Lettlands Ostseeküste ist laaang, und an den meisten Abschnitten ist kaum etwas los. Nicht so in Riga-Strand/Jūrmala. Imposante Villen, weiße Sandstrände und lebhafter Trubel – das beliebte Strandbad vor den Toren Rigas ist die Sommerhauptstadt des baltischen Landes. Dort genoss vor 150 Jahren schon die deutschbaltische Oberschicht glanzvoll ihre Ferien. Von Alexander Welscher
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530 Kilometer lang ist die Küste Lettlands, dennoch ist Riga-Strand der beliebteste Badeab-schnitt. © Tourismusbehörde Jūrmala

 

Der helle, sonnenwarme Sand kitzelt unter den Füßen, das stahlblaue Wasser glitzert in der Abendsonne und die Möwen lassen sich im Wind treiben. Ansonsten: Stille. Einfach nur Stille. Allein das sanfte Schwappen der Wellen ist zu hören. Ostsee pur in Lettland. Wo? Natürlich am Meeresrand – auf Lettisch: Jūrmala.

Gesäumt von Kiefernwäldern und sanftwelligen Dünen zieht sich der gut dreißig Kilometer lange, feinkörnig-quarzige Sandstrand von Jūrmala schier endlos hin. Dies machte das nur eine halbe Stunde westlich von der Metropole Riga gelegene Ostseebad schon im 19.Jahrhundert zur Sommerhauptstadt des russischen Zarenreichs. Noch heute liegt dieser Glanz als ein Hauch von Nostalgie über dem Badeort. Einst die noble Sommerfrische von Aristokraten, gekrönten Häuptern und auch Sowjetfunktionären, gilt Riga-Strand heute wieder als exklusives Ostseebad im gesamten Baltikum. Wer etwas auf sich hält, hat eine Villa in Jūrmala. Oder fährt in den Ferien zumindest zum Baden dorthin.

Zur Zarenzeit entdeckten die deutschbaltische Oberschicht und der russische Adel den Küstenstreifen für sich und verbrachten dort die schönsten Wochen des Jahres. Für das leichte Leben am Rigaer Strand bauten die wohlhabenderen Bürger aus Riga prachtvolle Sommerhäuser und Holzvillen in die Dünenwälder, zu denen sie per Dampfschiff oder auch mit einer eigens gebauten Bahnlinie gelangten. Aus Russland gab es direkte Eisenbahnverbindungen von Moskau oder Sankt Petersburg.

 

Nächster Halt: Meer

 

Wie vor 150 Jahren ist die Fahrt mit der rustikal-ratternden Vorortbahn auch heute noch die bequemste Art, um von Riga aus den Strand zu erreichen. Die betagte Elektrischka braucht eine gute halbe Stunde und kostet fast nichts. Einziger Haken beim Ticketkauf: Die Haltestelle Jūrmala gibt es nicht. Denn der Ort setzt sich aus gut einem Dutzend ehemaliger Fischerdörfer zusammen, die sich auf der teilweise nur wenige Hundert Meter breiten Landzunge zwischen der Ostsee und der Mündung des Flusses Kurländische Aa/Lielupe aneinanderreihen. Sie wurden in den 1950er Jahren unter dem lettischen Namen Jūrmala zu einer Stadt vereint.

Als Hauptort und Zentrum der rund 57000 Einwohner zählenden »Stadt auf der Welle«, wie sich der Ort selbst vermarktet, gilt Majorenhof/Majori. Ursprünglich gehörten weite Teile des Küstenstreifens einmal dem deutschbaltischen Adelsgeschlecht von Fircks. Die Familie hatte hier einen Majoratshof – ein Gut nach dem Ältestenrecht. Und der heutige Ortsteil Melluži war einst als Karlsbad bekannt, nachdem Baron Karl von Fircks dort ein Kurhaus errichtete. Viele andere Deutschbalten wiederum verbrachten ihre Ferien ungezwungen im großfamiliären Kreis in ihren eleganten Sommerresidenzen in Bilderingshof/Bulduri.

Majorenhof war von 1877 an die Zielstation der neuen Eisenbahnlinie aus Riga, die zahlreiche Feriengäste an die Ostsee brachte. Noch heute steigen die meisten Touristen am Bahnhof Majori aus.

Denn direkt gegenüber beginnt die Jomas iela, die als Promenade zum Meer führt – sie ist der Sommerlaufsteg Lettlands. Entlang der rund 1,1 Kilometer langen Flaniermeile reihen sich Restaurants, Bars und Geschäfte aneinander, die Straßencafés sind oft bis auf den letzten Platz besetzt. Dies gilt besonders, wenn auf der wenige Meter vom Strand entfernten Freilichtbühne des Dzintari-Konzertsaals hochkarätig besetzte Klassik-, aber auch Pop- und Jazzkonzerte ertönen. Auch wer sich ins quirlige Nachtleben stürzen möchte, findet zahlreiche Möglichkeiten.

Lange schlug auch das russischsprachige Musikfestival »New Wave« hohe Wellen – erst künstlerisch, dann politisch. Während des größten Pop-Spektakels auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion verwandelte sich Riga-Strand in ein Mekka der Reichen und Schönen – regelmäßig reisten Stars und VIPs in großer Zahl aus Moskau an. Bis das lettische Außenministerium einige russische Musikgrößen wegen ihrer kremlfreundlichen Haltung in der Ukraine-Krise auf eine schwarze Liste setzte. Seitdem findet der Gesangswettbewerb im Schwarzmeer-Kurort Sotschi statt.

