In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts steckte die oberschlesische Industrie noch in den Kinderschuhen. Zwar war das riesengroße Potenzial der Region in Berlin bereits erkannt worden, doch konnte man damals moderne Betriebe noch an den Fingern einer Hand abzählen. Ein entwicklungshemmendes Hindernis war die Lage am südöstlichen Rand des Königreichs Preußen. Die Eisenbahn existierte noch nicht und die Straßen eigneten sich kaum zur Beförderung größerer Mengen von Bodenschätzen. Eine Idee lieferte 1788 der Provinzialminister für Schlesien, der ansonsten durchaus umstrittene Karl Georg von Hoym. Dieser schlug den Bau eines künstlichen Wasserweges vor, der die Oder, die wichtigste Verkehrsader im Osten Preußens, mit den noch kleinen Industrieorten verbinden, so die Beförderung der oberschlesischen Rohstoffe ins Innere des Staates ermöglichen und damit den Handel vorantreiben würde. Von Dawid Smolorz
März 2023 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1434
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Die Schleuse Lohnia/Śluza Rudziniec auf dem Gleiwitzer Kanal ist heute noch in Benutzung. © Robert/AdobeStock

Die Entwicklung der peripheren Gebiete und die komplexe Erschließung der dortigen Lagerstätten waren die langfristigen Ziele. Kurzfristig aber ging es darum, Berlin und Potsdam mit Heizmaterial zu versorgen, das billiger war als die englische Kohle. Der Klodnitz-Kanal/Kanał Kłodnicki, dessen Bau 1792 begann und 30 Jahre später abgeschlossen wurde, erfüllte seinen Zweck durchaus. Er trug bedeutend dazu bei, dass sich die bisher ländlich geprägte Gegend zwischen Gleiwitz/Gliwice und Myslowitz/Mysłowice innerhalb weniger Jahrzehnte in das größte Industriegebiet östlich der Elbe verwandelte. Die Wasserstraße führte von dem an der Oder gelegenen Cosel/Koźle nach Osten zum 45 Kilometer entfernten Gleiwitz, in dem sich die Königlich-Preußische Eisengießerei befand. Das Gefälle von 49 Metern wurde durch 18 Schleusen überwunden und in Gleiwitz wurde ein Hafen angelegt. 

Die Blütezeit des Kanals dauerte bis Mitte des 19. Jahrhunderts, als etwa 80 Prozent aller oberschlesischen Bodenschätze – vor allem Steinkohle, Eisen und Zink – über den Klodnitz-Kanal verfrachtet wurden. In den 1840er-Jahren kam die Eisenbahn nach Oberschlesien und veränderte das Verkehrsnetz in der Region nachhaltig. Zwar gewann sie den Wettbewerb mit dem Wassertransport nicht sofort, doch zeigte sich dieser von Jahr zu Jahr immer weniger konkurrenzfähig. Anzumerken sei hier, dass die Kähne anfangs von Menschen und später von Pferden gezogen wurden, außerdem war ihre Kapazität beschränkt. Der Einsatz von Dampfschleppern folgte erst um 1915. Trotz alledem blieb der Klodnitz-Kanal bis in die 1920er-Jahre ein wichtiger Transportweg.

Eine besondere Erwähnung verdient der 14 Kilometer lange Hauptschlüssel-Erbstollen, eine unterirdische Verlängerung des Klodnitz-Kanals, die zwei staatliche Bergwerke, darunter eines in Königshütte/Chorzów und eines in Zabrze, das zwischen 1915 und 1945 Hindenburg hieß, mit der Eisengießerei in Gleiwitz verband. Aufgrund des rasanten Tempos des technischen Fortschritts erwies sich dieses beeindruckende Ingenieurbauwerk, dessen Element ein unterirdischer Hafen darstellte, als überholt, noch bevor er in den 1860er-Jahren komplett fertiggestellt wurde. »Schuld« daran war, wie bei dem Klodnitz-Kanal, die Eisenbahn. 

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wurden alle Eingänge, die zum Hauptschlüssel-Erbstollen führten, zugemauert, da er schon seit Langem nur noch als Entwässerungskanal genutzt wurde. Die Erinnerung an dieses Bauwerk verblasste schnell, so dass sich die Erzählungen darüber, dass es 40 Meter unter der Erdoberfläche einen fast zwei Jahrhunderte alten Stollen geben soll, bereits wenige Jahrzehnte später wie ein Märchen anhörten. Mitte der 1990er-Jahre beschloss eine Gruppe mutiger Männer aus Hindenburg/Zabrze, zu überprüfen, wie viel Wahrheit hinter diesem Märchen steckt. Dadurch entdeckten sie die unterirdischen Gänge wieder und erforschten sie abschnittweise. Anfang des 21. Jahrhunderts entschied die Stadtverwaltung, einen Teil des Stollens für Besucher zugänglich zu machen. Die Millionen-Investition war das größte Projekt im Bereich der Industriekultur in Oberschlesien. Seit der Eröffnung des 2,5 Kilometer langen Abschnitts im Jahr 2018 gehört der Stollen zu den beliebtesten Sehenswürdigkeiten des Kattowitzer Ballungsraumes. 

