Die pommersche Hafenstadt Stettin gehörte zu den im Zweiten Weltkrieg am stärksten zerstörten deutschen Städten. Und auch nach 1945 ging der Verlust der alten Bausubstanz weiter, als die in Trümmern liegende Altstadt abgetragen wurde und nach und nach den dringend benötigten Neubauten weichen musste. Erstaunlich, wie dennoch ganze Straßenzüge und Teile von Wohnvierteln inner- und außerhalb des Stadtzentrums überdauert haben. Ihre Geschichte und die ihrer ehemaligen Bewohner vor dem Vergessen zu bewahren, ist das Ziel einer touristischen Route durch die Oderstadt Stettin/Szczecin. Von Magdalena Gebala
November/Dezember 2020 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1420
1
Die einstige Kaiser-Wilhelm-Straße, die heute Aleja Papieża Jana Pawła II heißt, ist einer jener Straßenzüge mit den für Stettin typischen Altbauten. © ukasz/AdobeStock

»Spaziergänger sind Praktizierende der Stadt«

heißt es in einem Blogeintrag des Autors und Übersetzers Marcel Krueger. Krueger, der 2019 als Stadtschreiber des Deutschen Kulturforums östliches Europa in Allenstein/Olsztyn tätig war und der hier aus Rebecca Solmits Buch Wanderlust zitiert, ist ein leidenschaftlicher Spaziergänger. Seine polnische Gaststadt mit ihren lauten Hauptverkehrsstraßen und bunten Einkaufszentren, mit den ruhigen Seitenstraßen und pittoresken Gassen sowie den unspektakulären Vororten hat er sich bei Wind und Wetter erlaufen und erspürt. Am Ende seines Aufenthalts war er in die Stadt, die er nicht mehr Allenstein und nicht Olsztyn, sondern Allensztyn nannte, verliebt und wollte gar nicht weg.

In der Deutschen Straße, heute ul. Wielkopolska, wohnte 1907 bis 1917 Emil Stoewer, der zusammen mit seinem Bruder Bernhard jun. die Autofabrik Stoewer- Werke leitete. © Markus NowakIn der Deutschen Straße, heute ul. Wielkopolska, wohnte 1907 bis 1917 Emil Stoewer, der zusammen mit seinem Bruder Bernhard jun. die Autofabrik Stoewer- Werke leitete. © Markus Nowak

In vielen europäischen Metropolen machen sich Stadtmarketingexperten, Touristiker und Hobbyhistoriker Gedanken, wie man Städte und ihre lange, wechselhafte und nicht selten verworrene Geschichte verständlich und originell vermitteln und vermarkten kann. Dabei sind Spaziergänger wie Marcel Krueger eine besonders willkommene Zielgruppe. Thematische Spazierrouten, ob auf den Spuren von Franz Kafka in Prag, Hannah Arendt in Königsberg/Kaliningrad oder dem Kommissar Eberhard Mock aus Marek Krajewskis Kriminalromanen in Breslau/Wrocław, gehören längst zum touristischen Programm einer jeden europäischen Großstadt. Die politische Wende, die 1989 in Polen und in den Folgejahren in anderen mittel- und osteuropäischen Staaten stattfand, hatte ein neues Interesse an der »Heimatkunde« zur Folge. Die Prager, die Kaliningrader, die Rigaer und die Breslauer von heute entwickeln eine neue regionale Identität und entdecken das, was jahrzehntelang vergessen schien – die Geschichte ihrer Heimatorte: ein Thema, nach dem man vergeblich im Schulunterricht suchen würde. Die thematischen Spaziergänge ermöglichen einerseits eine attraktive, interaktive Beschäftigung mit Geschichte, andererseits eröffnen sie neue Perspektiven auf die Möglichkeiten der Gestaltung des urbanen Raumes. Dass eine kritische Beschäftigung mit Geschichte Kontroversen zutage fördern und vermeintlichen Helden ihren »Nimbus« nehmen kann, liegt auf der Hand.

