Herausforderungen und Chancen für ländliche Räume in der bayerisch-böhmischen Grenzregion.
Kulturkorrespondenz östliches Europa, № 1408 | Oktober 2019
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Der Geschichtspark Bärnau/Tachov kann als Beispiel für grenzüberschreitende Zusammenarbeit dienen.

Die bayerisch-böhmische Grenzregion galt lange als »Region am Ende der Welt« – besonders ländlich und provinziell. Der Kalte Krieg und der Eiserne Vorhang hinterließen dann über Jahrzehnte sowohl in Ostbayern als auch in Westböhmen eine abgehängte Gegend. Ein neues Forschungsprojekt der Universität Bamberg und der Universität Aussig/Ústí nad Labem nimmt die Herausforderungen und Chancen grenzüberschreitender Ländlichkeit in den Blick. Von Patrick Reitinger

»Vor 1918 war das alles kein Problem«,

stellt eine Frau beim gemeinsamen Gespräch fest.

»Meine Großmutter aus Prachatitz lernte ihren Mann vor dem Ersten Weltkrieg kennen, als der als Handwerker immer wieder in unserer Region unterwegs war. Er stammte aus Bayerisch Eisenstein und war regelmäßig in Böhmen unterwegs. Als der Krieg ausgebrochen war, entschieden sie zu heiraten. Die Hochzeit fand in Böhmen statt, anschließend zogen sie nach Bayern auf den Hof seiner Eltern. Beide Familien besuchten sich regelmäßig.«

Vor 1918 war der grenzüberschreitende Austausch zwischen Bayern und Böhmen ohne größere Probleme möglich. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und mit der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik änderte sich die Grenzsituation schlagartig. Fortan hatte die Tschechoslowakei ein großes Interesse daran, die territoriale Struktur des neuen Staates für alle sichtbar abzusichern. Die Folge waren regelmäßige Zwischenfälle und einige Schwierigkeiten im kleinen Grenzverkehr. Vor allem bei den deutschnational gesinnten Zeitgenossen in Bayern wurde die neue Situation im Nachbarland genutzt, um antitschechische Propaganda zu verbreiten. Die Entwicklungen in Westböhmen wurden in den 1920er Jahren von bayerischer Seite als Vorzeichen für einen angeblichen militärischen Einmarsch der tschechoslowakischen Truppen in das Deutsche Reich interpretiert, die ostbayerische Grenzregion galt in ihren Augen als besonders gefährdet. Als Beleg für diese Einschätzung wurden meist die Ausführungen von Hanuš Kuffner aufgegriffen, die um 1918 unter dem Titel »Unser Staat und der Weltfrieden« verbreitet wurden. Darin stellte Kuffner die Überlegung an, Teile Ostbayerns und des nördlichen Österreich an die Tschechoslowakei anzugliedern. Dass Kuffners Gedanken nur ein Beispiel für unzählige verschiedene und zum Teil auch stark utopische Konzeptionen zur Neugestaltung des tschechoslowakischen Staates am Ende des Ersten Weltkriegs und im Kontext der Pariser Friedenskonferenz 1919 waren, ignorierten die Deutschnationalen. Sie sahen darin den Beweis für die tschechoslowakischen Invasionsziele und propagierten fortan die besondere Notwendigkeit, die ostbayerische Grenzregion und die schwierige ländlich-periphere Lage zu verbessern, um die »Bayerische Ostmark« als Bollwerk gegen die Tschechoslowakei zu positionieren. 

»Region am Ende der Welt«

Mit diesen Entwicklungen nach dem Ersten Weltkrieg war der Grundstein gelegt für eine Erzählung, die sich bis heute zum Teil hartnäckig hält: Die ostbayerische und westböhmische Grenzregion gilt im Vergleich als wirtschaftlich schwach entwickelt, besonders ländlich und peripher gelegen und als Sorgenkind der Raumentwicklung in Bayern und Tschechien.

Diese oftmals negative Zuschreibung wurde in den letzten hundert Jahren durch die vielen einschneidenden historischen Ereignisse verstärkt und verfestigt. Die Nationalsozialisten investierten viel Geld und Energie in den »Gau Bayerische Ostmark«, um die vermeintliche Unterentwicklung der Region auszugleichen. Zugleich bemühte sich der tschechoslowakische Staat in der Zwischenkriegszeit sehr, die Lebenssituation für die Menschen in Westböhmen zu verbessern, weil sie gerade in wirtschaftlichem Wachstum und einem Zugewinn an Wohlstand die Hoffnung sahen, die Autonomie- und zunehmenden Separationsbemühungen der deutschsprachigen Bevölkerungsteile klein zu halten. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Ostbayern geprägt von der Aufnahme zahlreicher Menschen, die die Tschechoslowakei verlassen mussten. Die westböhmische Grenzregion erlebte in der Folge einen groß angelegten Bevölkerungsaustausch und einen Rückbau der Verkehrs- und Siedlungsstrukturen auf ein Mindestmaß. Der Kalte Krieg und der Eiserne Vorhang hinterließen dann über Jahrzehnte sowohl in Ostbayern als auch in Westböhmen eine »Region am Ende der Welt«.

