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Ewa Strozczynska-Wille und Oliver Spatz. © Nowak

Ewa Strozczynska-Wille ist Germanistin und Theaterwissenschaftlerin und Initiatorin sowie Kuratorin zahlreicher Kulturprojekte, unter anderem des Kulturzugs Berlin–Breslau und des Netzwerks »BERLIN_kulturforum_WROCŁAW«. Der Theaterwissenschaftler Oliver Spatz leitet seit 2017 im deutsch-polnischen Verflechtungsraum Theater- und Bildungsprojekte wie auch Festivals und Kultureinrichtungen und ist für das Programm im Kulturzug verantwortlich. Die Fragen stellte Markus Nowak.

 

Seit 2016 fährt der Kulturzug zwischen Berlin und Breslau, deren Initiatoren Sie beide sind. Damit gibt es wieder eine Verbindung zwischen der deutschen Bundeshauptstadt und der schlesischen Metropole. Tritt der Zug die Nachfolge des »Fliegenden Schlesiers« an?

Wille: Das war schon ein Maßstab, der von Politikern in die Diskussion reingebracht wurde. Der »Fliegende Schlesier« wurde vom Breslauer Stadtpräsidenten Rafał Dutkiewicz immer wieder als Beispiel genannt, und das im 21.Jahrhundert. Früher lagen Berlin und Breslau näher beieinander. Gemeint sind nicht nur die Zeiten des »Fliegenden Schlesiers«, sondern auch die vor der Stilllegung des »Wawels« im Jahr 2014, also des Zuges zwischen Berlin und Breslau bzw. Krakau. Es ging also um die Frage, wie die Verbindung zwischen den beiden Städten überhaupt hergestellt werden kann, als Breslau im Jahr 2016 Kulturhauptstadt wurde.

Spatz: Im ersten Jahr wollten viele Fahrgäste wissen: »Wie war es denn hier vor dem Krieg?« Das Interesse unserer Fahrgäste hat sich aber mehr und mehr in die Gegenwart verschoben, weil sie sehen, dass Breslau eine sehr gegenwärtige Stadt ist. Die Fragen nach der Vergangenheit werden nun stärker im Kontext der Stadt hier und jetzt wahrgenommen.

Wille: Ursprünglich sollte der Zug nur in der Kulturhauptstadt-Zeit 2016 fahren. Die Devise von Dutkiewicz war: »Die Welt soll zu uns kommen« – aber wie, wenn es zwischen beiden Städten keine Zugverbindung gab?

 

… und nun ist man im fünften Jahr, weil der Zug bis Ende 2020 weiterfährt …

Wille: … ja, wobei bei der ersten Sitzung der verantwortlichen Gremien damals die Sorge groß war, ob der Zug überhaupt angenommen würde. Die Fahrgastprognose waren 53 Personen pro Strecke, denn die Fahrt dauert rund vier Stunden, also länger als einst mit dem »Fliegenden Schlesier«. Das war dann die Stunde, in der wir als Kulturleute spontan gedacht haben: »Wir können die Fahrt psychologisch mit einem Kulturprogramm an Bord des Zuges verkürzen. Da wir sowieso eine Ausstellung in Vorbereitung hatten, überlegten wir, wie wir diese in den Zug implementieren könnten und weitere Aktionen wie Konzerte und Lesungen durchführen. Das war die Geburtsstunde des Kulturzugs, mit vielen Paten und Unterstützern – von DB Regio, den Niederschlesischen Eisenbahnen (KD), dem Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg, Brandenburger Ministerien, dem Berliner Senat , die sich auf dieses Abenteuer und letztlich auch Wagnis eingelassen haben.

Spatz: Im Mai 2016 gab es fast 5000 Fahrgäste: Es mussten zusätzlich sogar Busse eingesetzt werden. Das war eine ganz wilde Zeit. Danach pendelte es sich ein wenig ein: Mittlerweile zählen wir in der Saison im Durchschnitt pro Wochenende 500–700 Fahrgäste, die meisten mit reservierten Plätzen. Durch das Kulturangebot kam es letztendlich doch ganz anders

Wille: … nach dem anfänglichen Erfolg wurde beschlossen, das Angebot zu verlängern. Damit konnte dem DB-Management ein Argument dafür geliefert werden, dass es sich lohnt, in diese Strecke zu investieren. Denn das war ja der Grund, warum Berlin–Breslau stillgelegt worden war: »nicht rentabel«. Wir waren sozusagen die Argumentationslieferanten für eine Wiederaufnahme der Verbindung, denn das liegt im Interesse der Menschen. Zunächst wurde dann also um ein Jahr verlängert, mittlerweile sind wir im fünften Jahr.

Wie sieht das kulturelle Programm auf der Fahrt aus?