Weiterhin ist im Sommer aber meist mehr Russisch als Lettisch zu hören – Jūrmala ist ein beliebtes Ferienziel für Urlauber aus dem großen Nachbarland im Osten. Die Vorliebe der Russen rührt noch aus der sowjetischen Zeit, als Lettland von den »Brudervölkern« um seine europäische Atmosphäre beneidet wurde.Jūrmala galt als »Badewanne der Sowjet­union« und war bei kommunistischen Größen als Urlaubsort beliebt, nur Sotschi und Jalta waren wichtiger.

 

Mehr als Sandburgen und Luftschlösser

 

Wem das lebhafte Treiben in der Fußgängerzone nicht behagt, der findet genügend Fluchtpunkte. In den zahlreichen idyllischen Querstraßen von Majori, aber auch in den ruhigeren Ortsteilen Dubbeln/Dubulti und Bilderlingshof/Bulduri sind noch zahlreiche kunstvoll verzierte Sommerhäuser erhalten. Wunderbar anzusehende Holzvillen mit großzügig verglasten Veranden aus dem späten 19. und frühen 20.Jahrhundert, verspielte Jugendstilvillen und vom Klassizismus oder Funktionalismus geprägte Prachtbauten. Mehr als 4000 historische Gebäude sind erhalten, gut ein Zehntel davon steht unter Denkmalschutz. Jedes Haus ist ein Zeugnis seiner Zeit – und weiß eine Geschichte zu erzählen.

Hinter den renovierten Fassaden residieren heute oft die Elite Lettlands oder Neureiche aus Russland. Andere der einst stolzen Behausungen wiederum befinden sich in völlig verwahrlostem Zustand und warten darauf, aus dem Dornröschenschlaf geweckt zu werden. Doch das ist nicht billig: Die Sanierung ist kostspielig – die Immobilienpreise gelten als die höchsten im ganzen Land. Auch die Naturschutzauflagen sind hoch. Dennoch entstehen immer mehr Neubauten: Gediegene Villen, aber auch geschmacklose Protzpaläste. Dazwischen finden sich Relikte sowjetischer Architekturkunst und wenig attraktive Betonburgen, die einst dem einfachen Arbeiter als Ferienheime und Massenunterkünfte Erholung bieten sollten. Alt und Neu bilden einen abwechslungsreichen, wenn auch mitunter gewöhnungsbe­dürf­tigen Mix.

Eine architektonische Kostbarkeit ist die im besten Seebäderstil errichtete Badeanstalt, in der man einst vornehm im angewärmten Meerwasser badete. Der zweigeschossige Holzbau am Strand gilt als ein Wahrzeichen von Jūrmala. Nicht weit davon entfernt liegt der alte Seepavillon, in dem es ein Restaurant mit Seeterrasse und eine drehbare Tanzfläche gab. 1929 logierte der schwedische König Gustav V. in dem Jugendstil-Gebäude mit Holzschnitzerei.

 

Heilsame Packungen und ungetrübtes Badevergnügen

 

Auch zahlreiche russische Adlige und Offiziere strömten nach Jūrmala, um die wohltuende Seeluft, heilende Mineralbäder und die Aussicht auf die Rigaer Bucht zu genießen. In Kemmern/Ķemeri wurden bereits Anfang des 19.Jahrhunderts die schwefelhaltigen Quellen und der Schlamm der umliegenden Moore für medizinische Zwecke verwendet. 1838 bewilligte Zar Nikolaus I. den Bau einer ersten Badeanstalt, drei Jahrzehnte später gründete der Arzt Johann Christian Nordstroem das erste private Sanatorium. Für den Ausbau der Badeorte sorgten Schwimmvereine.

Die Bädertradition des Ortes wird heute von zahlreichen Wellness- und Kurhotels fortgeführt – sie bieten alles, was gestresste Körper zur Genesung brauchen. Auch sportlich aktive Urlauber werden fündig. Richtiges Schwimmen ist in Jūrmala aber kaum möglich. Die Uferzone ist flach und das Wasser seicht. Dafür ist die Ostsee nicht allzu kalt und ideal zum Plantschen oder um barfuß im Meer zu spazieren. Seit 2001 weht am Strand die Blaue Flagge – ein Qualitätszeichen für reines Wasser und saubere Luft.

Deutsche Sommergäste sind aber bislang eher selten in Jūrmala anzutreffen. 2019 stammten nur vier Prozent der knapp 260 000 Urlauber aus der Bundesrepublik, im Corona-Jahr 2020 waren es noch weniger. Auch Spuren der deutschbaltischen Vergangenheit finden sich nur noch schwerlich. Der frühere Glanz des säulengeschmückten Gutshauses der von Fircks ist längst verblasst – es wartet wie andere prachtvolle Residenzen auf seine Restaurierung.

Mit dem Zuzug der wohlhabenden Neubürger hat sich dafür aber ein weltläufiger Gestalter mit deutsch-baltischen Wurzeln verewigt: Meinhard von Gerkan. Zu den von ihm in Riga-Strand entworfenen Bauten zählen ein luxuriöses Anwesen für eine reiche Bankiersfamilie, ein Appartementhaus und besonders die »Villa Guna«. Der markant-kubische Bau gilt als eines der Hauptwerke im Schaffen des 1935 in Riga geborenen deutschen Stararchitekten, der in seinen ersten Kindheitsjahren die Sommermonate in Jūrmala verbrachte.

Erinnerungen daran hat von Gerkan jedoch kaum. Er selbst spricht von »vielen vielleicht unterbewusst verdeckten Bildern«. Doch prägten das Meer und die Natur seine Empfindungen. Bis heute fühlt er sich von diesen Elementen angezogen. So wie ihm geht es vielen Besuchern von Jūrmala, die am weißen Sandstrand mit Rauschen im Ohr sehnsuchtsvoll auf die Ostsee blicken.

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