Das Auswandererhaus in Gdingen/Gdynia. Eine Rezension von Markus Nowak
November 2022 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1432
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© Markus Nowak

Museen an historischen Orten vermitteln Wissen nicht nur durch den Inhalt der Ausstellung, sondern auch schon durch die Authentizität des Ortes. Etwa mittelalterliche Burgen und Schlösser oder auch Konzentrationslager. Und so passt es, dass sich auch das »Museum für Auswanderung« in Gdingen/Gdynia an einem Ort befindet, der nicht besser hätte gewählt sein können: im ehemaligen Seebahnhof. Es ist ein modernistischer Bau aus der Zwischenkriegszeit, als Polen im Zuge des Versailler Vertrages einen Zugang zur Ostsee erhielt und das Dorf Gdingen zu einer modernen Hafenstadt ausgebaut wurde. Für Tausende Auswanderinnen und Auswanderer war der 1933 eröffnete Seehafen die letzte Station vor der Überfahrt über den Atlantik in ein neues Leben – meist in den Fabriken und polnisch geprägten Stadtvierteln von Chicago – wie aus der Ausstellung zu erfahren ist.

Aber der Reihe nach: Das 2015 eröffnete Auswanderungsmuseum macht die erste große Emigrationswelle »aus polnischen Ländern«, wie der deutschsprachige Audioguide es darstellt, nach den unglücklich ausgegangenen Aufständen im 19. Jahrhundert aus. Polen war zwischen den Großmächten aufgeteilt worden und war als Staat von der Landkarte verschwunden. Teile der Elite sahen sich zur politisch motivierten Auswanderung gezwungen, die meisten zog es nach Paris. Joachim Lelewel, Cyprian Kamil Norwid, Fryderyk Chopin sind Namen, die in der Ausstellung zu finden sind.

In weiteren Räumen spielt die industrielle Revolution als Auswanderungsgrund eine Rolle. Zwischen 1815 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs verließen schätzungsweise sechzig Millionen Menschen Europa, um nach Übersee zu gehen, darunter 3,5 Millionen Polen. Dass Regionen wie das Ruhrgebiet oder Berlin Tausende Oberschlesier auf der Suche nach Arbeit anzogen, wird dabei nur am Rande erwähnt, die damalige Landflucht allerdings anhand der zentralpolnischen Industriestadt Lodsch/Łódź beschrieben. Exemplarisch – und damit dem Trend in der Museologie folgend, die allgemeine Geschichte mit Beispielen zu personalisieren – wird eine »typische« Ausreise anhand der Familie Sikora nachgezeichnet. 1901 wanderte sie aus Chmielnik in Kongresspolen über Bremen nach Amerika aus. Einem weiteren »Trend« folgt das Museum, indem die Ausstellung Geschichte »erlebbar« machen will: Da ist ein Schiffshorn zu hören, nachgebaute Waggons sind begehbar und berührungsempfindliche Bildschirme laden dazu ein, die Informationen weiter zu vertiefen.

Apropos Multimedia: Zum Museum gehört auch ein auf Englisch verfügbares vir­tuelles Archiv, in das man seine eigene Emigrationsgeschichte hochladen kann. Denn anders als viele andere museale Themen ist Migration zeitgenössisch. So werden die Zwangsmigrationsströme im Ersten und Zweiten Weltkrieg ebenso wie die politisch motivierte Auswanderung in der Zeit der Volksrepublik thematisiert, und auch die massenhafte Ausreise von Polinnen und Polen nach der EU-Osterweiterung 2004, mit der die Ausstellung endet. Dass Polen nun selbst auch Ziel von Einwanderung geworden ist – etwa der belarussischen Opposition im Sommer 2020 oder schon zuvor von Hunderttausenden ukrainischen Arbeitskräften – sollte dann eines Tages in der Ausstellung ergänzt werden.

Muzeum Emigracji w Gdyni
ul. Polska 1, 81-339 Gdingen/Gdynia, Polen
Di 10–20 Uhr, Mi bis Fr 10–18 Uhr

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Titelblatt: KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa | Ausgabe: Nr. 1432: November 2022Der Artikel erschien im Magazin
KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa
Ausgabe Nr. 1432 | November 2022

mit dem Schwerpunktthema:
Auswanderung: neues Leben in Übersee

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