Als nach 1990 erste deutsche Reisende, darunter ehemalige Bewohner und einstige Sommerfrischler in Schwarzort/Juodkrantė auftauchten, ermunterten diese die heutigen Einwohnerinnen und Einwohner zur Auseinandersetzung mit der Geschichte des Ortes. Die Folgen sind heute omnipräsent, etwa in Form der restaurierten, vom alten Seebadgeist kündenden Villen und in Büchern zur Geschichte des Ostseebades. Der heute litauische Badeort blickt auf eine lange Tradition zurück: Bereits um die Wende zum 20. Jahrhundert zog es in jeder Saison Tausende Urlauberinnen und Urlauber in die »Perle der Kurischen Nehrung« – eine wohlverdiente Anerkennung für die vorausgegangenen vier Jahrzehnte Aufbauarbeit. Von Nijolė Strakauskaitė
Juli/August 2021 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1424

Die Erfolgsgeschichte von Schwarzort hängt eng mit den globalen Prozessen in Preußen und später im Deutschen Reich zusammen – mit der schnell fortschreitenden Industrialisierung, die bedeutende Veränderungen nach sich zog: den Ausbau der Dampfschiff- und Eisenbahnverbindungen oder das Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum der Städte Königsberg (heute Kaliningrad), Tilsit (heute Sowetsk), Memel/Klaipėda. Der Geist der Industrialisierung hielt 1861 auch im kleinen, nur wenig bekannten Fischerdorf Schwarzort Einzug. Das Unternehmen Stantien&Becker begann mit der Bernsteinförderung und gehörte mit etwa tausend Saisonarbeitern schon nach wenigen Jahren zu den größten Industriebetrieben in Ostpreußen. Die Presse berichtete öfter über diese Firma und machte so zugleich das Seebad Schwarzort bekannt. Der Vertrag des Unternehmens mit dem Staat beinhaltete außerdem die Bedingung, die Fahrrinne im Kurischen Haff zu vertiefen und zu unterhalten, was von grundlegender Bedeutung für den regulären Dampfschiffverkehr war. So konnte man Schwarzort schon um die Mitte des 19.Jahrhunderts von den großen ostpreußischen Städten aus gut erreichen – eine Grundbedingung für den Aufbau des Seebades. Später wurde die Reise auch aus entfernteren Gegenden Deutschlands zunehmend bequemer, denn der D-Zug aus Berlin führte einen Waggon direkt nach Memel, von wo aus man Schwarzort per Dampfschiff in einer Stunde erreichte. 

Wie wurde aus dem Fischerdorf das Seebad in der »Ostpreußischen Sahara«? 1865 erwarb der Hotelbesitzer Eduard Stellmacher aus Tilsit ein Wirtshaus im Dorf und wandelte es in ein Gasthaus um. Mit der Zeit stieg die Zahl der Langzeitgäste aus dem nur zwanzig Kilometer entfernten Memel stark an. Dessen Einwohnerzahl verdoppelte sich zu Beginn des 20.Jahrhunderts auf etwa 20000. Die Zeitgenossen waren geteilter Meinung, was die ersten Schritte Schwarzorts auf dem Weg zum Seebad mit seiner spezifischen Atmosphäre betraf. Im Jahr 1868 glaubte sich der Reiseschriftsteller Ludwig Passarge auf eine »wüste Insel« verschlagen, doch den ersten Eindruck korrigierten der gar nicht so üble Kaffee und die angenehme Gesellschaft im vollen Stellmacher’schen Gasthaus. Eine Gruppe von wohlhabenden Stammgästen aus Memel und Tilsit gründete 1881 das »Bade-Comité« – ein wichtiger Schritt in Richtung Kurort, wie er dem Zeitgeist entsprach. Zudem verfügte Schwarzort mit dem 1880 eröffneten, aus zwei mehrstöckigen Häusern bestehenden repräsentativen Hotel »Kurischer Hof« bereits über einen der für diesen Status wichtigsten Akzente. In den nächsten Jahrzehnten veränderte ein für die Bäderarchitektur jener Zeit typisches Viertel mit drei großen Hotels und einigen Dutzend Villen das architektonische Gesicht des Seebads von Grund auf. Auch das Fischerdorf erfuhr bedeutende Wandlungen: Mitglieder der Fischerfamilien arbeiteten als Bäderdiener. So schrieb der örtliche Pfarrer Eugen Lotto in seinem ausführlichen Illustrierten Führer durch Schwarzort, erschienen 1910: »Im ersten Teile des Fischerdorfes gibt es mit ganz vereinzelten Ausnahmen nur Häuser neueren Ursprungs mit Ziegeldächern und großen Veranden, so dass sie streng genommen keine Fischerhäuser mehr sind; ihre Besitzer haben sich ganz auf die Vermietung von Familienwohnungen an Kurgäste eingerichtet.«

