Hochtechnologie rettet Schätze der jüdischen Kultur. Von Bertram Nickolay
März/April 2021 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1422
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Durch Terroranschlag zerstörte jiddische Zeitungen. Foto: © Fundación IWO Buenes Aires

Ein Bombenanschlag auf das Gebäude der Asociación Mutual Israelita Argentina 1994 zerriss Hunderttausende Dokumente in Millionen Fragmente, die für die historische Erforschung jüdischen Lebens von großem Wert waren. Eine vom Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK) Berlin entwickelte Technologie ermöglicht nun die Rekonstruktion zerstörter Dokumente des damals ebenfalls betroffenen Instituto Judío de Investigaciones in Buenos Aires und leistet somit einen wichtigen Beitrag für die Übermittlung ostjüdischer Kultur.

Am 18. Juli 1994 ereignete sich das schwerste Bombenattentat in der Geschichte Argentiniens. Bei einem Terroranschlag wurde das Gebäude der Asociación Mutual Israelita Argentina (AMIA), der Zentrale der jüdischen Gemeinde in Argentinien, das zahlreiche jüdische Organisationen und Vereine beherbergte, dem Erdboden gleich gemacht. Dabei wurden 85 Menschen getötet, 300 weitere verletzt und mehr als 400 umliegende Wohnungen und Geschäfte zerstört oder beschädigt. Die Hintergründe der Tat konnten bis heute nicht geklärt, die Verantwortlichen nicht identifiziert werden.

Von dem Anschlag waren auch das Archiv und die Bibliothek der Fundación IWO, Idisher Visnshaftlejer Institut – Instituto Judío de Investigaciones betroffen. Die Archive und Bibliotheken der Organisation zählen zu den weltweit wichtigsten Ressourcen für die Erforschung jüdischen Lebens und jüdischer Geschichte in Mittel- und Osteuropa, jiddischer Sprache, Literatur und Folklore, der Geschichte der jüdischen Einwanderung in Amerika und für Zeugnisse von Überlebenden der Schoah.

Ein Anschlag auf die jüdische Kultur

Der Anschlag zog eine einzigartige Sammlung von Dokumenten und Büchern in jiddischer Sprache, historischen Dokumenten der jüdischen Geschichte in Argentinien und zahlreichen vor den Nationalsozialisten aus Europa geretteten Publikationen, Schriftstücken und weiteren Artefakten der jüdischen Kultur in Mitleidenschaft. Noch während die Einsatzkräfte nach Überlebenden suchten und Verletzte bargen, begann eine unglaubliche Aktion zur Rettung der in dieser Form singulären Bibliothek, an der sich bis zu 800 Jugendliche beteiligten. Viele Objekte wurden damit zum zweiten Mal gerettet: Nachdem sie dem Zugriff der Nationalsozialisten entzogen worden waren, entgingen sie nun ein halbes Jahrhundert später mit der Bergung aus den Trümmern des Archives erneut der Zerstörung.

Im Oktober 2011 stellte Dr. Bertram Nickolay vom Berliner Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK), der »Vater des ePuzzler«, auf der internationalen Konferenz Culturas de la Memoria in Mexiko-Stadt eine Technologie zur Rekonstruktion zerstörter Dokumente vor und erläuterte das Potenzial der Anwendung im Bereich der Erinnerungskultur. Professor Nestor Braunstein, damals Kurator des Instituto Judío de Investigaciones (IWO) und Teilnehmer eines Podiumsgesprächs der Konferenz, erkannte sofort die Möglichkeiten der Fraunhofer-Technologie für das Archiv und die Bibliothek des IWO.

Ein Teil des Archivguts wurde 2012 im neuen Gebäude der AMIA und am neuen Standort des IWO zwar wieder zugänglich gemacht. Ein Großteil der beschädigten Dokumente wartet jedoch immer noch auf die Rekonstruktion und (Re-)Formierung. Das IWO steht seit dem Terroranschlag vor der Herausforderung, Millionen von Fragmenten in ihren Originalzusammenhang zurückzubringen. Neben dem Beschädigungsgrad schließt allein schon die Menge der Fragmente eine manuelle Rekonstruktion aus.

