Wo heute das größte Loch Polens klafft, lebten noch vor wenigen Jahrzehnten einige tausend Menschen. Die fortschreitende Erweiterung des Braunkohlebergwerks Turów führte in den vergangenen Jahren zu einem heftigen polnisch-tschechischen Streit. Sie kostete die Existenz mehrerer Orte, die zum Teil von einer jahrhundertelangen Geschichte geprägt waren. Ob der große Appetit des Bergwerks auf neue Flächen damit aber endgültig gestillt ist, kann nicht mit hundertprozentiger Sicherheit gesagt werden. Schließlich soll Turów noch bis 2044 aktiv bleiben. Von Dawid Smolorz.
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Das 1962 in Betrieb genommene Kraftwerk Turów ist das drittgrößte Polens und deckt acht Prozent des polnischen Energiebedarfs, hinterlässt allerdings auch riesige Krater in der Landschaft. © NurPhoto/Imago

Der Tagebau im Raum Reichenau in Sachsen/Bogatynia ist keine »Erfindung« der Volksrepublik Polen. Bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als diese Gegend Teil des Königreichs Sachsen war, gab es dort mehrere kleine Bergwerke, die insgesamt über etwa siebzig Schachtanlagen verfügten. Anfang des 20. Jahrhunderts entstand infolge von Zusammenschlüssen und Neuerwerbungen das Staatliche Braunkohlewerk Hirschfelde, das unter anderem ein Kraftwerk, ein Bergwerk und eine Brikettfabrik umfasste und sich entlang beider Ufer der Lausitzer Neiße erstreckte.

Die Abtragung der ersten Ortschaft im Zuge des Bergbaus fand noch »zu deutscher Zeit« statt. Der Name des damals aufgegebenen Dorfes Türchau wurde in seiner polnischen Variante Turów in der Bezeichnung des nach 1945 neu gegründeten und stark ausgebauten Kombinats verewigt. Die nach dem Zweiten Weltkrieg von den Siegermächten beschlossene Übergabe der deutschen Gebiete östlich der Oder und der Lausitzer Neiße an die polnische Verwaltung erzwang die Teilung des Unternehmens Hirschfelde in einen deutschen und einen polnischen Betrieb.

Schon kurze Zeit danach, noch in den 1940er Jahren, verschwand als zweites Dorf Gießmannsdorf/Gościszów in der Nähe von Reichenau von der Erdoberfläche. Damals stellte dies organisatorisch kein größeres Problem dar, und zwar nicht nur, weil der kommunistische Staat nicht die geringste Absicht hatte, auf die Bevölkerung Rücksicht zu nehmen. Der durch die neue Grenzziehung entstandene Zipfel um Reichenau war nach der Vertreibung der meisten Deutschen noch relativ dünn besiedelt. Der Landstrich bot nicht gerade optimale Lebensbedingungen an: Er war weit von größeren urbanen Zentren des nun nach Westen verschobenen Polen entfernt, von drei Seiten von einer undurchlässigen Staatsgrenze umgeben und nur über einen etwa drei Kilometer breiten Streifen mit dem Rest des Landes verbunden. Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass die meisten Polen, die seit 1945 in dieser Gegend lebten, ihre Situation alles andere als stabil empfanden. Aus den Ostgebieten des Vorkriegspolen übergesiedelt, hofften sie – wie sich herausstellen sollte, vergeblich – auf eine baldige Rückkehr in ihre von der Sowjetunion annektierten Heimatregionen. Zudem war damals unter den euphemistisch als »Repatriierte« Bezeichneten die Überzeugung weit verbreitet, dass die Deutschen früher oder später in die Gebiete östlich von Oder und Neiße zurückkommen würden.

Wegen des Mangels an Flächen war ein Konflikt zwischen dem seit der zweiten Hälfte der 1950er Jahre expandierenden Bergbau und dem »Rest der Welt« in dem recht engen Reichenauer Zipfel vorprogrammiert. Insgesamt verschlang das Bergwerk bis heute sieben Ortschaften. Fünf von ihnen mussten dem Kohleabbau als solchem weichen: Friedersdorf/Biedrzychowice Górne, Gießmannsdorf, Reibersdorf/Rybarzowice, Türchau und Zittel/Pasternik. Weigsdorf/Wigancice Żytawskie und Dornhennersdorf/Strzegomice wiederum verschwanden, um Platz für Abraumhalden zu machen. Zu dieser Gruppe kann eigentlich als achter Ort auch Seitendorf/Zatonie, heute ein Teil der Stadt Reichenau, gezählt werden. Denn auch dieses frühere Dorf existiert de facto nicht mehr in seiner ursprünglichen Form: Wegen der Erweiterung des Tagebaus wurden dort bereits die meisten Wohn- und Wirtschaftsgebäude abgerissen.

Bei fast allen zerstörten Ortschaften handel­te es sich um alte Siedlungen. In den meisten Fällen wurden sie im 13. und 14. Jahrhundert gegründet, wobei mit der Neubesiedlung von 1945 die historische Kontinuität unterbrochen wurde. Charakteristisch für das Bild dieser Orte waren die Umgebindehäuser, die eine bauliche Trennung von Stubenkörper und Obergeschoss aufweisen. Die Größe der aufgelassenen Orte war recht unterschiedlich. In dem in deutscher Zeit für die Herstellung von Holzpantoffeln bekannten Seitendorf lebten in den 1960er Jahren über 2 000 Personen. Als die Nachricht von der geplanten Erweiterung des Tagebaus Friedersdorf und Reibersdorf erreichte, lebten dort jeweils rund 1 500 Menschen. Die anderen Dörfer waren meist kleiner.

