Unterschiedliche Kulturen und Sprachen webten sich ein in die Geschichte der Ukraine – die einzelnen Fäden zu entwirren, hat sich Ira Peter als Stadtschreiberin in Odessa/Odesa zur Aufgabe gemacht. Besonders das Erbe der Juden und Deutschen, das allgegenwärtig und doch oft verborgen diesem Land inne ist, berührt sie. Beide Gruppen prägten die Region über Jahrhunderte hinweg, beide erlitten während des Zweiten Weltkrieges und in der Sowjetzeit unfassbares Leid – in Bezug auf den Holocaust an Jüdinnen und Juden jegliche Vorstellungskraft sprengend. Ein Essay von Ira Peter mit Fotografien der Autorin
November/Dezember 2021 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1426
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Der jüdische Friedhof in Czernowitz wurde 1866 errichtet und ist mit ca. 50.000 Gräbern einer der größten jüdischen Gottesäcker in Europa.

»Die Reise nach Odessa hat mich erschüttert«, sagt Noam Partom. »Wir verließen Czernowitz/Tschernivzi und fuhren vorbei an Chmelnyzkyj, Winnyzja – alles Namen, die ich seit der Grundschule kenne, weil dort Massaker an Juden verübt worden sind. Plötzlich zu begreifen, dass ein Großteil meines Volkes genau hier gestorben ist, machte mich sehr betroffen.« Wenn sie mit ihren Händen das Gesagte unterstreicht, klimpert der Schmuck an ihren Handgelenken. Er gibt ihr zusammen mit den vielen Halsketten, großen Ohrringen und dem leuchtend gelben Jackett ein für Odessa ungewöhnliches Aussehen. Partom ist augenscheinlich nicht von hier und fügt sich gleichzeitig gut ein in die bunte Einrichtung des »Gogol Mogol«, meines Lieblingsrestaurants im historischen Zentrum der Stadt am Schwarzen Meer.

Für gewöhnlich lebt sie in Israel, ist dort Dichterin, Performerin und Dozentin für kreatives Schreiben. Zwei Tage zuvor habe ich Noam Partom in der Synagoge in Czernowitz einige ihrer Gedichte auf Hebräisch vorlesen und singen hören. Ich verstand kein Wort, hatte aber immer wieder Tränen in den Augen. Nach dem »Meridian Czernowitz Lyrikfestival«, das die 35-Jährige zum ersten Mal in die Ukraine führte, setzte sie ihre Reise nach Odessa fort. Jetzt erzählt sie mir ihre Familiengeschichte, und ich begreife, warum ich zwei Tage zuvor bereits den Schmerz darin gefühlt hatte.

Noam Partom gehört in Israel zur sogenannten dritten Generation. Deren Großeltern flüchteten vor den Nationalsozialisten aus Mittel- und Osteuropa nach Israel. »Überall auf der Welt hat die Enkelgeneration von Einwanderern ein Bewusstsein dafür, dass sie Einwanderer sind. Aber niemand von uns Jungen in Israel hat das«, sagt Partom. »Man spricht viel über den Holocaust in Israel, aber alle Erzählungen enden schnell bei Aussagen wie: Aber jetzt haben wir unser neues Land.« Das sei typisch für das Konzept des Zionismus und habe aus ihrer Sicht viel mit Verdrängung zu tun. »Dabei wurde das Leben unserer Großeltern als Nation plötzlich abgeschnitten und mit ihm ein riesiges kulturelles Erbe in Europa und auch in der heutigen Ukraine.«