Der oberirdische Klodnitz-Kanal war noch bis in die 1930er-Jahre in Betrieb, obwohl bereits um 1890 der Bau einer moderneren, deutlich breiteren und tieferen Wasserstraße mit einer geringeren Anzahl von Schleusen in Erwägung gezogen worden war. Konkrete Entscheidungen wurden allerdings erst Anfang der 1930er-Jahre gefällt. Im Dezember 1939 fand nach etwa fünf Jahren Bauzeit die Eröffnung des Adolf-Hitler-Kanals, so die damalige offizielle Bezeichnung, statt. Zum Zeitpunkt seiner Inbetriebnahme galt er als eine der modernsten künstlichen Wasserstraßen der Welt. Ein Novum waren unter anderem das Wassersparsystem und die Programmiergeräte für die Schließung und die Öffnung der Kammertore. Eine seltene technische Sehenswürdigkeit bleibt bis heute der Siphon der Klodnitz. Bei diesem Ingenieurbauwerk, das unweit der Stadt Kandrzin-Cosel/Kędzierzyn-Koźle gelegen ist, handelt es sich um eine sogenannte höhenfreie Kreuzung, bei der die Klodnitz in drei großen Betonrohren mit einer Länge von etwa fünfzig Metern unter dem Kanal fließt und sich so ohne zu berühren kreuzt. 

Den Zweiten Weltkrieg überstand die Wasserstraße ohne größere Schäden. Seit dem Frühjahr 1945 befand sich ganz Oberschlesien unter polnischer Verwaltung, doch der Kanal – fortan als Gleiwitzer Kanal bezeichnet – blieb bis Mitte 1946 unter sowjetischer Kontrolle. In dieser Zeit wurden nicht nur die meisten Wasserfahrzeuge, sondern zum Teil auch Hafen- und Krananlagen demontiert und in die UdSSR gebracht. Vor der Wiederinbetriebnahme waren daher keine geringen Investitionen notwendig. Da in den Zeiten der Volksrepublik Polen im Oberschlesischen Industriegebiet das wirtschaftliche Herz des Landes schlug, herrschte auf dem Kanal bis in die 1980er-Jahre Hochbetrieb. Wie vor dem Krieg war die Steinkohle das wichtigste Fördergut. Sie wurde unter anderem nach Stettin und dann über die Ostsee in ausländische Häfen verfrachtet. 

Seit den 1990er-Jahren befindet sich der Gleiwitzer Kanal jedoch in einer Art Dornröschenschlaf, was vor allem auf zwei Faktoren zurückzuführen ist. Mit dem Fall des Kommunismus begann die Umstrukturierung der oberschlesischen Industrie, die eine Schließung der meisten Berg- und Hüttenwerke zu Folge hatte. Die Steinkohle verlor dadurch den Status der polnischen Exportware Nummer Eins. Ein weiterer Grund ist die Vernachlässigung während der kommunistischen Zeit. Wegen fehlender Entschlammungs- und Vertiefungsarbeiten ist der Betrieb von größeren Wasserfahrzeugen nicht mehr möglich. Für kleinere Schiffe bleibt der am östlichen Ende des Kanals gelegene Hafen Gleiwitz dagegen nach wie vor über die Oder und den Oder-Havel-Kanal selbst von Berlin aus erreichbar. Auf dem Gelände des Gleiwitzer Hafens befindet sich heute das Schlesische Logistikzentrum (Śląskie Centrum Logistyki), das die Lage an einer Wasserstraße und zugleich in der Nähe eines Bahn- und Autobahnknotens für die eigene Werbung nutzt.

Weniger Glück als Gleiwitz hatte der Hafen Cosel, der am westlichen Kanalende, unweit von dessen Mündung in die Oder liegt. An der Schwelle vom 20. zum 21. Jahrhundert hörte dieser einst zweitgrößte Binnenhafen Deutschlands praktisch auf zu existieren. Die vielen Krananlagen wurden demontiert und verschrottet. Mit der Schließung des Hafens wurde wohl auch das Schicksal des früher eleganten Hafenviertels besiegelt, das beinahe einen hanseatischen Hauch hatte. Von dem pulsierenden Leben einer Gegend, in der es mehrere Lagergebäude, Hotels und Restaurants gab, ist heute nicht mehr viel zu spüren. Dies kann sich wohl nur ändern, wenn der Sanierungsplan, auf den die Kandrzin-Coseler Stadtverwaltung große Hoffnungen setzt, realisiert wird.

Auf bessere Zeiten hofft auch der Betreiber des Gleiwitzer Kanals, die staatliche Gesellschaft Polnische Gewässer/Wody Polskie. In den vergangenen Jahren führte sie deshalb mit hohem Kostenaufwand eine umfassende Sanierung aller sechs Schleusen durch. Es handelte sich dabei um die ersten derart groß angelegten Arbeiten seit der Inbetriebnahme des Kanals. Man möchte für den Wirtschaftssektor konkurrenzfähiger sein. Trotz dieser Bemühungen sind derzeit zwischen Gleiwitz und Cosel häufiger Ausflugsschiffe zu sehen als Schiffe mit Kohle oder Holz.

Obwohl von dem älteren, dem Klodnitz-Kanal, nicht mehr viel übriggeblieben ist, hat er seit Kurzem in einem gewissen Sinne ein neues Leben. Denn auf seinem Gleiwitzer Abschnitt verläuft seit 2016 die DTŚ (Drogowa Trasa Średnicowa), eine vier- bis sechsspurige Straße, die das Verkehrsrückgrat des Oberschlesischen Industriegebiets bildet. Damit schloss sich der Kreis der Geschichte. Wo einst die »Wasser-Autobahn« des 19. Jahrhunderts entlangführte, verläuft heute eine wichtige Verkehrsachse der Region.

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KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa
Ausgabe № 1434 | März 202
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mit dem Schwerpunktthema: 
Handel: Zwischen Hanse und Big Business

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