Nach der Samtenen Revolution in der Tschechoslowakei änderte sich die Grenzsituation nur langsam. Der gegenseitige Austausch war nun zwar wieder leichter möglich, trotzdem mussten die politisch Verantwortlichen und die Bürgerinnen und Bürger auf beiden Seiten der Grenze erst langsam wieder aufeinander zugehen. Erst der Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union und der daraufhin erfolgte Wegfall der Grenzkontrollen in den 2000er Jahren eröffneten neue Perspektiven für die Region. Zum ersten Mal seit dem Ende des Ersten Weltkriegs war es nun zumindest theoretisch möglich, Ostbayern und Westböhmen als grenzüberschreitende Region zu verstehen, die gemeinsame Interessen und Herausforderungen hat und in der Zusammenarbeit vor allem Chancen sieht.

Bayerisch-Tschechische Annäherungen

Mit der Gründung der Euregio Egrensis und der Euregio Bayerischer Wald – Böhmerwald – Unterer Inn wurden 1993 neue Formate geschaffen, die die grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Herzen Europas auf eine neue Ebene stellten. Seitdem sind vor allem auf der Ebene der Kommunen und im zivilgesellschaftlichen Kontext zahlreiche Initiativen gestartet worden, die die Menschen in Ostbayern und Westböhmen wieder näher zusammenbringen sollen. Die offizielle staatliche Politik tat sich hingegen lange schwer. Erst mit dem offiziellen Besuch des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer in der Tschechischen Republik im Jahr 2010 begann die Eiszeit zwischen München und Prag aufzutauen. Mittlerweile gehört der regelmäßige Austausch zwischen den beiden Regierungen zum festen Programm, mit der Repräsentanz in Prag unterhält der Freistaat Bayern auch eine wichtige Einrichtung, die nicht nur als Treffpunkt im politischen und kulturellen Leben der tschechischen Hauptstadt eine Rolle spielt, sondern die neue Qualität der grenzüberschreitenden Beziehungen symbolisch auszeichnet.

Ein Gewinn aus der neuen Zusammenarbeit ist die Gründung der Bayerisch-Tschechischen Hochschulagentur (BTHA) im Jahr 2016. Durch sie unterstützt der Freistaat Bayern den wissenschaftlichen Austausch zwischen beiden Ländern. Im Rahmen der Förderung durch die BTHA entwickelten sich an den Universitäten Bamberg und Aussig/Ústí nad Labem in den letzten Jahren neue Kontakte zwischen bayerischen und tschechischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die in der gemeinsamen Arbeit die Grenzregion Ostbayerns und Westböhmens zum Gegenstand ihrer Untersuchungen machten.

Forschungsprojekt zur bayerisch-tschechischen Grenzregion

Im August 2019 startete ein gemeinsames Projekt im Rahmen des Joint Call der Bayerisch-Tschechischen Hochschulagentur und des Ministeriums für Schulwesen, Jugend und Sport der Tschechischen Republik zu bilateralen bayerisch-tschechischen Forschungsprojekten 2019-2021. Unter dem Titel »Management of Crossborder Rurality | Bavaria Bohemia 1990 2020« untersuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Bamberg und Aussig die Entwicklung der bayerisch-tschechischen Grenzregion seit dem Ende des Kalten Krieges. Im Fokus steht die Forschungsfrage, wie politische, wirtschaftliche, administrative und zivilgesellschaftliche Akteure aus Ostbayern und Westböhmen in den letzten dreißig Jahren in der ehemaligen Tschechoslowakei mit den Chancen und Herausforderungen ländlicher Entwicklungsprozesse umgegangen sind.

Das Projekt verfolgt einen interdisziplinären und anwendungsorientierten Forschungsansatz. Es ist an der Schnittstelle von Historischer Geographie, Politikwissenschaften und Soziologie angelegt und verbindet so historische und gegenwartsbezogene Perspektiven. An der Universität Bamberg wird das Projekt durch Prof. Dr. Andreas Dix (Professur für Historische Geographie), an der Univerzita J. E. Purkyně v Ústí nad Labem durch doc. Dr. phil. Lukáš Novotný M.A. geleitet.

Seit der eingangs geschilderten bayerisch-böhmischen Hochzeit zu Beginn des Ersten Weltkriegs und dem fast selbstverständlichen grenzüberschreitenden Austausch zwischen den beiden Regionen ist viel Zeit vergangen. Die zahlreichen historischen Entwicklungen und Verwerfungen und die zum Teil schwierigen Kapitel der bayerisch-tschechischen Geschichte machen es für die Akteure bis heute oftmals nicht leicht, die gemeinsame Grenzregion in eine erfolgreiche Zukunft zu führen. Das internationale Forschungsteam möchte mit seinen Untersuchungen die Geschichte der ländlichen Entwicklung in der jüngsten Zeit rekonstruieren und aufbereiten, um dann ausgehend von den Ergebnissen den politischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren Ideen an die Hand zu geben, wie Ostbayern und Westböhmen gemeinsam und als grenzüberschreitende Region im Herzen eines vereinten Europa in eine erfolgreiche Zukunft gehen können.

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