Nur einen Tag nach dem Gespräch mit Noam Partom lerne ich Barbara Oster kennen. Auch ihrer Familie widerfuhr eine Zäsur in ihrer Geschichte, gefolgt von einer Periode des Schweigens. Und auch sie ist zum ersten Mal in Odessa. Ich begleite sie nach Kandel, in eine ehemalige deutsche Kolonie südlich der Hafenstadt. »In den fünfziger Jahren musste mein Vater im sowjetischen Usbekistan ein Dokument unterschreiben, dass er nie zurück nach Kandel, in sein Heimatdorf, fahren wird«, erklärt mir Barbara Oster. Jetzt steht die Siebzigjährige an diesem einst verbotenen Ort, in Limanskoe, wie Kandel seit über siebzig Jahren heißt. Das Grab ihrer Großmutter sucht sie vergebens. Nur ein kürzlich errichteter Gedenkstein verrät die einstige Bestimmung dieses Feldes als Friedhof. Auf ihm ist auch auf Deutsch zu lesen, dass hier bis 1944 fast viertausend Deutsche gelebt haben. Darunter die Eltern, Großeltern und zahlreiche Verwandte von Barbara Oster, deren Vorfahren Anfang des 19. Jahrhunderts aus der Nähe eines anderen Kandel eingewandert waren, nämlich aus Kandel in Rheinland-Pfalz.

KK 1426 08 13 Peter Odessa Kirche BEITRAGSBILDKirche in Neu-Karlsruhe/Schljachoboe1941 geriet die deutsche Kolonie an der heutigen Grenze zwischen der Ukraine und der Republik Moldau/Transnistrien unter rumänisch-deutsche Besatzung. Als die Wehrmacht drei Jahre später Richtung Westen abzog, nahm sie die Nachkommen der Siedler aus Südwestdeutschland mit ins besetzte Polen.

»Meine Mutter lief buchstäblich zu Fuß in den Warthegau, denn auf der Fuhre konnten nur ältere Menschen und Kinder sitzen«, erzählt Barbara Oster, als wir wieder in Odessa sind. Eines der zwei Kinder starb unterwegs an einer Durchfallerkrankung. Nach Ende des Krieges kam Barbara Osters Mutter in ein Zwangsarbeitslager für rückdeportierte Russlanddeutsche im Norden der Sowjetunion. Zeitgleich geriet ihr Ehemann, der 1943 in die Wehrmacht eingezogen worden war, in sowjetische Kriegsgefangenschaft in Usbeki­stan. »Als ich in den 1970ern die Papiere für unsere Ausreise nach Deutschland vorbereitet habe, habe ich zufällig Passbilder aus der Nachkriegszeit gesehen. Sie hatten alle so runde Gesichter. Da sagte ich zu meiner Mutter: Na die waren aber dick! ›Ja, dick vor Hunger, der uns hat aufschwellen lassen‹, sagte sie. ›Jeden Tag haben sie Leichen rausgetragen aus den eiskalten Baracken‹«, gibt Barbara Oster die Worte ihrer Mutter wieder. »Mein ältester Bruder verhungerte in dieser Zeit. Aber so war das damals, nach dem Krieg hatten ja auch die Russen nichts zu essen«, fügt sie hinzu.

Etwa zur selben Zeit verhungerte 2 000 Kilometer südlich von diesem Lager entfernt ein anderer Junge. »Es war 1947 und großer Hunger herrschte«, erzählt mir einige Wochen zuvor Roman Schwarzman. Er hat mich in sein Büro im Zentrum von Odessa eingeladen. Zwischen Aktenordnern, Büchern und Auszeichnungen mit seinem Namen darauf, mal auf Russisch, mal auf Deutsch und auf Hebräisch, trinken wir Kaffee. Auch mit 85 Jahren ist Roman Schwarzman noch fast jeden Tag im Büro, erzählt er zu Beginn unseres Gesprächs. Aus gutem Grund, wie ich schnell feststelle: Allein während unserer gemeinsamen eineinhalb Stunden klingelt drei Mal das Telefon und zwei Frauen kommen in wichtiger Angelegenheit herein; ich muss das Aufnahmegerät kurz stoppen. Roman Schwarzman hat viele Ämter, auch dieses: Vorsitzender des Verbands der Ghetto- und KZ-Überlebenden in Odessa. Der Junge, der an Hunger starb, war der Sohn seiner Schwester. Sie gebar ihn im Ghetto Berschad, einem der größten Lager der Südukraine, in dem über 25 000 Juden, überwiegend aus Bessarabien und der Bukowina, starben. Die Tragödie seiner Schwester erwähnt Schwarzman nur beiläufig: »Sie putzte in der Kaserne, in der die Rumänen lebten. Einmal kam sie für ein paar Tage nicht nach Hause. Als sie wiederkam, war sie in einem schrecklichen Zustand. Dann hat sie diesen Jungen geboren, der doch sterben musste.«

