unseren Leserinnen und Lesern erklären?

Poniemieckie ist ein Neologismus, der gegen Kriegsende entstand, um das alles zu benennen, was die Deutschen hinterlassen haben. Von Häusern bis zu Industrieobjekten. Dieses Erbes Herr zu werden, stellte eine große logistische Herausforderung im neuen Teil Polens dar. Man musste die ganze Fülle an Sachen und Objekten erfassen und Regeln etablieren, wer was bekommt und zu welchem Preis. Denn es war nicht so, dass die Zugezogenen alles gratis bekommen haben. Nicht für die Häuser, aber für Möbel und Einrichtungsgegenstände mussten sie an den polnischen Staat zahlen.

Mit der Zeit wurde der Begriff poniemieckie immer mehr verdrängt. Ich kann mich sehr gut an ein Gespräch mit einem Regionalhistoriker erinnern. Er erzählte, dass man in den 1960ern einfach nicht darüber sprach, wem das Klavier, auf dem man spielt, früher einmal gehört hatte. Oder in wessen Bett man schlief. Aus wessen Gläsern man trank. Das Wissen darüber wurde verdrängt.

Sie sind selbst im Niederschlesien der 1980er Jahre aufgewachsen. Was war poniemieckie in Ihrer Kindheit?

In meinem Kinderzimmer etwa hing ein Öldruck mit einem Schutzengel und einem Geschwisterpaar. Ich wusste von diesem Bild nur, dass es alt war. Ich hatte keine Ahnung davon, dass es ein poniemieckie, ein »ehemals deutsches« Bild war. Meine Familie wohnte damals in einem Plattenbau. Die Plattenbau-Ästhetik passte nicht zu diesem alten Bild. Es erinnerte an eine ganz andere Zeit und ganz andere Wohnräume. Ehemals deutsche Gegenstände fand ich auch in der Wohnung meiner Großeltern in einem Mietshaus vom Ende des 19. Jahrhunderts. In Liegnitz/Legnica. Da gab es zum Beispiel eine blaue Brotbüchse mit der Aufschrift »Unser täglich Brot gib uns heute«, einzelne Möbelstücke und Geschirr der ehemaligen Einwohner. Diese Gegenstände waren für mich wie ein Geheimnis, weil ich sie nicht deuten konnte. Sie gehörten einer anderen Wirklichkeit an, die ich damals nicht kannte. Als meine Eltern Anfang der 1990er die Hälfte eines vor 1945 gebauten Hauses kauften und meine Familie in dieses Haus zog, fanden wir im Keller noch deutsche Bücher, Notenhefte, alte Fläschchen, Tassen … Und das, obwohl dieses Haus schon mehrere polnische Vorbesitzer gehabt hatte!

Wie erklären Sie sich das?

Aus Gesprächen mit den Menschen, die in »ehemals deutschen« Häusern leben, habe ich erfahren, dass sie oft noch Fotografien von deutschen Familien haben und alte Bücher. Diese Dinge wurden oft nicht weggeworfen, weil sich das nicht richtig angefühlt hätte.

Aber es gab auch ganz praktische Gründe dafür, dass man sich deutscher Gegenstände nicht einfach so entledigte. Dinge des täglichen Gebrauchs etwa wurden genutzt. Viele Siedler, die sich im ehemaligen deutschen Osten eingerichtet hatten, brachten nicht viel aus ihrer alten Heimat mit. Ihre Häuser waren ausgebombt oder sie waren aus anderen Gründen mit ganz wenig aus dem einstigen polnischen Osten gekommen. Sie starteten bei Null. All die Dinge der Deutschen, wie Möbel, Kleidungsstücke und Besteck: Man brauchte sie. Einige schätzte man, so wie mein Opa immer die Qualität deutscher Werkzeuge lobte.

Zu den Häusern dagegen hatten die neuen Einwohner ein gespaltenes Verhältnis. Bis in die 1980er Jahre hinein herrschte in Polen das propagandistische Narrativ der »Wiedergewonnenen Gebiete«, das den Machthabern dazu diente, den polnischen Anspruch auf die nach dem Krieg angeschlossenen Gebiete zu legitimieren. Trotzdem sagten viele Umsiedler, es lohne sich nicht, die Häuser zu modernisieren und hier Wurzeln zu schlagen, weil die Deutschen irgendwann wiederkommen und uns das wegnehmen, was ihnen früher gehört hatte. Man wusste nicht, ob der deutsche Besitzer zurückkommt und nach seinem Besitz verlangt. Im Laufe der Zeit ist die Angst vor der Rückkehr der Deutschen kleiner geworden. Aber vor den 1960ern wurde generell nicht renoviert. Das Gefühl der Vorläufigkeit war allgegenwärtig. Den schönen Kleinkram aber lernte man zu schätzen und sogar zu lieben: Besteck, Bilder, Weihnachtsdeko …

… obwohl sie deutsch waren …

… und natürlich gab es auch Leute, die deutsche Bücher verbrannt haben, weil sie eben mit dem ehemaligen Feind assoziiert wurden. Oder es gab Leute, die Häuser verwüstet haben aus Rache für das Leid, das man durch die Deutschen im Krieg erfahren hatte. Man hat sich gerächt an Dingen, Häusern und auch an Friedhöfen der Deutschen.

Wieso brauchte es nach der Wende 30 Jahre, um ein Buch darüber zu schreiben?

