Es gab Zeiten, da gehörte Rübezahl, der geheimnisvolle Berggeist aus dem Riesengebirge, zum obligatorischen Personal der Sagen und Märchen, die von Kindern und Erwachsenen geliebt wurden. Eine Weile schien der böhmisch-schlesische Heros in der Versenkung verschwunden zu sein, weil Harry Potter und Co. ihm Konkurrenz machten. Seit einiger Zeit aber erwacht der Riesengebirgsmythos zu neuem Leben. Von Ralf Pasch
Januar/Februar 2022 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1427
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Alexander Pfohl: „Rübezahl, der Herr der Berge“, um 1941, Aquarell und Pastell, © Foto: Angelika Krombach/Schlesisches Museum Görlitz

»Rübezahl zeig dich mal!« nennt das Schlesische Museum in Görlitz eine Führung durch seine Dauerausstellung für Vorschulkinder. Der für Bildung und Vermittlung zuständige Mitarbeiter Matthias Voigt macht die Erfahrung, dass Kinder über die früher so bekannte Sagenfigur aus dem schlesisch-böhmischen Riesengebirge kaum noch etwas wissen. Dabei biete Rübezahl viele Anknüpfungspunkte, auch für aktuelle Themen. Deshalb gelte es, den alten Mythos »neu zu entdecken«.

Rübezahl ist im Riesengebirge, an der heutigen Grenze zwischen Polen und Tschechien, die wohl wichtigste Sagengestalt. »Ohne Rübezahl«, meint Museumsmitarbeiter Voigt, »kein Riesengebirge.« Und der Berggeist ist fast schon ein ökonomisches Zugpferd: Er haust in fast jedem Souvenirshop rund um die Schneekoppe – meist als bärtiger Mann, ausstaffiert mit Hut, Mantel und Stock. Hotels oder Kneipen wurden nach ihm benannt, Produkte mit seinem Namen verkaufen sich gut: Rübezahl-Bier, Rübezahl-Schokolade, Rübezahl-Tee … Aber wie steht es um die Ursprünge, sind die Geschichten über ihn etwa zum Ladenhüter geworden?

Wie bei den meisten Sagengestalten ist auch bei Rübezahl nicht eindeutig zu klären, wann und wie er das Licht der Welt erblickte. Im 15. Jahrhundert erzählten Bergleute, die etwa aus Italien in das Riesengebirge kamen, von einem Berggeist, der die Schätze unter Tage bewache. Holzfäller machten ihn für Überschwemmungen verantwortlich, Kräuter- und Wurzelsammler führten die abrupten Wetterwechsel auf das Wirken eines Geistes zurück. Die erste bildliche Darstellung stammt von Martin Hellwig, der 1561 auf einer Karte für Schlesien ein merkwürdiges Wesen kreierte: eine Mischung aus Mensch und Tier, mit Hufen und Hirschgeweih, weit entfernt von dem Waldschrat, als der Rübezahl heute vermarktet wird.

Zunächst mündlich weitergegeben, wurden die Geschichten zunehmend schriftlich festgehalten. Die Zielgruppe ist nicht eindeutig definierbar, zunächst wohl Erwachsene, später auch Kinder. Sagen halfen den Menschen, Ängste zu bewältigen, unerklärliche Erscheinungen begreifbar zu machen, Lebensweisheiten zu transportieren. Anders als Märchen spielen sie nicht in irgendeinem Königreich, sondern an realen Orten.

Zu Bestsellern wurden die Rübezahl-Texte zweier deutschsprachiger Autoren: Johannes Praetorius veröffentlichte 1662 seine dreibändige Dämonenlehre. Nicht weniger erfolgreich war Johann Karl August Musäus, der in seinen Volksmärchen der Deutschen auch solche über Rübezahl erzählte. Musäus gilt als Erfinder der Geschichte, die den Namen erklärt: Der vom Berggeist entführten Prinzessin Emma behagt es in seinem Reich so gar nicht, sie will fliehen und schickt ihren Entführer mit einem zeitaufwändigen Auftrag auf ein Feld. Während er die Rüben zählt, entschwindet sie. Etymologen führen den Namen freilich auf eine andere Wurzel zurück: Demnach steht das althochdeutsche hriobo für »den Rauen« und zagel für »Schwanz«.

Zwischen den Fronten

Die Texte von Praetorius und Museäus dienten als Vorlage für diverse Veröffentlichungen – außer in der deutschen auch in der tschechischen Sprache. Der Literaturwissenschaftler Ladislav Futtera, der an der Akademie der Wissenschaften in Prag zur Rezeption der Sagenfigur forscht, macht in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der tschechischen Romantik eine verstärkte Hinwendung zu Rübezahl aus, als man das Riesengebirge als »magisch-mythischen Ort« entdeckte.

Märchen und Sagen seien im Zuge der böhmischen Nationalbewegung ein Mittel zum Zweck bei der Suche nach einer Seele der tschechischen Nation gewesen. Zum Helden tschechischsprachiger Geschichten sei Krakonoš verstärkt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts geworden. Da erst entstand auch sein tschechischer Name, der sich von Krkonoše, der tschechischen Bezeichnung für das Riesengebirge, ableitet. In vielen deutschen und tschechischen Rübezahl-Texten zeigt sich, dass gern aus dem Fundus der jeweils anderen Kultur geschöpft wurde.