Roman Schwarzman hat überlebt. Im März 1944 wurde er als Siebenjähriger aus dem Ghetto in Berschad befreit, zog später nach Odessa. Seit über dreißig Jahren setzt er sich dafür ein, dass der Holocaust nicht vergessen und der Toten gedacht wird. »In der unabhängigen Ukraine wurde es plötzlich möglich, über Juden und den Holocaust zu sprechen. Themen, die es in der Sowjetunion praktisch nicht gegeben hatte, weder die Juden noch den Holocaust«, sagt er. Allein sein Verband in Odessa hat seit 1991 mehr als 45 Erinnerungsorte geschaffen. »Uns erreichen immer wieder Hinweise, auch kürzlich wieder, als in der Nähe von Odessa ein Massengrab entdeckt wurde.

Vieles müsse noch aufgearbeitet werden, denn in der Sowjetunion wurden laut offizieller Geschichtsschreibung nicht Juden ermordet, sondern Sowjetbürger. Gleichzeitig setzte sich nach dem »Großen Vaterländischen Krieg« ein Antisemitismus fort, der in Wellen bereits zur Zarenzeit Opfer gefordert hatte. »Anhand meiner Biografie erzähle ich exemplarisch die Geschichte eines Juden in der Sowjetunion«, erklärt Schwarzman. »In der Sowjetunion sagte man: Du bist nicht durch den fünften Paragrafen gekommen.« An fünfter Stelle stand in sowjetischen Pässen die Nationalität und Jüdisch galt als solche. »Meine Tochter durfte nicht Medizin studieren, weil sie das Falsche in dieser fünften Zeile stehen hatte. Mein Bruder ließ sich von seiner Ehefrau scheiden, damit der gemeinsame Sohn den ukrainischen Nachnamen der Mutter bekommt und keine Nachteile hat. In der Sowjetunion schämten wir uns für unsere Namen«, sagt er.

Barbara Oster stand zu ihrem Nachnamen. Doch für viele Deutsche in der Sowjetunion war der ihre ein Hindernis. Auch sie hatten Nachteile durch den »fünften Paragrafen«, wenn in ihrem Pass »Nemez« oder »Nemka«, also Deutsche oder Deutscher, stand. Grund genug, um in der Sowjetunion von der Hochschulbildung oder einer freien Wohnortwahl ausgeschlossen zu werden. Deutsch sein bedeutete »Feind im eigenen Land« zu sein, und das über den Zweiten Weltkrieg hinaus. »Ich kann mich noch an den Stacheldraht erinnern, der das erste Haus umgab, in dem wir lebten. Erst als ich sechs war, sind wir da weggezogen und haben ein eigenes Zimmer in einer Baracke bekommen«, erzählt mir Barbara Oster. Im selben Jahr, 1956, traf sie auch zum ersten Mal ihren Vater.

Der hatte 1949 ihre Mutter und Großmutter mit Hilfe eines »freundlichen Kommandanten« nach Usbekistan bringen lassen. Dort kam Barbara Oster 1950 zur Welt. Sie war erst einige Monate alt, da erfasste eine neue Welle an Repressionen die Deutschen in der Sowjetunion. »Sie hatten die Deutschen unter Folter Geständnisse unterschreiben lassen, dass sie alle Kriegsverbrecher, Nazis waren. Nächtelang hat man deutsche Männer ins Wasser gestellt, meinem Vater wurden unzählige Rippen und das Nasenbein gebrochen. Er hat nichts unterschrieben. Trotzdem wurde er zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Die 18 jungen Deutschen, die gestanden hatten, wurden direkt erschossen«, sagt sie. »Nach den Jahren in Nordrussland standen meine Mama, meine Oma und ich wieder allein da. Meiner Mutter gab man als Deutscher keine Arbeit. Und so mussten wir irgendwie leben«, sagt sie.

