Berichte eines Zeugen und einer Überlebenden des Massakers am Strand von Palmnicken
Februar 2020 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1412 | von Carolin von der Heiden
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VEJ 198/16 © Editionsprojekt VEJ, Institut für Zeitgeschichte

»Ich übersende Ihnen Aussagen von Bewohnern der Stadt Palmnicken über die an sowjetischen Bürgern begangenen hitlerfaschistischen Grausamkeiten.« (VEJ 199/16)

Mit diesen Worten beginnt der Gardemajor der Politabteilung der 32. Garde-Schützendivision der Roten Armee Lizvnaow sein Schreiben an den Leiter der Politabteilung der 2. Gardearmee. Er sammelte die Aussagen von zwölf Bewohnern sowie des Bürgermeisters des Ortes Palmnicken. Einer von ihnen, Heinz Pipereit, gab am 25. Mai 1945 zu Protokoll:

© Editionsprojekt VEJ, Institut für Zeitgeschichte»Als ich am 5. Februar nachts den Strand entlang in Richtung Sorgenau ging, hörte ich heftiges Gewehrfeuer. Ich glaube, es fanden Erschießungen mit Maschinengewehren statt. Am nächsten Tag, am 6. Februar, ging ich erneut zum Strand und erfuhr, dass die SS wahrscheinlich viele weibliche Häftlinge aus Palmnicken in Richtung Pillau getrieben hatte. […] Ich habe außerdem gesehen, dass viele Leichen, vor allem weibliche, vom Meer angeschwemmt worden waren. Ich kann deshalb mit Sicherheit sagen, dass die SS in der Nacht auf den 6.2. diese Unglückseligen nicht nur am Strand ermordet, sondern sie teilweise auch ins Meer getrieben hat. Das Meer schwemmte noch 14 Tage lang Leichen in Richtung Sorgenau an, größtenteils die von Frauen.« (VEJ 199/16)

Als die 32. Division der Roten Armee am 15. April 1945 den ostpreußischen Ort Palmnicken/Jantarny, etwa fünfzig Kilometer nordwestlich von Königsberg/Kaliningrad erreichte, bot sich ihnen ein Bild des Grauens: Entlang der Ostseeküste war der Strand mit Leichen übersät.

Die gesammelten Berichte der Dorfbewohner zeugen von einem Massaker an fast 3.000 Jüdinnen und Juden, welches als das »Massaker von Palmnicken« in die Geschichte einging. Im Zuge der Räumung der ostpreußischen Außenlager des Konzentrationslagers Stutthof trieb die SS Tausende, überwiegend weibliche, KZ-Häftlinge auf einen Todesmarsch. Bei den Häftlingsfrauen handelte es sich um fast ausschließlich ungarische und polnische Jüdinnen, die erst im Sommer 1944 aus Auschwitz nach Stutthof und in seine Außenlager deportiert worden waren. Ende Januar 1945 erreichten 3000 von ihnen den Ort Palmnicken an der Ostseeküste. Bereits in den Tagen zuvor hatten 2.000 bis 3.000 Häftlinge den Todesmarsch bis dorthin nicht überlebt.

Um zu verhindern, dass die Häftlinge lebend in die Hände der sich nähernden Roten Armee fallen, trieben SS-Männer die Häftlinge in der Nacht vom 31. Januar auf den 1. Februar an den Strand und auf Eisschollen und erschossen sie dort. Fast alle Opfer, die nicht durch Schüsse tödlich verletzt wurden, ertranken oder erfroren im eiskalten Meerwasser. In den darauffolgenden Tagen kam es zu weiteren Mordaktionen, wie die Aussagen Pipereits bezeugen.

Mit ungefähr 2.800 jüdischen Opfern gehört das Massaker zu den größten der sogenannten Endphaseverbrechen der Nationalsozialisten. Weniger als 200 der Häftlinge überlebten jene Winternacht. Eine der Überlebenden war Dora Hauptmann. Die damals 26-jährige Buchhalterin war im April 1944 zunächst in das KZ Plaszow, dann ins Außenlager Wieliczka deportiert worden. Im Juli 1944 wurde sie nach Auschwitz, später nach Stutthof verschleppt, wo sie im Außenlager Jesau Zwangsarbeit leisten musste. Von Jesau aus wurde sie im Januar 1945 auf den Todesmarsch nach Palmnicken getrieben. Vermutlich hat Dora Hauptmann ihre Aufzeichnungen für die Rote Armee verfasst, genau bekannt sind die Umstände ihres Berichts allerdings nicht. Sie schrieb auf, wie sie in der Nacht vom 31. Januar auf den 2. Februar zu Fuß in Richtung Ostsee laufen musste und durch Schüsse verletzt wurde:

»Am dritten oder vierten Tag brachte man uns weiter, nachts, wieder in Fünferreihen. Am Anfang die Frauen, am Ende die Männer. So brachte man uns ans Meer. Plötzlich tauchte ein Mann bei uns auf, der uns erklärte, dass sie zuerst die Männer erschießen werden. Er erklärte uns, wir sollten uns unter das Eis oder ins Meer fallen lassen. Er sagte, jemand müsse überleben, damit diese Barbarei erzählt werden kann. […] Als ich mich ins Meer fallen ließ, erhielt ich einen Schuss in die rechte Hand, die Kugel ging durch mich hindurch. […] Als alles ruhig geworden war, ging ich […] in das Dorf. Ich ging zu einem Haus […]. Dort wärmte ich mich auf und bekam etwas zu essen. Die Leute erklärten mir aber, dass sie Angst haben, mich länger dazubehalten, und dass ich zu einem Arzt gehen soll, um mir einen Verband machen zu lassen. Als ich mich zu einem Arzt schleppte, traf ich die Deutsche Berta Pulver, die mich aufnahm und mich bis zum Eintreffen der Roten Armee […] beherbergte.« (VEJ 198/16)

Erst spät beginnt das offizielle Gedenken an das bis in die 1990er Jahre in Vergessenheit geratene Massaker von Palmnicken. 1994 veröffentlicht Martin Bergau, damals 16-jähriger Augenzeuge der Mordaktion, ein Buch in welchem er die Ereignisse verarbeitet. Weitere zehn Jahre später erscheint ein Buch, in dem die Berichte von Überlebenden veröffentlicht werden. Fast sieben Jahrzehnte nach dem Massaker wird ein Mahnmal des Bildhauers Frank Meisler eingeweiht, um der Opfer zu gedenken.

Die beiden Berichte, aus denen in diesem Beitrag zitiert wurde, sind im Band 16 der Edition Judenverfolgung 1933-1945 (VEJ 16) abgedruckt. Die Quellenedition dokumentiert die Ereignisse im KZ Auschwitz in den Jahren 1942–1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/1945.

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