Ich denke, das Buch war längst überfällig. 2019 war man mehr als bereit für die Auseinandersetzung mit poniemieckie im Alltag. Ich habe mich auch gefragt, warum niemand vorher so ein Buch geschrieben hat. Eine Bekannte hatte mir dann gesagt, das Thema lag zu lange auf der Straße. So lange, dass man den Eindruck hatte, so ein Buch existiere schon. Seit den 1990ern ist das ehemals Deutsche sehr stark in der polnischen Belletristik präsent: bei Olga Tokarczuk, Stefan Chwin, Joanna Bator und anderen. Vielleicht haben Reporter auch aus diesem Grund das Thema gemieden. Ich wollte ein Panorama der polnischen Nachkriegszeit im Hinblick auf die Aneignung von poniemieckie schreiben. Wie hat sich das Verhältnis dazu in West- und Nordpolen verändert? Welche Rolle spielten deutsche Häuser, Dinge und Friedhöfe in polnischen Biografien? Wie gehen wir mit Fremdem im Eigenen um?

Das Thema war für mich schon immer faszinierend, wahrscheinlich, weil es poniemieckie in meiner eigenen Erfahrung schon immer gegeben hat. Es ist ein spannendes Thema: Es geht um Besitzansprüche, Rache und Ressentiments. Aber auch um Aneignung und Versöhnung.

Ist poniemieckie »geliebtes« oder »ungeliebtes Erbe«?

In den einst deutschen Gebieten ist es eher geliebtes Erbe. Geworden. Unter den Menschen, die poniemieckie in der eigenen Erfahrung erlebt haben und, so wie ich, in dieser Landschaft aufgewachsen sind und es sich nicht vorstellen können, irgendwo anders zu leben. Ich habe auch nicht ohne Grund Berlin zu meiner zweiten Heimat gewählt und nicht etwa Warschau. Weil Warschau nicht diese Art Architektur, nicht diese Ausstrahlung hat, die ich aus meiner Heimatstadt Liegnitz/Legnica kenne und liebe. Ich denke, wir Kinder der »Wiedergewonnen Gebiete« lernten, mit diesem komplizierten, schwierigen Erbe umzugehen und es mit der Zeit zu schätzen. Aber je weiter man in Richtung Osten Polens geht, desto weniger Liebe wird dem poniemieckie entgegengebracht. Das ist doch etwas ziemlich Abstraktes für die Menschen dort.

Wie allgegenwärtig ist denn das poniemieckie Erbe heute noch?

Interessanterweise kommt es immer mehr zur Geltung. In den 1980ern bin ich mit meiner Mutter ab und zu nach Breslau/Wrocław gereist. Ich erinnere mich daran, dass Breslau vor allem grau war. Ich kann mich nicht an irgendwelche Gebäude in Breslau erinnern, die mir damals gefallen haben.

Wenn man jetzt nach Breslau reist, sieht man, wie viel dort getan wurde. Gerade das poniemieckie wird auch an den Fassaden sichtbar. Nach dem Krieg und auch viele Jahre danach hatte man die deutschen Aufschriften der Fassaden übermalt, man wollte die Erinnerung an die deutsche Anwesenheit verdrängen, aber jetzt werden alte Aufschriften auf den Fassaden oft gezielt hervorgehoben. Das ist ein Zeichen der Akzeptanz, die die Stadt ihrer deutschen Geschichte entgegenbringt.

In Nord- und Westpolen gibt es viele lokale Initiativen für die Rettung alter deutscher evangelischer und jüdischer Friedhöfe, die jahrzehntelang völlig verkamen oder ausgeplündert und geschändet wurden. Jetzt kümmert man sich wieder um sie. Poniemieckie ist mittlerweile allgegenwärtig, nicht nur auf Trödel- und Antiquitätenmärkten und in der Einrichtung einzelner Wohnungen.

Auf polnischen Flohmärkten steigt der Marktwert von poniemieckie Gegenständen …

Das ist eine natürliche Entwicklung auf dem Antiquitätenmarkt. Die Zeit ist meist ein günstiger Faktor für Antiquitäten. Früher, in den 1960ern und 1970ern, als der Einrichtungsstil noch ganz anders war, schämte man sich eher, dass man eine alte deutsche Anrichte zu Hause hatte. Der bürgerliche Stil galt als altmodisch, im sozialistischen Polen sowieso, und alles Deutsche war generell unerwünscht.

Seit das Narrativ über »Wiedergewonnene Gebiete« verworfen wurde und das deutsch-polnische Verhältnis sich normalisiert hat, und seit wir unsere Wohnungen gerne wieder mit Antiquitäten einrichten, ist poniemieckie hoch im Kurs.

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Titelblatt: KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa | Ausgabe: Nr. 1428: März/April 2022Der Artikel erschien im Magazin
KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa
Ausgabe Nr 1428 | März/April 2022

mit dem Schwerpunktthema:
(Un)Geliebtes Erbe

 

 

Lesetipp

»Ehemalsdeutsch« – der Umgang mit deutscher Geschichte im Norden und Westen Polens
Poniemieckie (Czarne Verlag, 2019) ist Karolina Kuszyks Auseinandersetzung mit dem Schicksal von »ehemalsdeutschen« Häusern, Friedhöfen und Gegenständen in West- und Nordpolen – basierend auf den Erfahrungen von Menschen, die im »ehemalsdeutschen« Polen aufgewachsen sind.
Mai 2020 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1415 | von Karolina Kuszyk