Hier kommt das Fraunhofer IPK ins Spiel: Seine Methoden der automatisierten virtuellen Rekonstruktion von zerstörten beziehungsweise beschädigten Dokumenten, ursprünglich entwickelt, um zerstörte Akten des DDR-Staatssicherheitsdienstes wieder lesbar zu machen, sind weltweit gefragt. Herausragende Beispiele sind die Wiederherstellung der beim Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln im Jahr 2009 zerstörten Dokumente und die Rekon­struktion des mittelalterlichen Gebetbuchs Narek in Jerewan/Armenien.

In der vom Auswärtigen Amt geförderten Pilotphase des Projektes »Rekonstruktion der durch den Terrorakt zerstörten jüdischen Kulturgüter des Instituto Judío de Investigaciones (IWO) Buenos Aires/Argentinien« sollte untersucht werden, ob und wie die beschädigten Bestände des IWO qualitativ hochwertig und rekonstruktionstauglich digitalisiert und gesichert werden können.

Ein weiteres Ziel bestand darin, festzustellen, inwieweit Methoden der virtuellen Rekonstruktion zur Wiederherstellung eingesetzt werden können. Dazu stellten IWO und Fraunhofer IPK in Buenos Aires eine repräsentative Stichprobe von Fragmenten zusammen. Diese bestand aus Dokumenten zur jiddischen Literatur und Musik, jiddischen Zeitungen und Manuskripten von Persönlichkeiten und Überlebenden der Schoah.

Eine dieser Persönlichkeiten ist Tania Fuks, deren handschriftlicher Nachlass am IWO verwahrt wird. Selbst eine Geflüchtete, bereiste sie nach dem Zweiten Weltkrieg Flüchtlingslager und schrieb detaillierte Berichte über die Situation der Geflüchteten. Ihre Notizbücher wurden bei dem Anschlag von 1994 schwer beschädigt. Da sie zum überwiegenden Teil nie veröffentlicht wurden, stellen sie ein besonderes Beispiel für den Erinnerungsverlust dar, der mit der Zerstörung von Archivalien einhergeht.

Vom Fragment zum lesbaren Dokument

Zur Digitalisierung werden die Fragmente mit dem neuartigen Scanner eingelesen. Foto: © Fraunhofer IPK, Katharina StrohmeierZur Digitalisierung werden die Fragmente mit dem neuartigen Scanner eingelesen. Foto: © Fraunhofer IPK, Katharina Strohmeier

Besonders spannend wurde das Projekt, als die Stichproben des IWO eintrafen, denn hier sollte geprüft werden, ob und inwieweit die zerstörten Kulturgüter mithilfe der neuen Technologien gesichert werden könnten.
Für die Digitalisierung wurde ein neuartiger Dokumentenscanner eingesetzt, den das Fraunhofer IPK entwickelt hat. Schon hier zeigten sich erste Erfolge, denn der Scanner schaffte es, die Papierfragmente hochauflösend sowie farb- und geometriegetreu gegenüber den Originalen zu erfassen. Durch diese Präzision wurden identische Pigmentierung oder benachbarte Kanten zuverlässig erkennbar, und es wurde möglich, Beziehungen zwischen den Teilen herzustellen.

Die Digitalisierung der Fragmente war jedoch nur ein erster Schritt auf dem Weg zur Sicherung des wertvollen Kulturguts. Denn als nächstes galt es, die Vielzahl von Fragmenten zusammenzupuzzeln. Dafür wurde der »ePuzzler« eingesetzt, das Herzstück der virtuellen Rekonstruktion, und eine Software, die mit komplexen Bildbearbeitungs- und Mustererkennungstechnologien digitale Fragmente zu ganzen Seiten zusammensetzt.