Zu den vom Bade-Comité entwickelten Ausbaustrategien gehörte an prominenter Stelle, wie anderswo auch, die Etablierung als »klimatischer Kurort« unter Hervorhebung der Einzigartigkeit der Landschaft und »therapeutischer Faktoren«. Anfang des 20.Jahrhunderts wurde das Baden im Meer weithin propagiert, wobei man natürlich auch die günstige Wirkung der »Waldluft« nicht vergaß. In Schwarzort hatte ein zwei Kilometer langer Waldstreifen mit jahrhundertealten Kiefern überdauert, den Sandberge von drei Seiten »angriffen«. Eine eindrückliche Dünen-Landschaft. 

So berichteten im Sommer 1875 die Tilsiter Zeitung und das Memeler Dampfboot, dass man auf der Fahrt mit dem Dampfschiff schon von Weitem den »dunklen Bergwald von Schwarzort« erblicke und strichen insbesondere dessen Heilwirkung bei Atemwegs- und Nervenerkrankungen heraus. Die zentrale Rolle des Waldes erwähnte der Verfasser gleich mehrfach: »So verrinnen hier die Tage, Vormittags im Walde, Nachmittags im Walde, Abends auf der Veranda des Gasthofs.« Seinen Beitrag schloss er mit seiner Version einer »Erholungsphilosophie« ab: »Der Werth einer solchen Sommerfrische liegt nicht in dem, was wir erleben; dies ist einfach genug, jeden Tag dasselbe.« Auch die Werbepublikationen jener Zeit lassen die zentrale Bedeutung des Konzepts des »klimatischen Kurorts« klar erkennen, denn sie beginnen stets mit dem Satz »Schwarzort. Ostseebad und klimatischer Kurort« und erwähnen auch den Wald: »Kurischer Hof unmittelbar am Walde gelegen« etwa oder »Hotel Sturmhoefel am Walde«.

Eine wichtige Maßnahme bei der Umsetzung der »Klimakurort-Vision« stellte die Einrichtung von Waldspazierwegen dar. Einer der ersten führte ab den 1870er-Jahren vom Zentrum des Seebads zum Aussichtspunkt »Blocksberg-Pavillon« auf einer sechzig Meter hohen Düne. Von hier aus genoss man eine atemberaubende Aussicht auf die Weiten des Meeres, das Kurische Haff und im Norden sowie im Süden – wie es ein Gast beschrieb – »über diese langgestreckte, in wellenförmigen Erhebungen sich hinschlängelnde Wüste, worauf Schwarzort die einzige Oase ist«. Auf diesem Spazierweg konnte man überdies ein einzigartiges Phänomen bestaunen: bis zu einer Höhe von zwanzig Metern im Sand steckende Kiefern mit grünenden Wipfeln. Diese einzigartige Landschaft wurde zum »Stützpfeiler« für die Kurortentwickler, die die Chancen, die ihnen der Zivilisationssprung bot, zu nutzen wussten.

