Es war nur ein kurzes Gastspiel, das der junge Richard Wagner einst in Riga gab. Doch der Aufenthalt hinterließ einen bleibenden Eindruck beim Komponisten – besonders das Deutsche Stadttheater. Es diente ihm als Blaupause für das Bayreuther Festspielhaus. Nun soll es am historischen Ort wiederhergestellt werden. Von Alexander Welscher.
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Māris Gailis, der Vorsitzende der Richard-Wagner-Gesellschaft Riga, im historischen Wagnersaal. © Arina Soltnzeff

Auf einmal war alles wie vor fast 200 Jahren, als er hier von 1837 bis 1839 Kapellmeister am Rigaer Stadttheater war: Von Schaffensdrang gepackt steht Richard Wagner (1813–1883) auf der Bühne des Wagnersaals des einstigen städtischen Deutschen Theaters in Riga, sinniert etwas weltvergessen in Monologen, schreibt Briefe an seine Frau Minna Planer und studiert mit einem Sänger dessen Gesangsrolle ein. In einer Art Zeitreise kehrte der Komponist im Musiktheater Gesang, Gesang und abermals Gesang im Herbst 2022 zurück an seine einstige Wirkungsstätte.

Inszeniert von der deutschen Regisseurin Kristina Wuss gibt das episodenhafte Bühnenstück einen Einblick in das Leben und Wirken des bekanntesten deutschen Komponisten in Riga, der dort zwei entscheidende Jahre seines frühen Künstlerlebens verbrachte. Mit biografischen Szenen, atmosphärischen Bildern und inszenatorischen Analogien aus Wagner-Werken sowie spielerischen Anleihen aus der Theaterliteratur und der lettischen Folklore näherte sie sich dem jungen Wagner und anderen Persönlichkeiten der damaligen Zeit am Stadttheater an. Damit wolle sie »die Verwobenheit der deutschen und lettischen Kulturgeschichte« aufzeigen, umschrieb Wuss ihren Ansatz der künstlerischen Spurensuche.

Die erste und einzige Aufführung des Theaterstücks bildete den Höhepunkt und Abschluss des 240-jährigen Jubiläums des Rigaer Stadttheaters, das 1782 auf Initiative und mit finanzieller Hilfe des deutschbaltischen Barons und Kunstmäzens Otto Hermann von Vietinghoff gegründet worden war. Untergebracht war es in einem von dem Architekten Christoph Haberland entworfenen Gebäude in der Altstadt von Riga – der palastartige Komplex bildete über ein Jahrhundert lang das kulturelle Zentrum für die damals vorherrschende deutsche Oberschicht in der heutigen lettischen Hauptstadt.
Im 19. Jahrhundert gastierten zahlreiche namhafte Vertreterinnen und Vertreter der deutschsprachigen Kunstwelt wie etwa Franz Liszt oder Clara Schumann an dem Theater. Die musikalisch bedeutsamste Episode in der reichen Geschichte des Hauses ist aber das Engagement von Wagner. Noch ehe er als Opernkomponist bekannt wurde, hob das Musikgenie am Stadttheater den Taktstock. Mit 24 Jahren kam er im August 1837 in die damals zum Russischen Reich gehörende Ostseemetropole, um seine Stelle anzutreten und vor allem italienische und französische Opern zu dirigieren. Doch das Gastspiel endete jäh: Schulden und Streit mit dem Theaterdirektor ließen den Dirigenten aus Sachsen schon nach zwei Spielzeiten Hals über Kopf die Stadt verlassen. Er wollte lieber in die große weite Welt. Sein Ziel war Paris, die maßgebliche Musikstadt seiner Zeit.