Spatz: Es war von Anfang an klar, dass es für alle im Zug ein Angebot geben muss, auch für die stehenden Gäste. Wir haben die »Mobile Bibliothek« und ein Quiz, es finden sich zweisprachige Aufkleber im Zug, um ein Gefühl für die andere Sprache zu bekommen. Unsere Hoffnung ist, dass sich die Fahrgäste selbst vernetzen. Wenn das Quiz so schwer ist, dass man es nicht ganz allein lösen kann, fragt man eben herum. Dann entstehen plötzlich über die Sitzlehnen hinweg Kontakte. An den Kopfstützen gibt es eine Ausstellung. Es geht darin etwa darum, der Frage nachzugehen, welche Persönlichkeiten auf dieser Strecke bereits gefahren sind. Da geht es los mit der heiligen Hedwig von Schlesien

Wille: … wir sind von der Geschichte ausgegangen, von der engen Verknüpfung der beiden Städte bis 1945, und zwar nicht nur durch den »Fliegenden Schlesier«. Denken wir an das Baumaterial, denn Berlin wurde quasi mit Sand aus Schlesien gebaut. Die stärksten Verbindungen schaffen natürlich Menschen: Die ganzen Nobelpreisträger und Persönlichkeiten der Zeitgeschichte, die sowohl in Breslau als auch in Berlin gewirkt haben, wie Otto Müller, Hans Poelzig, Clara Immerwahr, Edith Stein, August Borsig, Fritz Haber und nicht zu vergessen die heilige Hedwig. Natürlich ist 1945 eine Zäsur und ein Bruch, als Verknüpfungen gekappt wurden und die Geschichte Breslaus auch aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden ist. Damit auch die Geschichte, die die beiden Städte verbunden hat. Mit diesem Zug haben wir diese alten Spuren wieder aufgenommen.

Spatz: Wir wollen uns den Fahrgästen aber nicht aufdrängen, auch wenn sich viele bewusst für den Zug entschieden haben, weil sie wissen, dass er etwas mit Kultur zu tun hat. Dazu laden wir Künstler, Wissenschaftler, Journalisten und Politiker ein, denen es mit ihrem Engagement gelingt, im Sinne einer »europäischen Nachbarschaft« Brücken zu bauen und sich an relevante Fragen der Gegenwart heranzutasten. Diese müssen auch unter den besonderen Bedingungen einer Zugbühne Ideen haben und bereit und in der Lage sein, den Kontakt zu den Fahrgästen herzustellen. Anfangs dachten wir, die Musiker müssten durch den Zug laufen, aber mittlerweile ist es häufig so, dass die Leute von allein in den Auftrittswagen kommen. So bekommt man sie auch mehr in Bewegung, sowohl im Kopf als auch in den Beinen.

Wille: Der Zug wurde von einem Verkehrsmittel im Jahr 2016 zu einem Begegnungs- und Kommunikationsraum, der Städte, Regionen und die Geschichte verbindet.

Regelmäßig finden auch Konzerte im Kulturzug statt © Julian Kurz

 

Wer reist im Kulturzug, sind es die klassischen Pendler?

Spatz: Wir haben die Fahrgäste ja ein bisschen kennengelernt, dazu kam 2019 eine Befragung: neunzig Prozent der Passagiere sind Touristen, die nach Breslau wollen. Seit wir den Freitagstermin dazubekommen haben, fährt ein Großteil über das lange Wochenende weg.

Wille: Anfangs wurde das Angebot viel von Berlinern genutzt. Es gab »Nostalgiebesucher«, also Fahrgäste, die ihren familiären Spuren in Breslau nachgehen wollten. Mittlerweile hat sich das geändert, wie auch die Wahrnehmung Breslaus. Es hat sich jetzt auch noch mit jüngeren Menschen vermischt, die etwa Geburtstage oder Junggesellenabschiede in Breslau feiern wollen und die Stadt für sich entdecken. Dabei wird die facettenreiche Beziehungsgeschichte zwischen Berlin und Breslau langsam auch für jüngere Zielgruppen interessanter.

 

Das von Ihnen erwähnte engere Band zwischen Berlin und Breslau gab es einst auch zwischen Berlin und Stettin. Beide Verbindungen »dümpeln« vor sich hin, weil vor allem auf deutscher Seite die Gleise nicht elektrifiziert wurden, auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung

Spatz: … ja, die Qualität der Eisenbahnverbindungen ist für mich sinnbildlich für die Versäumnisse in der europäischen Einigung und der deutsch-polnischen Versöhnung, wirklich an die Allgemeinheit zu denken. Diese symbolische Wiedergutmachung ist eine Sache für Eliten gewesen, aber nicht für die normalen Menschen, die bis heute zum Teil noch an Stereotypen hängen – und zwar auf beiden Seiten. Die Eisenbahn wäre ein Medium, um das zu verändern, aber die Infrastruktur ist noch nicht da.

Ende 2020 soll es wieder einen regulären Zug zwischen Berlin und Breslau geben. Auch ein Nachtzug der österreichischen Bahn fährt mittlerweile regelmäßig. Ist der Kulturzug dafür »mitverantwortlich«?

Wille: Ja, natürlich. Das war das Argument. Man hat uns gesehen und dann gesagt, es lohne sich doch, in diese Strecke zu investieren. Deswegen denke ich, dass wir unseren Job auch gut gemacht haben. Wir haben etwas auf den Weg gebracht, was jetzt ein Stück weit alleine läuft und laufen kann. Das Entscheidende ist nämlich, dass sich die Menschen wieder auf den Weg in beide Richtungen aufmachen. Das war diese Pionierarbeit; das gegenseitige Interesse aufzunehmen und zu zeigen, was mal war, welcher Reichtum an Geschichte hier ist und dieses Interesse in die Gegenwart zu übertragen. Es geht also darum, zurück und auch nach vorne zu schauen