Im 19. Jahrhundert setzte ein wahrer Hype um Rübezahl ein – auch im Kontext des zunehmenden Tourismus, der das Riesengebirge nicht verschonte und für den ein zugkräftiger Werbeträger gebraucht wurde. Es entstanden Opern und Gemälde, viele neue Bücher kamen auf den Markt. 1902 baute man in Schreiberhau/Szklarska Poręba eine Sagenhalle, in der Rübezahl als »germanischer Mythos« verkauft wurde. So geriet der böhmisch-schlesische Heros zwischen die Fronten des Nationalismus. Im deutschen Stummfilm Rübezahls Hochzeit von 1916 mimt – Ironie der Geschichte – just die Tschechin Lyda Salmonova die Elfenprinzessin.

Die Unterschiede zwischen dem tschechischen Krakonoš und dem deutschen Rübezahl sind freilich marginal. Im Vergleich zum launischen Riesen der deutschen Sagen erscheint der tschechische Herrscher des Gebirges allerdings öfter als freundlicher Bergbewohner.

 

Der Berggeist fast schon niedlich © Juliane Pieper, www.julepi.deDer Berggeist fast schon niedlich © Juliane Pieper, www.julepi.de

Wachsende Popularität erfuhr Krakonoš in der tschechischen Version des Sandmännchens – Večerníček – durch die darin erzählten Krkonošské pohádky (»Riesengebirgs­geschichten«). Kreiert zu Beginn der 1970er Jahre, also in sozialistischer Zeit, sind dies Episoden »im marxistischen Sinne« (Futtera): Der deutsche Adlige Trautenberk liegt im ständigen Clinch mit seinen tschechischen Untergebenen, die ihm alle Nase lang eins auswischen und dabei in Krakonoš einen Helfer finden. 2013 wählten tschechische Fernsehzuschauer die zu diesem Zeitpunkt bereits beendete Serie zur besten Kindervorabendsendung.

Junge Karriere in Polen

Der polnische Rübezahl ist vergleichsweise jung, wurde er doch erst nach 1945 entdeckt. Niederschlesien auf der nördlichen Seite des Riesengebirges hatte bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs eine deutsche Bevölkerung, nach Flucht und Vertreibung setzte die polnische Besiedelung ein. Damit verbunden war die Suche nach einer eigenständigen polnisch-niederschlesischen Identität. Bei der Wahl einer dazu passenden Sagenfigur stieß man auf Rübezahl. Liczyrzepa, die wörtliche Übersetzung des deutschen Namens Rübezahl, machte der polnische Autor Józef Sykulski durch seinen 1945 verfassten Text Liczyrzepa, zły duch Karkonoszy i Jeleniej Góry (»Rübezahl – der böse Geist des Riesengebirges und Hirschbergs«) populär.

Weil die Sage auf deutsche Wurzeln zurückgeführt wurde, entbrannte ein politischer Streit. »Schluss mit Rübezahl!«, lautete die Forderung in einem Zeitungsartikel. Trotzdem hielt sich der Berggeist auch in Polen standhaft und kam sogar zu neuer Kraft. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs entwickelte sich in der Region nördlich des Riesengebirges zunehmend eine neue niederschlesische Identität. Und mit ihr wurde Liczyrzepa, auch Duh Gór (»Berggeist«) genannt, neu entdeckt, sagt der aus Zillerthal-Erdmannsdorf/Mysłakowice stammende Übersetzer Emil Mendyk. »Rübezahlkonjunktur« nennt es der polnische Historiker Mateusz J. Hartwich, der sich in einem Buch mit der Polonisierung des schlesischen Riesengebirges beschäftigt.

Ein Höhepunkt dieser Entwicklung war für Mendyk 1999 die Gründung der neuen Woiwodschaft Niederschlesien mit Breslau/Wrocław als Zentrum. Im Zuge des neuen Hypes um Rübezahl wurden viele deutschsprachige Texte ins Polnische übersetzt und – etwa vom Riesengebirgsmuseum in Hirschberg/Jelenia Góra – veröffentlicht. Mendyk übertrug im Jahr 2000 Carl Hauptmanns Rübezahlbuch ins Polnische. Das 1915 erstmals erschienene deutschsprachige Original wurde zum 100. Todestag des Autors und Bruders des Nobelpreisträgers Gerhart Hauptmann im Görlitzer Bergstadtverlag neu aufgelegt. Auf die Frage, für wen diese Neuveröffentlichung gedacht sei, antwortet Verleger Alfred Theisen: »Für Kinder und Erwachsene.«

Hauptmann sieht in Rübezahl eine Gestalt »jenseits von Gut und Böse«, womit er den Philosophen Friedrich Nietzsche zitiert. Hauptmann streicht die – wie man heute sagen würde – Diversität des Berggeistes heraus, sei der doch »mit Händen nicht zu packen«. Eine ganz moderne Variante der Vielgestaltigkeit findet sich in dem Buch mit dem Titel Krakonos, das 2018 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert war. Autor Wieland Freund erzählt darin eine dystopische Geschichte, in der Rübezahl von Mythobiologen gejagt wird. Den Jugendliteraturpreis erhielt Freund zwar nicht, doch die Stadt Hameln ehrte ihn mit ihrem Rattenfänger-Literaturpreis, weil er »eine wenig bekannte Seite der deutschen Überlieferung für die fantastische Literatur fruchtbar« gemacht habe.