Auch in Stettin/Szczecin entstand 2012 eine neue touristische Spazierroute. Der Journalistin Justyna Machnik und einigen Kulturaktivisten ist in der Oderstadt etwas Ungewöhnliches gelungen, nämlich, in dem 1945 fast komplett zerstörten Stettiner Zentrum einen Spaziergang zu entwickeln, der nicht nur zu den vor den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs verschonten Bauten führt, sondern die Geschichte dieser Gebäude und seiner ehemaligen Bewohner erzählt und sie so vor dem Vergessen bewahrt.

Die Route Bedeutende Stettiner und ihre Häuser verläuft auf den Spuren berühmter Töchter und Söhne der Stadt anhand der Häuser, in denen sie einst lebten. Mit Leon Jessel, Julo Levin, Antoni Kaczorkowski, Janina Smoleńska, Wilhelm Meyer-Schwartau, Helena Majdaniec, Emil Stoewer, Heliodor Sztark, Kurt Tucholsky, Stanisława Engelówna, Erwin Ackerknecht und Heinrich George finden sich darin sowohl Persönlichkeiten aus der Zeit vor 1945 als auch Personen des öffentlichen Lebens aus der Zeit danach. Für die heutigen Bewohner Stettins, die nun in der dritten Generation in diesen Häusern leben und dennoch lange kaum etwas von ihrer Vergangenheit wussten, ist dieser Spaziergang ein besonderes Geschenk.

Die circa zweieinhalbstündige Route ist auf allen in der städtischen Touristeninformation kostenlos verfügbaren Stadtplänen verzeichnet und beschrieben. Darüber hinaus sind die für sie relevanten Gebäude mit einer kurzen Informationstafel auf Polnisch, Deutsch und Englisch versehen und leicht auffindbar.

Tafeln für verdiente Töchter und Söhne der Stadt

Eine der insgesamt zwölf Tafeln schmückt das Haus in der Deutschen Straße (ul. Wielkopolska) 32. In der Parterrewohnung wohnte hier zwischen 1907 und 1917 Emil Stoewer. Zusammen mit seinem Bruder Bernhard jun. leitete er die von seinem Vater Bernhard Stoewer 1896 in Stettin-Neutorney gegründete Fabrik Stoewer-Werke AG, in der Kleinwagen, Liefer- und Kraftfahrzeuge sowie Busse, darunter Doppeldecker für die Londoner Verkehrsbetriebe, produziert wurden. 1930 gelang es den Brüdern, das erste deutsche Serienauto mit Vorderradantrieb, den Stoewer V 5, zu entwerfen. Ab diesem Zeitpunkt wurde Stettin umgangssprachlich als »Stoewer-Stadt« bezeichnet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Teile des Fabrikgeländes durch die Stettiner Motorradfabrik (Szczeciń­ska Fabryka Motocykli) genutzt. Hier baute man unter anderem die »polnische Harley-Davidson« – das heiß begehrte Motorrad Junak. Anlässlich der Enthüllung der Gedenktafel für Emil Stoewer an seinem früheren Haus kam im August 2013 seine Familie nach Stettin – natürlich mit einem stilechten Cabriolet der Marke Stoewer!

Ein paar Straßen weiter, im ersten Stock des Hauses in der König-Albert-Straße (ul. Śląska) 51, lebte der 1891 in Stettin geborene expressionistische Maler Julo (Julius) Levin. Er war Absolvent der Kunstgewerbeschulen in München und Essen, der Kunstakademie Düsseldorf sowie Mitglied der Künstlergruppen Das Junge Rheinland und Das Neue Pommern. 1933 wurde der aus einer jüdischen Familie stammende Levin als »entartet« diffamiert und erhielt Berufsverbot. Danach schlug er sich als Zeichenlehrer an verschiedenen jüdischen Schulen in Düsseldorf und Berlin durch und begann Arbeiten seiner Schüler zu sammeln. Es entstand ein einmaliges Archiv mit zirka 2.000 Zeichnungen jüdischer Kinder und Jugendlicher aus der Zeit des Nationalsozialismus, die heute im Stadtmuseum Düsseldorf aufbewahrt werden. Levin wurde 1943 in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert und dort ermordet. In Düsseldorf erinnern ein Stolperstein und das Julo-Levin-Ufer im dortigen Medienhafen an den Künstler. Im Mai 2015 wurde auch an dem Haus, in dem er einst in Stettin lebte, eine Gedenktafel für ihn eingeweiht.