Prägende Wirkungsstätte und Vorbild für das Festspielhaus

Auf der Karriereleiter war Riga dennoch eine wichtige Station für Wagner. Er begann hier mit der Arbeit an seiner frühen Oper Rienzi, die er in Paris fortsetzte und die 1842 in Dresden uraufgeführt wurde – das Werk sollte seinen Durchbruch als Komponist bringen. Auch Der fliegende Holländer ist unmittelbar mit seinem kurzen Gastspiel in der alten Hansestadt an der Ostsee verbunden: Die eigene abenteuerliche Flucht aus Riga mit dem Schiff nach London soll Wagner zu der Oper inspiriert haben. Den größten Einfluss auf das Musikgenie aber hatte fraglos das Stadttheater selbst. Dessen Aufbau sollte Wagner später als Vorbild für seine heiligen Hallen dienen – das 1876 eröffnete Bayreuther Fest-spielhaus.

»Die wegweisenden Impulse für die Anlage des Orchesterraums und des Parketts gingen von der Gestaltung des Rigaer Stadttheaters aus«, verweist der Vorsitzende der Richard-Wagner-Gesellschaft Riga, Māris Gailis, auf den historischen Grundriss des Theatersaals. Bestätigt wird dies auch durch Wagners aus Riga stammenden Biografen Carl Friedrich Glasenapp. In Erinnerung geblieben seien dem Komponisten demnach die nach Art eines Amphitheaters ansteigende Anordnung der Sitzplätze, der abgedunkelte Zuschauerraum und der vertiefte Orchestergraben des Theaters. »Die Idee des Bayreuther Festspielhauses war für seinen zukünftigen Erbauer in diesen drei Elementen bereits im Keime enthalten«, schrieb Glasenapp.

KK 1435 26 29 Welscher Epochen Wagner Theater Maketa 1000x1200© Richard-Wagner-Gesellschaft Riga
Doch daran erinnert heute kaum noch etwas – von der einstigen Innenausstattung ist so gut wie nichts mehr vorhanden. Mit dem Umzug des Stadttheaters in neue Räumlichkeiten – die heutige Lettische Nationaloper – verlor das Gebäude Ende des 19. Jahrhunderts an Bedeutung. Es erlebte seitdem zahlreiche Umbauten und viele verschiedene Nutzungen. Zu Sowjetzeiten wurde in dem Haus der »Wagnersaal« als Konzertsaal für Kammermusik eingerichtet, auch eine Bibliothek, ein Tanzsaal und ein Musikklub waren einst darin untergebracht, wie Gailis anhand von alten Fotoaufnahmen veranschaulicht.

Aber seit gut eineinhalb Jahrzehnten steht der rund 5 000 Quadratmeter große Gebäudekomplex inzwischen leer, die schwere, alte Tür ist verschlossen. Bröckelndes Mauerwerk, lange, breite Risse an den Wänden, abblätternde Farbe und Wasserflecken an den Decken zeugen vom schlechten Zustand des riesigen Hauses, das sich hinter der unscheinbaren und verwitterten Außenfassade in der Richard-Wagner-Straße auftut. Der einstige Glanz ist aber noch erkennbar und zeigt sich im »Wagnersaal« oder anhand des prachtvollen Treppenaufgangs, neben dem eine riesige Wagner-Büste steht. Dieser Zustand soll sich aber nun ändern: Mit umfangreichen finanziellen Mitteln soll das baufällige Haus wieder seine ursprüngliche Gestalt erhalten – und damit auch den Theatersaal, der Wagner inspiriert hatte.

Ein Gesamtkunstwerk als neue Pilgerstätte für Wagnerianer

Treibende Kraft hinter dem ambitionierten Projekt ist Gailis selbst. »Ich bin ein Wagner-Enthusiast und glaube fest daran, dass dieses Gebäude ein sehr großes kulturelles und touristisches Potenzial hat. Dieser Teil von Wagners Vermächtnis, der Lettland mit diesem Haus anvertraut wurde, gehört auch der Welt«, meint er.