Der ePuzzler arbeitet ähnlich wie ein Mensch beim Puzzeln: Die Software berechnet zunächst verschiedene Merkmale der Fragmente wie Kontur, Farbe, Beschriftung oder Linierung. Ähnliche Fragmente werden durch eine intelligente Suchraumreduktion in Untermengen eingeteilt, in denen die eigentliche Rekon­struktion stattfindet. Dabei werden die Schnipsel entlang ihrer Konturen verglichen. Passen zwei Schnipsel zusammen, werden sie digital verklebt und bei der weiteren Rekonstruktion als größeres Fragment berücksichtigt. Die Technologie wurde 2013 mit dem EARTO Innovationspreis ausgezeichnet.

Insgesamt waren die Fragmente, die rekon­struiert werden konnten, sehr vielfältig. Die meisten zusammengesetzten Fragmente waren Teile von Ausgaben unterschiedlicher Zeitungen, wie Havaner Lebn oder Di Presse. Unter den rekonstruierten Fragmenten befanden sich jedoch auch Notenblätter wie das Musikalbum Album Musical Casamiento Israelita. Darüber hinaus konnten aus den Fragmenten Teile von persönlichen Archiven wie die erwähnten Werke und Dokumente von Tania Fuks, aber auch beispielsweise Artikel von Boris Weinstock, dem Chefredakteur mehrerer jiddischer Zeitungen Argentiniens, wiederhergestellt werden.

Rekonstruiertes Notenblatt aus dem Album »Musical Casamiento Israelita«. Foto: © Instituto Judío de Investigaci-ones (IWO) Buenos Aires, Fraunhofer IPK, MusterFabrik BerlinRekonstruiertes Notenblatt aus dem Album »Musical Casamiento Israelita«. Foto: © Instituto Judío de Investigaci-ones (IWO) Buenos Aires, Fraunhofer IPK, MusterFabrik Berlin

Folgeprojekt: Jiddische Musik und jiddischer Tango

Als Nachfolgeprojekt ist geplant, die weltweit einzigartigen Bestände des Instituto Judío de Investigaciones zur jiddischen Musik und zum jiddischen Theater zu digitalisieren und mittels moderner Software zu analysieren. Unter den zu digitalisierenden Beständen befinden sich musikalische Aufnahmen auf Jiddisch, Hebräisch und Spanisch, von jüdischer Volksmusik bis hin zu Musik mit Bezug zu jüdischer Literatur, Theater und Film. Ein Beispiel dieser Bestände sind Theater-Radioübertragungen aus dem Archiv des Labels »Londisc«, das 1930 als »Radio Leon Studio« vom jüdischen Einwan­derer Enrique Wlosko gegründet wurde.

Darüber hinaus befinden sich im IWO eine Reihe wertvoller Theatermusikmanuskripte. Die Sammlung umfasst Manuskripte von Musikwerken, die für das jiddische Theater geschrieben oder arrangiert wurden, darunter Opern, Operetten und Varieté-Sketche.

Unter den besonderen Schätzen des IWO finden sich schließlich verschiedene Musiknoten, die von der Existenz argentinischer Tangos in jiddischer Sprache zeugen. Parodien von Jevel Katz, der wegen seiner Beliebtheit bei den argentinischen Juden den Spitznamen »der jüdische Gardel« trägt, zeigen die Größe und Originalität des jüdischen Publikums in Buenos Aires.

Sobald die Digitalisierung abgeschlossen ist, soll eine wissenschaftliche Aufarbeitung sowie Inszenierung der Bestände stattfinden. Die kulturwissenschaftliche, sprachliche und historische Kompetenz zu diesen Themen sollen Projektpartner wie die Moses Mendelssohn Stiftung Berlin, das Ibero-Amerikanische Institut, die Akademie der Künste Berlin sowie Berliner Universitäten in das Projekt einbringen.

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