In Sachen Kulturerbe und Diplomatie ist Irena Vaišvilaitė eine mehrfach ausgezeichnete Expertin. Sie erhielt unter anderem den päpstlichen Piusorden, den Orden Pro Merito Melitensi des Malteser-Ritterordens und den italienischen Verdienstorden. Vaišvilaitė studierte Geschichte in Moskau und Kirchengeschichte in Rom. Sie unterrichtete im Laufe ihrer Karriere an zahlreichen litauischen Hochschulen Kunstgeschichte, arbeitete aber auch als Redakteurin bei Radio Vatikan (heute Vatican News) und Radio Free Europe, bevor der litauische Staatschef Vladas Adamkus sie 2004 zu seiner Beraterin machte. Im letzten Jahrzehnt war Vaišvilaitė im diplomatischen Dienst, darunter Botschafterin Litauens am Heiligen Stuhl sowie Sonderbotschafterin bei der UNESCO. Im Interview mit Markus Nowak sprach die heutige Vorsitzende des Thomas-Mann-Kulturzentrums in Nidden/Nida über Memel/Klaipėda und das Memelland.
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(c) Markus Nowak

Frau Vaišvilaitė, Sie waren litauische Botschafterin beim Heiligen Stuhl und sind nun im Kuratorium des Thomas-Mann-Kulturzentrums. Gibt es Parallelen zwischen beiden Posten?

Der Vatikan hat großes Interesse an internationalen und bilateralen Beziehungen und ist multinational, also auch in die Arbeit der Vereinten Nationen eingebunden. Der Vatikan ist nie nur an einem Thema interessiert. Vielleicht sind das die Parallelen. Denn auch das Thomas-Mann-Kulturzentrum ist vielschichtig. Den wichtigsten Akzent seiner Arbeit setzt aber Thomas Mann mit seinen Werten. Seine Beziehung zu diesem Ort ist eher kurz, weshalb er nur eine Symbolfigur ist. Er war ein internationaler Autor, ein großer Schriftsteller mit einer großen kulturellen Vision und er baute hier sein Sommerhaus. Nach schweren Beschädigungen im Zweiten Weltkrieg wurde es wieder aufgebaut und rekonstruiert. Anfangs war es nur ein Museum, das während der Sowjetzeit nur wenigen bekannt war.

Die gesamte Kurische Nehrung war damals nur sehr eingeschränkt zugänglich …

Ja, sie war dadurch eine weit entfernte und unterentwickelte Region der Litauischen Sowjetrepublik, aber es gab durchaus etwas, das man den Ausländern zeigen konnte. Als das Zentrum auf Initiative von Kulturschaffenden gegründet wurde, gab es mehrere Ziele. Etwa, zur Entwicklung der Region beizutragen. Durch die Sowjetzeit hat sich das sehr verändert, die Mehrheit der Bevölkerung ging verloren und so auch ihr »Gedächtnis«. Anfangs konzen­trierte sich unsere Aktivität hauptsächlich auf die Kurische Nehrung, aber in letzter Zeit versuchen wir, die gesamte Region zu erreichen. Etwa mit dem Thomas-Mann-Festival.

Einer jährlichen kulturellen Woche mit Ausstellungen, Musik und Lesungen jeden Juli.

Ja. Wir wollen mit diesem Festival das ideelle Vermächtnis von Thomas Mann bewahren, und das, was er repräsentiert. Er war für uns ein Vertreter der europäischen Werte. Das Publikum ist entsprechend international. Zuerst kam eine Generation an Besuchern, denen diese Region sehr viel bedeutete, die aus dem Memelland kamen. Es waren nostalgische Touristinnen und Touristen. Bis heute ist Deutsch die zweite Sprache des Festivals und es gibt auch eine deutsche Kulturpräsenz.
Während der Pandemie in den letzten zwei Jahren kamen viel weniger Deutsche und so gibt es einen Generationswechsel: Die zweite wichtige Gruppe sind nun Litauerinnen und Litauer, und die dritte, die bisher sehr sichtbar war, Russinnen und Russen. Nun ist der Grenzübergang nach Russland allerdings dicht.

Wer ist Thomas Mann für die Litauer? Immerhin steht sein Sommerhaus in Litauen …

Die meisten Litauer glauben jedenfalls nicht, dass Thomas Mann Litauer war. Das möchte ich hervorheben, weil kleine Nationen manchmal versuchen, sich so viel wie möglich anzueignen, für ihre eigene Sichtbarkeit. Manche Litauer denken beispielsweise, dass Kant irgendeine Verbindung zum »Litauischen« hatte. Es gibt eine Denkschule in Litauen, die diese Meinung vertritt. Ein Teil von Preußen war ja litauisch besiedelt. Das erste litauische Buch stammte aus Tilsit/Sowetsk, genauer gesagt von einem Pastor aus Ragnit/Neman. Martynas Mažvydas (Martinus Masvidius) war der erste, der Martin Luthers Kleinen Katechismus ins Litauische übersetzte. Und auch die Universität von Königsberg war ein wichtiges kulturelles und religiöses Zentrum für Litauen. Wir nennen es »Kleinlitauen«. Die Bevölkerung kann man als »baltisch« bezeichnen, sie war litauisch und preußisch zugleich – ethnisch eine Mischung aus Ostpreußen, Germanen und Balten.

Sind sich die Litauer im heutigen Memelland des deutschen Kulturerbes bewusst?