Nach mehreren wiederholt erfolglosen Versuchen, es zu sanieren und einer neuen Bestimmung zuzuführen, macht sich der 71-Jährige daran, das Gebäude in ein Wagner-Haus mit Konzertsaal und Museum zu verwandeln und wieder öffentlich zugänglich zu machen. »Uns war von Anfang an klar, dass wir den Theatersaal so restaurieren wollen, wie er zu Wagners Zeiten war«, beschreibt er bei einem Rundgang seinen Traum, den er mit Hilfe von privaten Sponsoren und öffentlichen Geldgebern verwirklichen will. Entstehen soll aber nicht allein eine neue Pilgerstätte für Wagner-Fans, sondern ein Inkubator aller Künste und Treffpunkt für junge Kunstschaffende.

Gailis spricht – ganz im Wagnerschen Sinne – vom »GesamtkunstWerk21«. Um es umsetzen zu können, nutzt er seinen Einfluss und seine Erfahrung. Mitte der 1990er Jahre war er für kurze Zeit Regierungschef des wieder unabhängig gewordenen Lettland, danach ging er in die Wirtschaft. Jetzt ist er im Ruhestand – und engagiert sich für den Erhalt des Hauses. Doch es ist ein nicht ganz einfaches und vor allem kostspieliges Unterfangen, für das der Richard-Wagner-Gesellschaft Riga der historische Bau im Herbst 2020 von der lettischen Regierung übertragen wurde. Schätzungsweise 44 Millionen Euro werden benötigt, um das Gebäude zu restaurieren. Das Fundraising dafür ist auch in Deutschland in vollem Gange.

Wenn alles glatt und nach Plan läuft, könnte schon 2023 mit den Renovierungsarbeiten begonnen werden. Die große Eröffnung ist für 2026 geplant. Ob es jedoch tatsächlich dazu kommt, muss sich erst noch zeigen. Weiterhin bestehen noch viele Fragezeichen – und das nicht nur mit Blick auf die künftige Auslastung und das voraussichtliche Besuchsaufkommen.

An Unterstützern mangelt es Gailis nicht. Für sein Vorhaben konnte der umtriebige und gut vernetzte Unternehmer prominente Fürsprecher gewinnen. Schirmherren sind niemand Geringeres als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und dessen lettischer Amtskollege Egils Levits. Mit dem Projekt werde ein »Kulturort von Weltrang« zu neuem Leben erweckt, würdigte Steinmeier die Initiative bei einem Besuch des Hauses im Jahr 2022. »Es ist lebendiges Zeugnis der reichen Geschichte von Deutschen und Letten in Europa.«

Deutschland engagiert sich auch finanziell: Schon Ende 2020 bewilligte der Bundestag Mittel für die Sanierung – eine erste Zuwendung in Höhe von 200 000 Euro wurde im August 2021 gewährt. Im Herbst 2022 stellte die Bundesregierung dann noch einmal fünf Millionen Euro als mehrjährige Förderung zur Verfügung. Unterstützung kommt auch von der Wagner-Urenkelin und ehemaligen Leiterin der Bayreuther Festspiele, Eva Wagner-Pasquier. Mehrmals war sie bereits in Riga zu Gast, um sich etwa an Flashmob-Aktionen zum Erhalt des Hauses zu beteiligen, mit denen Gailis Aufmerksamkeit erzeugen und die Öffentlichkeit mobilisieren wollte.

Zwar konnte Eva Wagner-Pasquier nicht selbst zu dem 240. Stadt­thea­ter-Jubiläum kommen, wurde aber von ihrem Sohn Antoine vertreten, der sich vom Programm und den Plänen zur Wiederherstellung des Hauses begeistert zeigte. Ähnlich äußerte sich mit dem Potsdamer Filmproduzenten Joachim von Vietinghoff auch ein Nachfahre des Theatergründers. »Das ist fantastisch. Ich bin sprachlos«, kommentierte er die Pläne der Rigaer Wagnerianer. Mit dem Haus könnten neue Identitäten und Zugehörigkeiten geschaffen werden, ein Zentrum und eine neue Verbindung zwischen Riga und Berlin entstehen.