Viele Details aus dieser Zeit erfuhr Barbara Oster erst, nachdem ihre Eltern und ihre junge Familie in den siebziger Jahren nach Deutschland ausgewandert waren. »Es wurde nicht viel gesprochen. Sie hatten Angst. Wenn deutsche Freunde uns besuchten, hat mein Vater gern auf Deutsch gesungen, da ist meine Mutter vor Angst immer fast gestorben.« Nur wenige Menschen deutscher Herkunft durften damals die Länder der Sowjet­union verlassen. Erst mit der neuen Westpolitik und der Perestroika änderte sich ihre Situation. Seit Ende der 1980er emi­grierten etwa zwei Millionen Russlanddeutsche aus der zerfallenden Sowjetunion.

Zeitgleich wanderten auch etwa eine Million sowjetischer Juden nach Israel und Deutschland aus. »Heute geht kaum noch einer«, sagt Schwarzman. Es gebe nur noch wenige Juden in der Ukraine, und diejenigen, die hier lebten, könnten das in Ruhe tun. Das Land kenne zwar antisemitische Tendenzen, erzählt Schwarzman, es werden etwa Denkmäler zerstört oder Synagogen beschmiert. Aber ein staatlicher Antisemitismus, wie er in der Sowjetunion geherrscht hatte, existiere nicht mehr.

Interessant finde ich, was Noam Partom mir einige Wochen nach diesem Gespräch über die nach Israel Eingewanderten erzählt: »Die vielen Juden aus der ehemaligen Sowjetunion änderten in den Neunzigerjahren die soziale Dynamik Israels.« Sie waren nicht willkommen und wurden abschätzig »Russen« genannt. »Als ich die Tage Bilder aus Czernowitz postete, schrieben mir plötzlich viele Freunde aus Israel, dass sie dort geboren wurden. Jetzt erst, wo ich in der Ukraine bin, verstehe ich, dass das keine Russen waren, sondern Ukrainer mit jüdischen Wurzeln«, sagt Partom. »Es ist wie eine Doppelsünde gegenüber diesen Menschen.« Ich erkenne eine Parallele zwischen jüdischer und russlanddeutscher Nachkriegsgeschichte: Auch Russlanddeutsche wurden nach ihrer Umsiedlung nach Deutschland meist als eine Gruppe von Russen wahrgenommen – ganz gleich aus welcher Sowjetrepublik sie stammten und ob sie deutsche Wurzeln hatten.

Und ebenso wie Noam Partom fühle ich als Russlanddeutsche, dass auch meine Generation ihren Frieden mit der Geschichte noch sucht. »Niemand, der in Israel lebt, ist wirklich von dort«, sagt sie am Ende unserer Unterhaltung an diesem Septemberabend in Odessa. »Dieses Land ist nicht wirklich unser Zuhause. Ich wurde in Tel Aviv geboren, bin da aufgewachsen. Aber was die Mentalität betrifft, fühle ich mich in der Ukraine mehr zu Hause. Das ist verrückt.« Die Verbundenheit mit dem Land, von dem ihre Familie getrennt wurde, ist auch mir als Enkeltochter deportierter Ukrainedeutscher sehr vertraut. Gleichzeitig muss die Leere, die der Holocaust in das Leben ihrer Familie und Millionen anderer gerissen hat, weitaus schmerzvoller sein. Allein in Odessa wurden 1941 innerhalb eines Tages 25 000 Juden bei lebendigem Leib verbrannt. Insgesamt verloren über eine Million Juden in der Ukraine ihr Leben. Die Reise nach Odessa hat auch mich erschüttert.

Ira Peter war Stadtschreiberin in Odessa 2021
Die Journalistin berichtete von Juni bis Oktober 2021 für fünf Monate aus der ukrainischen Schwarzmeermetropole

www.stadtschreiberin-odessa.de
Zum Weblog der Stadtschreiberin Odessa 2021

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