Dieses Erbe war natürlich nicht einfach. Die Region war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts umkämpft. Es gab 1939 ein Ultimatum der Nationalsozialisten an Litauen, das Memelland an Deutschland abzutreten. Ohne Rückendeckung seiner Alliierten war Litauen gezwungen, dieser Forderung nachzukommen. Es gab dadurch zunächst eine Vertreibung der litauischen Bevölkerung, später umgekehrt der Deutschen.

Heutzutage nimmt man aber die deutsche Vergangenheit, die deutsche Kultur und das deutsche Engagement in dieser Region nicht mehr als Bedrohung wahr, sondern umgekehrt: als Teil der Identität. Selbst in einem kleinen Land kann man verschiedene lokale Identitäten schätzen. Und zu dieser lokalen Identität gehört das deutsche Erbe in hohem Maße. Jetzt sieht die litauische Bevölkerung diese Region bereits als nicht mehr konfliktträchtig an. Dreißig Jahre nach der Unabhängigkeit geht es den Litauerinnen und Litauern vor allem darum, sich um das zu kümmern, was da ist. Wir haben hier eine interessante und wertvolle Infrastruktur, zum Beispiel Wasserkanäle und andere Dinge, die rekonstruiert werden müssen. Wir nennen die Region Klaipedos kraštas, also Memelland, und mehr und mehr ist die Erhaltung in den Blickpunkt gerückt und damit auch eine Art Bedauern über das, was verloren gegangen ist. In der Region setzt sich eine Identität durch, die offener ist gegenüber dem deutschen Erbe, es wird nicht mehr als bedrohlich empfunden.

Gibt es eine litauische Identität des Memellandes?

Die litauische Identität des Memellandes ist eigentlich noch im Entstehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieses Gebiet von nicht-ethnischen Litauern kolonisiert. Memel zum Beispiel wurde größtenteils von Russophonen, also Russischsprachigen, besiedelt. Russisch war die Lingua franca und Memel war bis in die 1980er Jahre eine russischsprachige Stadt.

Erst seit Anfang der 1990er Jahre fand in ihr aufgrund politischer Veränderungen und der litauischen Verwaltung eine Litauisierung statt.Klaipėda ist heute eine litauische Stadt, auch wenn sie als Hafenstadt sehr international ist. Die Identität ist eine andere als die anderer litauischer Orte. Da ist die sehr kleine Altstadt, die teilweise wiederaufgebaut wurde und sich deutlich vom Rest Litauens abhebt. Da gibt es Konflikte und Diskussionen über Gebäude, die den Krieg überlebt haben, und darüber, was man mit ihnen machen soll. Das betrifft den Wiederaufbau der Memel-Burg und die Idee, die Jakobskirche wieder zu errichten.

Man ist verantwortlich für das, was man erbt. Denn wo beginnt sonst Erinnerung? Erst mit der »Befreiung« durch die Sowjetarmee 1944?

Nein, natürlich nicht. Das deutsche Erbe anzuerkennen bedeutet auch, dass man mit der Geschichte seinen Frieden macht.

Der Fluss Memel war für Deutschland sehr wichtig, er taucht sogar in der früher gesungenen ersten Strophe der deutschen Nationalhymne auf. Welche Bedeutung hat der Fluss für Litauen?

Der Fluss heißt Nemunas auf Litauisch und wird als der Vater aller litauischen Flüsse bezeichnet. Fast alle Flüsse Litauens fließen hier zusammen. Früher war seine Bedeutung als kommerzielle Wasserstraße sehr groß, aber jetzt nicht mehr. Immerhin fahren jetzt mehr und mehr Ausflugsboote auf dem Fluss. Litauen hat da viel aus europäischen Fonds investiert.

Der Fluss war einst eine Grenze zwischen den Ordensrittern und Litauern und deshalb »Kriegsgewässer« – auf beiden Seiten wurden Burgen errichtet. Niemand interessiert sich im Moment mehr für die Geschichte der Deutschordensritter als die Litauer. Ich habe vor einigen Jahren mit einer Gruppe von Historikern der Universität Vilnius eine Reise in diese Gegend unternommen, wo wir uns das ostpreußische Erbe angesehen haben. Für unsere kulturelle Entwicklung, also Architektur, Literatur, Religion, ist auch der heutzutage in Russland liegende Teil wichtig.

Aber auch heute ist der Fluss eine Grenze …

Ja und das Problem ist, dass beide Länder große Schwierigkeiten haben, zusammenzuarbeiten. Durch Litauen fließt der längste Abschnitt. Wir haben ökologische Probleme, etwa Trockenheit. In den letzten Jahren war der Fluss teilweise sehr flach, weil es an Wasser mangelte. In Belarus gibt es große Wasserreservoirs, die von der Memel gespeist werden. Belarus weigerte sich, diese zu öffnen und dem Fluss ein wenig Wasser zuzuführen. Die Memelmündung liegt im Kurischen Haff und dieses ist ja auch geteilt, mit dem Oblast Kaliningrad. Der Fluss ist sehr verschmutzt und die Litauer haben einen beschämenden Anteil daran. Erst kürzlich gab es eine Strafanzeige gegen ein Unternehmen, das heimlich Abwässer in den Golf geleitet hat. Aber auch in Kaliningrad werden viele Verunreinigungen verursacht und die können nicht kontrolliert werden. Das ist ein sehr großes Problem.

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Titelblatt: KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa | Ausgabe: Nr. 1431: Juli/August 2022Der Artikel erschien im Magazin
KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa
Ausgabe Nr 1431 | September/Oktober 2022

mit dem Schwerpunktthema:
Stadt. Land. Fluss. Memel(Land)

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