Im Gepäck der etwa 2,5 Millionen der in den letzten rund dreißig Jahren in die Bundesrepublik eingewanderten (Spät-)Aussiedler aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion befand sich ein großes immaterielles Erbe. Dieses war nicht auf alle gleichermaßen verteilt, bei dem einen mehr, bei der anderen weniger spürbar und ist immer weniger geworden. Es handelt sich dabei um die mitgebrachten »russlanddeutschen« Dialekte. Was sind das für Dialekte und wer spricht sie noch? Von Katharina Dück
November/Dezember 2021 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1426
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Die ehemalige Stalinstraße in Elisabethtal/Asureti wurde 2019 in Schwabenstraße umbenannt. © Katharina Dück

Wie diese Dialekte überhaupt erst ins »Gepäck« kamen, darüber könnten die Vorfahren der Auswandererinnen und Auswanderer berichten, die einst aus unterschiedlichsten Beweggründen und in mehreren historischen Phasen »aus deutschen Landen« wie Baden, Württemberg, der Pfalz, Hessen, Bayern sowie aus Mittel- und Norddeutschland aussiedelten und ihre Mundarten mit nach Russland nahmen. Folglich befinden sich unter den russlanddeutschen Dialekten im Prinzip auch alle Großtypen der heutigen deutschen Dialekte: Da ist mit dem Plautdietschen ein niederdeutscher Dialekt vertreten, mit dem Pfälzischen, Hessischen oder Wolhyniendeutschen gibt es mitteldeutsche Dialekte und mit Schwäbisch, Bairisch oder Südfränkisch sind auch oberdeutsche Dialekte darunter zu finden und noch etliche weitere.

Gleichzeitig unterscheiden sich die russlanddeutschen von den binnendeutschen Dialekten recht deutlich aufgrund ihrer lang andauernden separaten Entwicklung ohne den Einfluss des Standarddeutschen, da sie über einige Jahrhunderte hinweg kaum neuen Input daraus erhielten. Dadurch wirken die russlanddeutschen Dialekte einerseits wie »konserviert«, weil sie Wörter und Strukturen aufweisen, die hier seit über hundert Jahren nicht mehr gebräuchlich sind, wie etwa das schwäbische Wort Zweel für ›Handtuch‹. Andererseits haben die Umsiedlungsphasen für in-tensiven Sprachkontakt beispielsweise mit dem Russischen und auch für Sprachmischungen in-nerhalb von Dialekten geführt, wie das folgende Beispiel eines wolgadeutschen Sprechers zeigt:

(1) No un da woer ich uf de balnitza un hun mit säll wratsch gsproche.

Nun und da war ich im Krankenhaus und habe mit jenem Arzt gesprochen.

Der Sprecher ist Jahrgang 1931 und damit Angehöriger der ersten Generation, das heißt in Bezug auf die Datenerhebung der Verfasserin: geboren in einer deutschen Kolonie der Wolgarepublik. Er integriert die russischen Wörter balnitza (Krankenhaus) und wratsch (Arzt) ganz selbstverständlich in seine Rede mit Hessisch als Hauptvarietät. In dieser Generation werden russische Wörter in den Redefluss meist nach den Regeln der deutschen Grammatik eingebaut, was den Sprecherinnen und Sprechern allerdings selten bewusst ist. Das Wort gsproche zeigt, dass hier bereits Sprachmischungen mit einem anderen Dialekt oder Regiolekt stattgefunden haben, da es nicht typisch für das Hessische ist.

Mit ihren Kindern hat diese Generation aufgrund von Deportationen aus den deutschen Gebieten und der sowjetischen Sprachrepressionspolitik zunächst nur noch im häuslich-privaten Be-reich in ihrem Dialekt gesprochen. Doch wurde das Russische als Umgebungssprache sowie im Rahmen der Schul- und Berufsbildung immer dominanter, so dass die folgende Generation (der etwa 1943 bis 1974 Geborenen) immer häufiger Russisch sprach. Das wirkte sich auf die Kommunikation auch in der Familie aus:

(2) Also Aussprache is nicht mehr so, aber Verstehen schon. Zwischendurch versuche ich mit Mama und Papa Plattdeutsch zu sprechen, wenn keiner dabei ist. Oder mit meiner Freundin im Norden. […] Es klappt auch nicht mehr so richtig. Ich verstehe alles, aber beim Sprechen habe ich Schwierigkeiten, weil man das nicht mehr gebraucht. […] Also mit den Eltern und Großeltern haben wir schon immer Plattdeutsch gesprochen. Mit meinen Geschwistern zuerst auch Plattdeutsch und irgendwann Russisch, als alle zur Schule gingen. Hochdeutsch haben wir erst in Deutschland untereinander angefangen zu sprechen.

Diese Sprecherin der zweiten Generation aus einer Familie mit plautdietscher Mundart schildert durchaus verbreitete Phänomene der Mehrsprachigkeit in russlanddeutschen Familien: Die Angehörigen dieser Generation wurden durch ihre Eltern zunächst meist dialektal sozialisiert, das Russische wurde jedoch immer mehr zur Primärsprache. Dadurch, dass der Dialekt der Eltern immer seltener abgerufen wurde, wurden die Kenntnisse darin irgendwann nur noch passiv beherrscht. Der Dialekt wurde mit der Zeit fast ausschließlich auf die Kommunikation mit den Eltern beschränkt oder sogar ganz aufgegeben, wenn die Eltern dem Druck der Umgebungssprache Russisch – auch sie kamen in meist ausschließlich russischsprachige Arbeitsverhältnisse – nachgegeben hatten und Russisch zur Familiensprache wurde. So setzte sich in vielen Familien nicht nur Russisch als Primärsprache durch, auch wurde diese an die nächste, nämlich dritte Generation (der nach 1975 Geborenen) als Erstsprache weitergegeben. Die russlanddeutsche Mundart wurde immer mehr ins Private als Familiensprache verdrängt. Es gab aber auch Familien, die sich der Sprachrepressionspolitik in der ehemaligen Sowjetunion widersetzten und die russlanddeutschen Dialekte am häuslichen Küchentisch beibehielten.