KK 1436 16 19 Smolorz Verschwundene Orte Umgebindehaus 1200x800Die Versetzung eines Umgebindehauses von Weigsdorf nach Polnisch-Görlitz/Zgorzelec 1996. ©Elżbieta Lech-Gotthardt, Verein Dom Kołodzieja, Zgorzelec Neben den Umgebindehäusern hatten diese Orte noch weitere interessante und historisch wertvolle Objekte. In Seitendorf befand sich eine Wallburg. Der Stolz von Gießmannsdorf war wiederum das nach einem Brand 1694 im Renaissancestil wiederaufgebaute Schloss. Gleich zwei Schlösser konnte der einstige Marktflecken Reibersdorf vorweisen. Während das ältere der beiden einen relativ bescheidenen Eindruck machte, galt die im 18. Jahrhundert erbaute und von einem Park umgebene Residenz der Familie Einsiedel als Perle der Architektur. Bei Reibersdorf, aber auch in einigen weiteren Fällen kann von einem langsamen Sterben gesprochen werden. Denn zwischen den ersten Abrissarbeiten und der Abtragung der letzten Gebäude lagen manchmal bis zu dreißig Jahre.

Ein äußerst interessanter Fall ist das seit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts durch eine Staatsgrenze zerschnittene Weigsdorf. Sein einst sächsischer Teil heißt heute offiziell Wigancice Żytawskie und gehört zu Polen, der böhmische Teil, amtlich Višňová, liegt auf tschechischem Gebiet. Während letzterer bis heute ununterbrochen existiert hat, gibt es ersteren nur noch theoretisch. Anders als die Landkarte und die an der Grenze zwischen dem polnischen und dem tschechischen Dorfteil befindliche Ortstafel versprechen, erwartet den Besucher vor Ort nur eine mit Gebüsch zugewachsene Wüstung, in der man bestenfalls Fundamente zerstörter Bauernhöfe entdeckt. Die Bewohnerinnen und Bewohner des ehemals sächsischen Dorfteils mussten 1999 ihre Häuser verlassen. Grund dafür war die geplante Erweiterung einer Abraumhalde des Bergwerks Turów, die aber letztendlich nicht umgesetzt wurde. Seit einigen Jahren spricht man von einer Wiedergründung des polnischen Ortsteils in Form einer modernen, nach umweltfreundlichen Regeln konzipierten Siedlung. Doch solange keine Straße in das Dorf führt und die Wasserleitung nicht funktionsfähig ist, werden diese Pläne wohl Papier bleiben.

Die ehemaligen Einwohnerinnen und Einwohner der zerstörten Orte leben heute über den ganzen Kreis Zgo­rzelec zerstreut. Zum Teil sind sie informell organisiert, treffen sich regelmäßig, tauschen sich im Internet aus und sammeln alte Fotos. Für die Menschen, die nach dem Anschluss der polnischen Ostgebiete an die Sowjetunion hier eine neue Heimat gefunden hatten, bedeutete der Wegzug schon die zweite Zwangsaussiedlung in ihrem Leben.

Anders als noch vor Kurzem geplant, wird der ehemalige Kurort Bad Oppelsdorf/Opolno Zdrój, dessen Zentrum etwa einen Kilometer Luftlinie von dem »großen Loch« entfernt ist, dem Tagebau nicht geopfert. Oder präziser gesagt: Bad Oppelsdorf wird ihm nicht gänzlich geopfert. Diese Entscheidung setzt zwar der langen und quälenden Ungewissheit der Einwohner ein Ende, löst jedoch nicht alle Probleme dieses Ortes. Für die Verwendung des Zusatzes Zdrój (»Bad«) gibt es längst keine Rechtfertigung mehr. Die Heilquellen, früher ein Magnet für Besucherinnen und Besucher aus Sachsen, Schlesien und Böhmen, sind infolge der Bergbautätigkeit versiegt und die Luft ist wegen der Nähe zu einem aktiven Bergwerk verstaubt. Die eleganten historischen Pensionen, Hotels und Badeanstalten werden zwar nicht abgerissen, ob sie jedoch jemals ihre ursprüngliche Funktion wieder erfüllen werden, ist fraglich. Es sei denn, eine Vision wird verwirklicht, von der man in Reichenau und Umgebung immer häufiger spricht, und das Loch des Tagebaus wird in einer nicht näher definierten Zukunft in einen künstlichen See verwandelt. Solche Vorhaben wurden bereits auf deutscher und tschechischer Seite (Berzdorfer See und Christinasee/Kristýna) mit Erfolg umgesetzt. Vielleicht wird das auch in Reichenau gelingen. Dann füllt sich Bad Oppelsdorf vielleicht wieder mit Menschen, die sich an Stränden erholen werden, deren Namen an die nicht mehr existierenden Orte des Zipfels erinnern könnten.