Für den »Heilfaktor« spielte die 1885 erfolgte Niederlassung eines Arztes eine große Rolle, für sein »therapeutisches Image« das von der »Badegesellschaft Schwarzort« und Louis Stellmacher 1905 realisierte Projekt »Luisenbad«. Die Strategen von Schwarzort informierten sich laufend über die neuesten Anforderungen an Kurorte: »Der Ostseestrand ist heut nicht mehr allein Erholungsplatz für die Gesunden, sondern auch der bewährte Aufenthaltsort für die Rekonvalescenten und die leicht Erkrankten.« Ein weiteres für die Seebadinfrastruktur wichtiges Objekt, die »Strandhalle«, wurde 1909 eingeweiht. Vom Erfolg Schwarzorts als Kurort zur Zeit des Deutschen Reiches zeugt die von 1882 bis 1908 beinahe auf das Fünffache (von 662 auf 3195) angewachsene Gästezahl. Zwei Stellmachers prägten die Entwicklung Schwarzorts zum Seebad: Eduard (gestorben 1883) den Beginn und Louis Junior die Blütezeit Anfang des 20.Jahrhunderts. Die Metamorphose des kleinen Fischerdorfes zum modernen Kurort spiegelte die Umwälzungen an der zum Deutschen Reich gehörenden baltischen Ostseeküste bis zum Ersten Weltkrieg wider. Davor hatte der Urlaubstourismus Hochkonjunktur, während das Kriegsende und die Versailler Verträge weitreichende Veränderungen für die Region mit sich brachten. 

So wurde Schwarzort wie das gesamte Memelgebiet Anfang 1920 nach Artikel 99 an den Völkerbund abgetreten und von Frankreich verwaltet. Als im Januar 1923 »litauische Aufständische« das Memelgebiet besetzten, hielten sich die französischen Truppen zurück. Diese Besetzung wurde 1924 in der sogenannten Memelkonvention vom Völkerbund anerkannt, Litauen erhielt Ostseezugang durch deutschsprachiges Gebiet, was für Spannungen mit dem westlichen Nachbarn sorgte. In dieser Zeit änderte sich das Kurortverwaltungsmodell: Das größte Gewicht kam nun den Vertretern des Fischerdorfs zu. Die Hotel- und Villeneigentümer wechselten häufig: Von der Hyperinflation und den politischen Veränderungen verunsichert, verkauften nicht wenige ihren Besitz. Nach 1933 wuchs die Zahl der jüdischen Urlauber in Schwarzort merklich an und eines der größten Hotels hieß nun »Tel Aviv«. Die deutsch-litauischen Spannungen bezüglich des Memellandes hatten Einfluss auf die Visaerteilung und die Obergrenze für die Einfuhr von Bargeld, sodass die Zahl der traditionellen Urlauber aus Deutschland sank. Dennoch lebte der Mythos des attraktiven Seebads Schwarzort weiter und die Zahl der Urlauber pro Saison lag stets über 3000. Nachdem am 20.März 1939 der deutsche Außenminister Joachim von Ribbentrop in einem Ultimatum die Rückgabe des Memellandes von Litauen verlangte hatte, wurde Schwarzort wieder deutsch. 

Als im August 1944 sowjetische Bomben mit dem Kurischen Hof das größte Hotel von Schwarzort zerstörten, kündeten sie damit das abrupte Ende seines Ruhms als Kurort an. Vor der herannahenden Front flohen die meisten deutschen Bewohner Schwarzorts oder wurden am Ende des Zweiten Weltkriegs vertrieben. 1945/1946 siedelte die sowjetische Führung neue Bewohner aus entfernten Gegenden der Sowjetunion hier an und erklärte die Kurische Nehrung zur streng bewachten Grenzzone. Kein Wort wurde über den Ort als Seebad verloren, denn das Hauptaugenmerk galt den Fischereikolchosen. 1952/1953 wurde mangels Arbeitskräften überall in Litauen darum geworben, nach Juodkrantė überzusiedeln. Erst nach der Wende wurde die beinahe hundertjährige Geschichte Schwarzorts als Seebad wiederentdeckt. Heute ist das schmucke Nehrungsdorf mit den bunten Fischerhäuschen, den Holzvillen und dem Hexenberg integraler Teil der Strategie zur kulturtouristischen Entwicklung der Kurischen Nehrung.