Gleichzeitig konnten Angehörige der zweiten Generation an russischen Schulen auch das Hochdeutsche als Fremdsprache (zum Teil als Muttersprache) erlernen. Diese Kenntnisse konnten nach der Umsiedlung in die Bundesrepublik Deutschland in Sprachkursen verbessert werden, wodurch eine sogenannte Verhochdeutschungs- und Anpassungswelle durchgemacht wurde. Dies äußerte sich beispielsweise darin, dass diese Generation der Aussiedler in der Öffentlichkeit weder den russlanddeutschen Dialekt noch Russisch sprach, sondern das Hochdeutsche gebrauchte, das nicht selten regional oder dialektal gefärbt war und z. T. russischsprachige Elemente enthielt. Auch innerhalb der Familie wurde vermehrt Hochdeutsch etabliert. Das betrifft vor allem die Aussiedler der ersten Einwanderungsphase in die Bundesrepublik bis 1993. Für Spätaussiedler der folgenden Einwanderungsphase (ab etwa 1994) spielte in der Familie häufig die russische Sprache eine wesentliche Rolle.

KK 1426 26 29 Duck russlanddeutsche Mundarten Erhebungssituation BEITRAGDie Autorin bei der Erhebung ihrer Forschung im Gespräch mit Aussiedlerinnen. © Katharina Dück

Folglich wuchs die dritte Generation entweder mit Hochdeutsch oder Russisch, in deutsch-russischer Zweisprachigkeit oder einer Gemengelage eines »russlanddeutschen Hochdeutsch« auf, von »russlanddeutsch-dialektalen« sowie russischsprachigen Merkmalen durchsetzt. Letzteres wird von Sprechern z. T. als »Mischmasch« oder »Aussiedlerisch« bezeichnet. Die Mundarten der Eltern und vor allem der Großeltern werden im Allgemeinen nicht mehr beherrscht, wie die beiden folgenden Beispiele zeigen:

(3) In Russland, da haben wir ganz viel Plautdietsch gesprochen. Fast nur. Aber hier sprechen wir eigentlich nur noch Hochdeutsch. […] Mit den Kindern sprechen wir nur Hochdeutsch. Ein paar Wörter in Platt bekommen sie von den Großeltern schon noch mit, aber sie sprechen nur Hochdeutsch.

(4) Eigentlich haben meine Eltern mit mir Deutsch gesprochen. Deutsch … Deutsch-Schwäbisch in ihrer Form, wie sie’s … ja, Russisch/Deutsch/Schwäbisch. Also ich glaub so ’ne Mischung. Also sagen wir’s mal so: Die haben gerne deutsche Verben auf Russisch dekliniert [sic], also spazirivalat oder sowas.

Diese beiden Sprecherinnen wuchsen – wie für ihre dritte Generation charakteristisch – in einer zweisprachigen, wenn nicht sogar mehrsprachigen Umgebung auf. Je nach familiären Umständen wurden sowohl russische und deutsche Sprachkenntnisse erworben als auch ein russlanddeutscher Dialekt durch die Großeltern zumindest passiv erlernt. Gleichzeitig gibt es in der zumeist zweisprachigen Kommunikationsgemeinschaft der Deutschen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion auch solche, für die Einsprachigkeit der Normalfall ist, was nicht selten bedauert wird, wie folgende Sprecherin der dritten Generation im Gespräch ihrer Mutter gegenüber äußert:

(5) Ja, aber ich gebe dir auch einen Rat: Vielleicht sprichst du mit mir doch mal Dialekt, weil ihr die letzte Generation seid, wo das noch spricht. Wir sprechen das nicht mehr.

Einen russlanddeutschen Dialekt beherrschen viele der dritten Generation schon nicht mehr. Die Vitalität der russlanddeutschen Dialekte ist rückläufig. Und doch gibt es noch Hoffnung: Zuweilen – nicht oft, aber oft genug – stößt man auf Sprecherinnen und Sprecher der dritten Generation, die im Gespräch nicht einmal tief kramen müssen, um aus ihrem Gepäck plötzlich das Schwäbisch ihrer Großeltern aus dem Kaukasus hervorzuholen und es sogar als Muttersprache zu bezeichnen:

(6) Es fällt auf erschtmal, dass hier in der Gegend – au wenn da schwäbisch gschwätzt wird – dass es annerscht Schwäbisch isch als des meiner Großeltre als mei eigentliche Muttersprach.

Schlussendlich ist die Sprachwahl im Alltag von der Kontaktintensität mit dem direkten Umfeld und der Empfängergesellschaft geprägt: Je enger diese aufgrund eines binnendeutschen Ehepartners, binnendeutscher Freunde, Arbeitskollegen und so weiter ist, desto mehr dominiert Hochdeutsch oder regionaldeutsch orientierte Einsprachigkeit. Gleichzeitig gilt: Je intensiver der Kontakt und die Pflege einer russlanddeutschen Varietät innerhalb der Familie betrieben wird – etwa in der Kommunikation mit den Großeltern –, desto eher bleibt diese erhalten.

 

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