In der einstigen König-Albert-Straße, heute ul. Śląska, 51 hängt eine Tafel, die an den 1891 in Stettin geborenen expressionistischen Maler Julo ( Julius) Levin erinnert. © Markus NowakIn der einstigen König-Albert-Straße, heute ul. Śląska, 51 hängt eine Tafel, die an den 1891 in Stettin geborenen expressionistischen Maler Julo ( Julius) Levin erinnert. © Markus Nowak

Heinrich George bis heute umstritten

Eine weitere Persönlichkeit, deren Haus innerhalb der Route vorgestellt wird, ist der 1893 in Stettin geborene Schauspieler Georg August Friedrich Wilhelm Schulz, besser bekannt als Heinrich George. Seine Karriere begann 1911 auf den Theaterbühnen von Stettin und Kolberg/Kołobrzeg. 1921 wechselte George zum Film. Seine Rollen in Klassikern der Filmgeschichte wie Berlin Alexanderplatz (1929) von Piel Jutzi, einer Verfilmung des gleichnamigen Romans eines anderen berühmten Stettiners, Alfred Döblin, brachten ihm große Popularität ein. Auch in Hollywood-Produktionen wie Menschen hinter Gittern (1931) spielte er mit. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 erhielt Heinrich George wegen seiner Kontakte innerhalb kommunistischer Kreise Berufsverbot. Später arrangierte sich der Künstler mit dem Regime und stellte sich, ähnlich wie Leni Riefenstahl, in den Dienst der nationalsozialistischen Filmproduktion. Für seine Rollen in Propagandafilmen wie Hitlerjunge Quex (1937) und vor allem Jud Süß (1940) wurde und wird George heftig kritisiert.

Am Geburtshaus des Filmschauspielers Heinrich George in der Burscherstraße, heute ul. Łokietka 34, wurde 2015 eine Gedenktafel angebracht, die ein paar Tage später unter Protesten jedoch wieder verschwand. © Markus NowakAm Geburtshaus des Filmschauspielers Heinrich George in der Burscherstraße, heute ul. Łokietka 34, wurde 2015 eine Gedenktafel angebracht, die ein paar Tage später unter Protesten jedoch wieder verschwand. © Markus Nowak

Die Titel sind bis heute als sogenannte Vorbehaltsfilme eingestuft, was bedeutet, dass sie wegen ihrer gewaltverherrlichenden, rassistischen oder volksverhetzenden Wirkung nur mit einer sachkundigen Einführung gezeigt werden. Seine Filme konnten zwischen 2011 und 2013 im Rahmen des Festivals Konstelacja Szczecin (»Konstellation Stettin«) mit einer Sondergenehmigung in Georges Heimatstadt in ausverkauften Kinosälen gezeigt und diskutiert werden. Eine dem Schauspieler gewidmete Gedenktafel fehlt jedoch bis heute. 2015 wurde zwar eine an Georges Haus angebracht, verschwand aber ein paar Tage später wegen heftiger Proteste wieder. Der Grund dafür war die unvollständige und etwas naiv anmutende Beschriftung, die Heinrich Georges Tätigkeit für die NS-Propaganda nicht erwähnte. In den Stettiner Medien entbrannte eine heftige Debatte über das Andenken an Persönlichkeiten, die mit verbrecherischen Regimen kooperiert haben. Dennoch wird die Burscherstraße (ul. Łokietka) 34 die Straße bleiben, in der Heinrich George geboren wurde – für die einen Held, für die anderen Opportunist oder gar Täter, doch für viele einfach nur einer der bekanntesten Schauspieler der Weimarer Republik, der für seine Entscheidung den höchsten Preis bezahlte. Heinrich George starb 1946 im sowjetischen Speziallager Sachsenhausen.

Neueste Beiträge